Das organisierte Verbrechen in Mexiko hat die Avocado für sich entdeckt – und die Bevölkerung wehrt sich

Mexikos Mekka der Avocado-Produktion ist zugleich eine der Zonen mit der schlimmsten Gewalt im Lande. Das organisierte Verbrechen hat das lukrative Geschäft mit dem grünen Superfood für sich entdeckt, rodet dafür Wälder und terrorisiert die Bevölkerung. Die indigenen Bürger von Cherán wollten sich das nicht mehr bieten lassen.

Nicole Anliker, Cherán
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Ein Mitglied der Forstwache von Cherán auf Patrouille gegen illegale Abholzung. (Bild: Cesar Rodriguez / Bloomberg)

Ein Mitglied der Forstwache von Cherán auf Patrouille gegen illegale Abholzung. (Bild: Cesar Rodriguez / Bloomberg)

Die Meseta Purépecha gehört zu den gefährlichsten Gebieten Mexikos. Die Fahrt nach Cherán, einem Städtchen inmitten dieser weitläufigen Hochebene im Gliedstaat Michoacán, birgt Hinweise darauf: ausgebrannte Autos, verlassene Checkpoints bewaffneter Gruppen, grosse Geländewagen mit abgedunkelten Scheiben, Bürgerwehren, die vermummt und schwer bewaffnet in Jeans und Karohemd Dorfeinfahrten kontrollieren. «Wir wollen Frieden», teilen die Männer auf einem Karton mit und bitten um eine Spende für die Selbstverteidigung. Polizei oder Militär, die sonst in Mexiko zum Strassenbild gehören, sind kaum anzutreffen. Dafür gibt es Avocado-Plantagen, so weit das Auge reicht, Unmengen von Avocado-Transportern und emsig arbeitende Pflücker.

Superfood und Mafia

In der Heimat des indigenen Volks der Purépechas dreht sich fast alles um das sogenannte grüne Gold. Gut 65 Prozent der mexikanischen Avocados werden hier angebaut. Als grösster Avocado-Produzent der Welt hat das Aztekenland vergangenes Jahr rund 2 Millionen Tonnen davon geerntet. Die steigende Nachfrage nach der Frucht, die als Superfood par excellence gilt, hat nicht nur deren Preis in die Höhe getrieben, sondern auch die organisierte Kriminalität auf den Plan gerufen. Die Kartelle rivalisieren darum nicht mehr nur um die Kontrolle der Routen für den Drogenschmuggel, sondern auch um die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und schliesslich um den Anbau von Avocado. So geschah das auch im 20 000-Seelen-Städtchen Cherán, keine 300 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt.

«Tag und Nacht kurvten Lastwagen auf unseren Hügeln herum. Sie fällten unsere Bäume und transportierten das Holz ab», erinnert sich Ignacio Soto, der in Cherán aufgewachsen ist und die örtliche Forstbaumschule leitet. Mit aufgeladenem Diebesgut seien die Holzfäller demonstrativ durch den Ortskern gefahren und hätten die eingeschüchterten Bewohner ausgelacht. «Sie führten sich auf, als wären sie die Eigentümer Cheráns.» Die Anwohner machte das wütend, sie fühlten sich gedemütigt. Vor allem aber hatten sie Angst. Denn die Holzfäller und ihre Hintermänner, die einem grossen Verbrechersyndikat angehörten, hatten das einst ruhige Leben Cheráns in einen Albtraum verwandelt.

Ladenbesitzer mussten Schutzgelder zahlen, Anwohner wurden bedroht, tot aufgefunden oder verschleppt, von vielen fehlt bis heute jede Spur. Die Mafia habe damit Macht demonstrieren wollen, ist sich der 26-jährige Soto sicher. Um den Wald abzuholzen, terrorisierten und schüchterten sie die Anwohner ein. Diese mussten dem Geschehen hilflos zusehen. Hilferufe bei allen möglichen Regierungsebenen waren umsonst. Weder Politiker noch Sicherheitskräfte unternahmen etwas dagegen, stattdessen machten sie mit dem organisierten Verbrechen gemeinsame Sache.

Ein ausgebrannter Pick-up, Zeugnis gewalttätiger Auseinandersetzungen in den Strassen von Cherán. (Bild: Imago)

Ein ausgebrannter Pick-up, Zeugnis gewalttätiger Auseinandersetzungen in den Strassen von Cherán. (Bild: Imago)

Die Mafia holzte knapp 9000 Hektaren vom Kiefernwald Cheráns ab und legte anschliessend den Boden in Brand. Eine Avocado-Plantage sollte darauf entstehen. Statistiken zeigen, dass dies in der Region gängig ist. Diese Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren zugespitzt, was von blossem Auge zu sehen ist. Die vielen bewaldeten Hügel zeigen grosse, abrasierte Flächen auf.

