Zwei Erklärungsansätze, warum die Letalität des Coronavirus in Italien so hoch ist

Italien ist zurzeit gemessen an der Einwohnerzahl des Landes am stärksten vom Coronavirus betroffen. Noch dazu sterben in Italien im Verhältnis mehr Menschen an Covid-19 als etwa in Südkorea oder in der Schweiz. Wie kann das sein?

Alexandra Kohler
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40 Prozent der an Covid-19 erkrankten Italiener sind 70 Jahre alt und älter.

40 Prozent der an Covid-19 erkrankten Italiener sind 70 Jahre alt und älter.

Marzio Toniolo / Reuters

In Italien sind bis anhin vergleichsweise viele der mit dem Coronavirus infizierten Personen gestorben. Nimmt man die Zahl der bestätigten Fälle, so starben 8,3 Prozent. Diese Zahl nennt man Letalität oder Tödlichkeit. Die Letalität von Sars-CoV-2 in einem bestimmten Land wird folgendermassen berechnet: Man teilt die Anzahl der bestätigten Todesfälle aufgrund der Krankheit durch die Gesamtzahl der bestätigten Virusinfektionen. In Italien sind das zurzeit 2980 Tote geteilt durch 35 713 Infizierte (Stand 19. 3., 8 Uhr).

Was man nicht vergessen darf: Die Dunkelziffer der Infizierten in Italien dürfte riesig sein. Im Moment werden nur Personen mit Symptomen getestet, somit kennt man die effektive Zahl der Infizierten nicht. Eine viel grössere Anzahl an Infizierten hätte eine weitaus tiefere Letalität zur Folge.

Und trotzdem ist in anderen Ländern, die stark von der Viruserkrankung betroffen sind und ebenfalls eine grosse Dunkelziffer von Fällen haben dürften, die Letalität viel tiefer als in Italien.

Die Letalität ist in Italien derzeit höher als in anderen Ländern

Letalität von Sars-CoV-2 weltweit und in ausgewählten Ländern, in Prozent

Weltweit liegt die Tödlichkeit zurzeit bei etwa 4 Prozent. Epidemiologen gehen davon aus, dass die Letalitätsangaben in Südkorea und in China (ausserhalb Wuhans) am realistischsten sind, weil dort sehr früh flächendeckend getestet wurde. In Südkorea liegt die Tödlichkeit derzeit bei 1 Prozent.

Warum aber gibt es in Italien so viel mehr Tote als in den anderen Ländern? Wir schauen uns im Folgenden zwei Erklärungsansätze an:

1. Sozioökonomische Faktoren (vor allem das Alter der Bevölkerung)

Es gibt einen Erklärungsansatz, der mit dem Alter der Bevölkerung zu tun hat. In Italien sind sehr viele alte Menschen an Covid-19 erkrankt. Die Tödlichkeit ist bei älteren Menschen um einiges höher als bei jungen Personen. Laut Untersuchungen aus China und Südkorea sterben in der Altersklasse 30 bis 39 Jahre 0,1 bis 0,2 Prozent der Infizierten, bei den über 80-Jährigen sind es 6,8 bis 14,5 Prozent.

Die italienische Zeitung «Corriere della Sera» listete am 11. März die Zahl der bis dahin vom Coronavirus betroffenen Menschen nach Altersklassen auf. Das nationale Gesundheitsinstitut Italiens hatte die Altersverteilung veröffentlicht. In einem südkoreanischen Medium findet man die dortigen Coronavirus-Infizierten nach Alter.

