Gastkommentar

Wenn sich die deutsche Maut durchsetzt, hat das vergleichbare Auswirkungen wie der Brexit

Die deutsche Maut, die ausdrücklich als «Ausländermaut» ins Leben gerufen und dann in «Infrastrukturabgabe» umgetauft wurde, diskriminiert EU-ausländische Strassenbenutzer in Verletzung von Unionsrechtsprinzipien. Sie könnte zu einem giftigen Spaltpilz werden.

Peter Michael Lingens
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Aug um Aug, Maut um Maut: Österreich müsste natürlich sofort mit einer ob der gebirgigen Verhältnisse weit höheren «Infrastrukturabgabe» reagieren.(Bild: Julian Stratenschulte / dpa / Keystone)

Aug um Aug, Maut um Maut: Österreich müsste natürlich sofort mit einer ob der gebirgigen Verhältnisse weit höheren «Infrastrukturabgabe» reagieren.(Bild: Julian Stratenschulte / dpa / Keystone)

Dass der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) empfiehlt, Österreichs Klage gegen die deutsche PKW-Maut abzulehnen, ist ein weiterer Schritt zur Selbstdemontage der EU: ein womöglich höchstgerichtlich abgesegneter Verstoss gegen ihre eigenen Werte und Ziele. Wie der Rechtswissenschafter Walter Obwexer, auf dessen Gutachten Österreichs Klage beruht, kann man nur hoffen, dass der EuGH die Argumentation seines Generalanwalts diesmal verwirft.

Denn zu den zentralen Werten der EU zählt in den Augen all derer, die auf ein gemeinsames Europa hoffen, die Vereinbarung, dass ein Österreicher, ein Franzose oder ein Italiener in Deutschland nicht anders behandelt wird als ein Deutscher und umgekehrt. So können Deutsche bekanntlich in Österreich ebenso ohne Studiengebühren studieren wie österreichische Studenten.

Unzulässige Umgehung

Dennoch meint der Generalanwalt am EuGH, dass österreichische Autofahrer keineswegs wie deutsche Autofahrer behandelt werden müssen, sondern dass man ihnen eine Maut aufbürden kann, die man deutschen Autofahrern zurückzahlt. Er kann darin keine Diskriminierung österreichischer, holländischer oder französischer Autofahrer gegenüber deutschen Autofahrern sehen, sondern meint, dass Österreich das Diskriminierungsverbot missversteht.

Dabei widerspricht die Genese der deutschen Maut seiner These diametral: Horst Seehofer, der sie unter dem Namen «Ausländermaut» erfunden hat, wollte sie ausdrücklich Ausländern im Gegensatz zu Deutschen aufbürden. Erst als Brüssel klarmachte, dass das gegen das Diskriminierungsverbot verstiesse, gebar Alexander Dobrindt die Idee mit der Rückerstattung der Maut – die zu diesem Zweck in «Infrastrukturabgabe» umgetauft wurde – im Wege einer entsprechenden Verminderung der Kraftfahrzeugsteuer für deutsche Autofahrer. Normalerweise nennen Juristen dergleichen eine unzulässige Umgehung. Der Generalanwalt hingegen unterstützt die Umgehung argumentativ: Deutschland habe das Recht, von jedem Nutzer seiner Autobahn eine «Infrastrukturabgabe» zu kassieren, und ebenso das Recht, sein KFZ-Steuersystem neu zu gestalten. Dass beide Entscheidungen gleichzeitig und offenkundig zum Zweck der Umgehung getroffen wurden, stört ihn nicht.

All ihre nationalistischen Gegner hätten die EU endlich dort, wo sie sie immer schon haben wollten: zurück beim unfairen merkantilistischen Wettkampf aller gegen alle.

Derselbe Generalanwalt, der die Ungleichbehandlung österreichischer und deutscher Autofahrer solcherart zulassen will, ist – meines Erachtens zu Recht – der Ansicht, dass slowakische oder polnische oder tschechische Arbeitnehmerinnen, die in Österreich einen Pflege-Notstand verhindern, selbstverständlich nicht anders als österreichische Arbeitnehmer behandelt werden dürfen: dass man ihnen also kein niedrigeres Kindergeld auszahlen darf, weil ihre in der Slowakei lebenden Kinder geringere Kosten verursachen.

Es ist schwer zu verstehen, wie der EuGH-Generalanwalt gleichartige Probleme so unterschiedlich beurteilen kann.

Wenn Österreich zurückschlägt

Man darf daher gespannt sein, wie der Generalanwalt erklären wird, dass die durch die Maut so unterschiedlichen Transportkosten damit vereinbar sind, dass die EU die Gleichbehandlung von Unternehmen auf ihrem Gebiet zum Ziel hat: Wie soll ein österreichischer Spediteur mit einem deutschen Spediteur konkurrieren können, wenn dieser seine Maut ersetzt bekommt, während der Österreicher sie zahlen muss? Was für den Spediteur gilt, gilt für alle Unternehmen, die bei ihrer Tätigkeit auf Kraftfahrzeuge angewiesen sind. Bei jedem Grossauftrag haben sie einen automatischen Kostennachteil gegenüber deutschen Anbietern.

Walter Obwexer hat recht, wenn er behauptet, dass ein EuGH-Urteil, das den Generalanwalt bestätigen würde, vergleichbare Auswirkungen hätte wie der Brexit. Österreich könnte und müsste das deutsche Beispiel natürlich sofort mit einer ob der gebirgigen Verhältnisse weit höheren «Infrastrukturabgabe» nachahmen und eine «Bildungsstrukturabgabe» von allen Studenten einheben, die heimischen Studenten oder ihren Eltern später steuerlich abgegolten wird. Wenn die Bevorzugung heimischer Autofahrer via Steuernachlass zulässig ist, muss sie auch bei jedem anderen wirtschaftlichen Akteur zulässig sein. So könnte etwa eine CO2-Abgabe eingeführt werden – aber während sie nach derzeitiger Rechtsprechung für alle in Österreich tätigen Unternehmen gleichermassen gelten müsste, könnte man, wenn der EuGH es plötzlich wie sein Generalanwalt sieht, heimischen Unternehmen einen gewaltigen Konkurrenzvorteil verschaffen, indem man ihnen diese Abgabe durch verringerte Körperschaftssteuern ersetzt.

Innert kürzester Zeit begänne auf diese Weise ein Abgabe-Ersatz- Wettlauf aller EU-Mitglieder, und all ihre nationalistischen Gegner hätten die EU endlich dort, wo sie sie immer schon haben wollten: zurück beim unfairen merkantilistischen Wettkampf aller gegen alle.

Der Wiener Peter Michael Lingens war langjähriger Chefredaktor des «Profil» und der «Wirtschaftswoche», danach Mitglied der Chefredaktion des «Standard». Der Beitrag ist die leicht gekürzte Übernahme einer Kolumne aus der Wiener Stadtzeitung «Falter».