Wütendes Volk

Auf Cheráns abgeholztem Waldboden wachsen heute jedoch keine Avocados, sondern lauter kleine Kiefernbäume. Sie stammen aus der Forstbaumschule, die 2012 von der Gemeinde ins Leben gerufen worden ist und von Ignacio Soto geleitet wird. «Nacho», wie er von allen genannt wird, ist um Jahre jünger als die meisten, die hier arbeiten. Er ist ein lockerer Typ, wahnsinnig leidenschaftlich, die Angestellten mögen ihn. Zwischen Kiefernsetzlingen, Bewässerungsanlagen und Komposthaufen ruft ihm immer wieder einmal ein Gärtner einen Spruch zu. «Nacho» gibt schlagfertig zurück, die Runde lacht.

Soto schätzt, dass die Gesamtfläche von rund 9 Hektaren bis in zwei Jahren aufgeforstet sein wird. Das freut ihn. «Der Wald ist der Stolz der Gemeinde», sagt er, als spräche er für einen Werbespot. Für ein Privatleben bleibt dem 26-Jährigen keine Zeit. Er sagt, er lebe für den Wald und arbeite ununterbrochen. Der Lohn dafür ist mickrig. Verlockende Angebote mit mehrfach höherem Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten hat er bisher immer abgelehnt. «Ich tue das für Cherán», erklärt er. Nur so funktioniere das System hier.

Soto ist nicht der Einzige, der sich für seine Gemeinde engagiert und für das allgemeine Wohl handelt. Andere übernehmen politische Ämter oder beschützen die Gemeinde und den Wald als Mitglieder der Ronda Comunitaria – Cheráns eigener Sicherheitseinheit.

Keine 500 Meter von der Forstbaumschule steht einer ihrer Kontrollposten, er bewacht die Zufahrtstrasse zum Städtchen. Auf den ersten Blick könnte man die Wachmänner und -frauen für Polizisten halten. Professionell sehen sie aus, und so benehmen sie sich auch. Schwer bewaffnet, uniformiert und mit dunklen Sonnenbrillen auf der Nase beäugen sie jeden Einzelnen kritisch. Keiner kommt hier rein oder raus, ohne von der Ronda begutachtet und befragt zu werden. Seit sie vor rund sieben Jahren die Polizei aus der Gemeinde vertrieben und deren Aufgaben übernommen hat, leben die Menschen in Cherán wieder sicher.

Gewaltdelikte ereignen sich hier selten, währenddessen Mexiko immer mehr zu einem Schlachtfeld mutiert. Das Land hat mit offiziell gut 27 000 Morden das gewalttätigste Jahr hinter sich. Michoacán hat zu diesem Rekord kräftig beigetragen. Laut offiziellen Zahlen ereigneten sich rund 1400 Morde in dem Gliedstaat, mehr als 1000 Personen wurden als verschwunden gemeldet. Dass Cherán inmitten einer der grössten Zonen der Gewalt eine sichere Insel zu schaffen vermocht hat, hat sich die Bevölkerung selbst zu verdanken. Die Einwohner legten sich mit denjenigen an, welche die Macht in ihrer Region haben: mit den Politikern, den Parteien und dem organisierten Verbrechen.

Der Aufstand

Es war frühmorgens am 15. April 2011, als sich eine Gruppe von Frauen und Jugendlichen entschloss, das organisierte Verbrechen aus Cherán zu vertreiben. Mit Böllern und Kirchenglocken mobilisierten sie die Nachbarschaft. Mit Steinen, Schaufeln und Macheten bewaffnet, blockierten sie die Durchfahrtsstrasse. Fünf Mitglieder der Holzfällermafia knebelten sie mit Schals und sperrten sie in die Kirche ein. Deren Transporter fackelten sie ab.

Das mexikanische Hochland der Purhepecha in Michoacan ist durchzogen von grossen Wäldern und Vulkanen. Das organisierte Verbrechen verdient Millionen an der Rodung des Waldes und dem illegalen Verkauf des Holzes. (Bild: Imago)

Das mexikanische Hochland der Purhepecha in Michoacan ist durchzogen von grossen Wäldern und Vulkanen. Das organisierte Verbrechen verdient Millionen an der Rodung des Waldes und dem illegalen Verkauf des Holzes. (Bild: Imago)

Als der Gemeindepräsident mit der Polizei im Rücken die fünf Verbrecher befreien wollte, wurden die Bürger wütend. Die Polizei, den Gemeindepräsidenten und das schwerbewaffnete Mafiakommando, das vor dem Dorfeingang stand, trieben sie in die Flucht. Nachdem sie die fünf Verbrecher Tage später schliesslich doch der Polizei übergeben hatten, setzte diese sie umgehend wieder auf freien Fuss.