Infizierte in Italien sind viel älter als in Südkorea

Coronavirus-Fälle nach Altersklassen, in Prozent
Italien
Südkorea

Es fällt auf, dass die in Italien betroffenen Personen viel älter sind als jene in Südkorea. 40 Prozent der erkrankten Italiener sind 70 Jahre alt und älter. In Südkorea sind gerade einmal 8 Prozent der Infizierten so alt. Der grösste Anteil dort ist 20 bis 29 Jahre jung – das sind auffällig viele Junge. Das kann damit zu tun haben, dass ein grosser Infektionsherd aus einer christlichen Sekte stammt. Patientin Nummer 31 hat zahlreiche Mitglieder der christlichen Sekte Shincheonji angesteckt. Es hiess, dass 544 der 3000 Sektenmitglieder Symptome zeigten.Möglicherweise sind die Anhänger der Sekte eher jung, was diesen grossen Anteil der jungen Menschen erklären würde.

Warum aber infizieren sich in Italien so viel Alte mit dem Virus?

Die Erklärung im Vergleich mit Südkorea scheint zunächst naheliegend: Die italienische Bevölkerung ist viel älter als die südkoreanische. Die Bevölkerung Italiens ist weltweit laut der Uno die zweitälteste nach jener Japans; Südkorea rangiert auf Platz 53. Ganz so einfach ist es aber nicht.

Der Ökonom und Autor Andreas Backhaus hat alle oben genannten Zahlen analysiert: In Südkorea korreliere die demografische Verteilung mit der Verteilung der Altersgruppen bei den Infizierten, in Italien aber nicht, schreibt er. In Südkorea kann man eine starke Ähnlichkeit der Altersverteilung feststellen. Nur in der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen gibt es überdurchschnittlich viele Infizierte – vermutlich wegen der Infektionen aus dem Kreis der Sekte.

In Südkorea ähneln sich die Demografien der Bevölkerung und der Infizierten

Demografie (2019) Coronavirus-Fälle nach Altersklassen, in Prozent
Demografie
Infizierte

In Italien aber – obwohl die Gesellschaft vergleichsweise alt ist – sind die ältesten Altersgruppen bei den Corona-Infizierungen stark übervertreten, wie die Grafik unten zeigt. Anders gesagt: Die italienische Bevölkerung ist zwar älter als die südkoreanische, aber es erkranken dennoch überdurchschnittlich viele Alte.

In Italien sind mehr Alte betroffen

Demografie (2019) Coronavirus-Fälle nach Altersklassen, in Prozent
Demografie
Infizierte

Warum das so ist, ist zurzeit unklar. Es könnte auch hinzukommen, dass bisher viel mehr Fälle bei Älteren entdeckt wurden und die milden Fälle in jungen Altersklassen noch unentdeckt sind.

Die hohe Tödlichkeit in Italien kann wohl also nur teilweise mit der alten Bevölkerung erklärt werden. Um die Tödlichkeit einer Krankheit zu verstehen, muss man sich anschauen, wie viele der Betroffenen schon mit weiteren Krankheiten vorbelastet sind. Wer an einer chronischen Krankheit wie etwa einer Herzkrankheit oder Krebs leidet, ist stärker gefährdet.

Das Nationale Gesundheitsinstitut in Italien hat 105 an Covid-19 verstorbene Italienerinnen und Italiener untersucht: Die meisten hatten bereits Vorerkrankungen.

Wer an Covid-19 stirbt, hat meist schon mehrere Erkrankungen

Vorerkrankungen vor Infizierung mit dem Coronavirus bei 105 verstorbenen Patienten in Italien, in Prozent

Zwei Drittel litten bereits an drei oder mehr Krankheiten, bevor sie sich mit dem Coronavirus ansteckten. Und in der Regel haben ältere Menschen schon eher Vorbelastungen als junge Personen. In Italien haben sich also viele vorbelastete ältere Menschen angesteckt, in Südkorea jüngere.

Dazu kommt das Geschlecht der Erkrankten. Weltweit erkranken genauso viele Frauen wie Männer an Covid-19, aber es gibt einen Unterschied bei der Tödlichkeit: Es sterben eher Männer an der Krankheit als Frauen. Laut Analysen der Betroffenen des ursprünglichen Ausbruchs in China beträgt die Letalität 4,7 Prozent bei Männern gegenüber 2,8 Prozent bei Frauen – ein grosser Unterschied. In Südkorea sind 62 Prozent der Erkrankten Frauen, was als erklärender Faktor für die dortige tiefe Letalität hinzukommen könnte.

Ein weiterer Faktor könnte auch sein, dass die Kultur in beiden Ländern sehr, sehr unterschiedlich ist. Gerade die älteren Menschen in Italien sind tendenziell viel draussen unterwegs, besuchen Familienmitglieder, Kinder und Grosskinder. Man kann davon ausgehen, dass die ältere Bevölkerung Italiens viele soziale Kontakte hatte, bevor vor einer Woche die Ausgangssperre verhängt wurde. In Südkorea ist es ganz anders: Ältere Menschen sind tendenziell viel zu Hause.

2. Zustand des Gesundheitssystems (vor allem das Testing)

Laut Epidemiologen beeinflusst auch der Zustand des Gesundheitssystems die Letalität in einem Land. Zum einen geht es natürlich um den allgemeinen Zustand des Systems: Wo Patienten gut versorgt werden können, gibt es weniger Tote.

Zum anderen ist es bei Covid-19 ein entscheidender Faktor, ob man umfassend testen kann. Südkorea testet viel mehr Menschen auf das Virus als Italien, hat früher reagiert und strengere Massnahmen ergriffen. Südkorea hat von Anfang an fast jede und jeden getestet. Schon ab dem 11. Januar fingen die Behörden an zu testen, die Kapazitäten waren hoch. Am 13. 3. teilte Südkorea mit, man habe bereits 4831 Tests pro eine Million Einwohner durchgeführt. Südkorea führt nach Bahrain die Statistik der Testdichte an.

Zudem können bis zu 20 000 Virentests täglich durchgeführt werden. Es wurden im Land Hotlines und Drive-Through-Testzentren eingerichtet, durch die Bürger mit dem Auto fahren können. Behörden und Unternehmen konnten bald flächendeckend Thermometer zum Fiebermessen benutzen. Zudem bleiben die Menschen in Südkorea konsequent zu Hause, noch dazu war das Gesundheitssystem sehr gut vorbereitet.

In Italien stellt sich die Situation anders da: Getestet werden nur Personen mit Symptomen, flächendeckend getestet wird nicht. Bisher wurden gerade einmal 1005 Personen pro eine Million Einwohner getestet (Stand dieser Information von Anfang März) – viel weniger als in Südkorea also. Somit hat man in Italien im Vergleich zu Südkorea natürlich auch ein weniger vollständiges Bild der Infektionen.

In Italien wurde ausserdem, so wie in ganz Europa, erst viel später mit einschneidenden Massnahmen reagiert. Das öffentliche Leben wurde erst vor etwas mehr als einer Woche am 11. März lahmgelegt, als bereits klar war, dass viele tausend Menschen infiziert sind. Man kann also davon ausgehen, dass das Virus in der Bevölkerung schon weit verbreitet war und ist.

Wie wird sich die Letalität in der Schweiz entwickeln? Das ist im Moment sehr ungewiss. Stand Mittwoch (18. 3.) liegt die Letalität hierzulande bei 1 Prozent (gerechnet mit 2772 bestätigten Infizierten und 27 Toten). Die Altersverteilung der Schweizer Bevölkerung ist ähnlich wie jene in Italien.

Die Demografie der Schweiz ähnelt jener Italiens

Demografie der Schweiz und Italiens nach Altersgruppen (2019)
Schweiz
Italien

Obwohl das Alter und der Gesundheitszustand der Betroffenen bei Covid-19 ein wichtiger Faktor zu sein scheinen, spielt das Testing auch eine grosse Rolle. In der Schweiz wird momentan ähnlich wenig getestet wie in Italien. Getestet wird hierzulande nur noch, wer zur Risikogruppe gehört und wer schwer krank ist. Mehr zur aktuellen Situation des Testens in der Schweiz lesen Sie hier.

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