Pedro Chávez regt sich noch heute darüber auf. «Statt uns zu helfen, stellten sich die Behörden auf die Seite der Mafia.» Er schüttelt den Kopf und seine pechschwarzen Haare. Der Mittvierziger steht im ehemaligen Rathaus von Cherán und blickt auf das bunte Treiben am Zentralplatz. In dem alten Gebäude, in dem der mexikanische Revolutionär Emiliano Zapata in grellen Farben emblematisch von der Wand lacht, gibt es keinen Gemeindepräsidenten und auch keine Parteien mehr, so wie es auf der Strasse keine Polizisten mehr gibt. Stattdessen tagt hier der Ältestenrat.

Zwölf von den Bürgern gewählte Repräsentanten verwalten in dem Rat während dreier Jahre das Tagesgeschäft. Wichtige Entscheide werden den Anwohnern vorgelegt. Die Volksversammlung gilt als höchstes Gremium. Chávez sitzt derzeit im Ältestenrat. Seine Stelle als Lehrer hat er für diese Zeit an den Nagel gehängt. Er ist überzeugt von dem Systemwechsel, den Cherán nach dem Aufstand 2011 vorgenommen hat. Nur so habe die Allianz zwischen organisiertem Verbrechen und Beamten gekappt werden können, ist er überzeugt.

Cheráns autonome Regierungsform beruht auf den lokalen Sitten und Bräuchen der indigenen Vorfahren der Einwohner. 2014 hat Mexikos Oberster Gerichtshof die autonome Selbstverwaltung als verfassungskonform anerkannt.

Das passt nicht allen. «Wir sind der Regierung in Mexiko-Stadt ein Dorn im Auge», sagt Pedro Chávez nicht ohne Stolz. Er erzählt, wie Parteien und Behörden immer wieder versuchten, in Cherán Fuss zu fassen – bis jetzt aber erfolglos. Die Gemeinde wollte bisher unabhängig bleiben. Die Bürger weigern sich, ihre eigene Sicherheitseinheit in das staatliche Polizeikorps zu integrieren. Die Polizei, so die verbreitete Meinung, soll draussen bleiben. Auch Politiker lassen sie nicht herein: Als der Gouverneur von Michoacán jüngst zu einer Eröffnungsfeier für ein Spital nach Cherán reiste, untersagte ihm die Wache den Zugang zum Städtchen. Die Volksversammlung hatte das so bestimmt.

Die Wahlen als Gefahr?

Ohne Politiker und Parteiensystem ist in Cherán auch nichts vom Wahlkampf zu spüren, der die mexikanische Öffentlichkeit sonst weitgehend beherrscht. Mexiko wählt in gut drei Monaten einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Das ganze Land ist zugepflastert mit Wahlplakaten und Bildern von Politikern, die das Blaue vom Himmel versprechen. In Cherán ist politische Propaganda jedoch verboten, Urnen werden am kommenden 1. Juli keine aufgestellt. Wer wählen will, soll das ausserhalb der Gemeinde machen.

Jede dritte Avocado kommt aus Mexiko

Avocado-Produktion weltweit 2016, in Prozent
Jede dritte Avocado kommt aus Mexiko - Avocado-Produktion weltweit 2016, in Prozent

Trotzdem beschäftigen die Wahlen den Ältestenrat. Chávez macht sich Sorgen und gibt zu: «Sie sind eine Herausforderung, ein Risiko für uns.» Parteimitglieder hätten bereits angefangen, vor den Türen der Gemeinde Decken, Haushaltsgegenstände und Geld zu verschenken. Was das für Konsequenzen haben könnte, spricht er nicht aus. Der Mittvierziger hofft, dass sich die Cheráner dessen bewusst sind, was sie erreicht haben. Ein bisschen zweifelt er daran, so viel verrät seine Mimik.

Denn die Welt ist auch in Cherán nicht perfekt. Die Gemeinde hat ihre Probleme wie andere auch, der Ältestenrat seine Kritiker, der Zusammenhalt ist nicht mehr derselbe wie 2011. Das streitet Chávez nicht ab. Vielleicht bereiten ihm die Wahlen deshalb so viele Sorgen. Hinzu kommt nun noch ein ungeklärter Mordfall, der die Anwohner zutiefst verunsichert.

Die Leiche von Guadalupe Campanur ist Mitte Januar übel zugerichtet am Strassenrand, rund 30 Kilometer von der Gemeinde entfernt, gefunden worden. Die junge Frau könnte vom organisierten Verbrechen ermordet worden sein, auch ein Beziehungsdelikt ist denkbar. Doch man weiss es nicht. Die Sicherheit gilt als grösste Errungenschaft Cheráns. In Mexiko wird die Gemeinde deswegen als beispielhaft angesehen, diverse von Korruption und Gewalt heimgesuchte Ortschaften versuchen ihr Modell nachzuahmen. Der Mord an Campanur, die hier einst als Waldhüterin den Kiefernwald beschützte, hat alte Wunden aufgerissen. Darauf angesprochen, seufzt Chavéz laut. «Wir sind verletzt», meint er bedrückt, «doch auch wir sind gegen solche Taten nicht gefeit.»

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