Laufen Deutschland die Akademiker davon?

Droht Deutschland ein Braindrain, weil drei Viertel der Auswanderer eine Hochschulausbildung haben? Nachfragen führen zu einem überraschenden Befund.

René Höltschi, Berlin
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Hauptziel von deutschen Auswanderern ist die Schweiz. Im Bild: zwei Absolventinnen der Internationalen Universität in Bremen, Deutschland.

Hauptziel von deutschen Auswanderern ist die Schweiz. Im Bild: zwei Absolventinnen der Internationalen Universität in Bremen, Deutschland.

Joerg Sarbach / AP

Innerhalb des letzten Jahrzehnts haben im Durchschnitt pro Jahr rund 180 000 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit Deutschland verlassen, und 129 000 deutsche Auswanderer sind zurückgekehrt. Netto hat das Land somit jedes Jahr durchschnittlich 50 000 Bürger «verloren». Da über die Auswanderer wenig bekannt ist, hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden in Kooperation mit dem Institut für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen über 10 000 deutsche Staatsbürger im Alter zwischen 20 und 70 Jahren befragt, die zwischen Juli 2017 und Juni 2018 ins Ausland gezogen oder nach Deutschland zurückgekehrt sind. Erste Ergebnisse sind letzte Woche veröffentlicht worden und haben der Braindrain-Debatte neue Nahrung verschafft.

Wichtigstes Zielland ist die Schweiz

Die Studie verweist auf jüngste OECD-Daten (2015/16), wonach derzeit etwa 3,8 Mio. Deutsche in anderen OECD-Ländern leben. Das entspricht rund 5,1% der in Deutschland wohnenden Bevölkerung, womit sich das Land im Mittelfeld bewegt: In der Schweiz und Polen liegt die «Auswanderungsrate» mit 11% bzw. 10% viel höher, in Staaten wie den USA und Japan mit unter 1% deutlich tiefer (vgl. Grafik).

Die Mobilität der Deutschen liegt im Mittelfeld

Anteil der Auswanderer in %*

Wichtigstes Zielland der deutschen Auswanderer ist die Schweiz mit einem Anteil von 13% (2018), es folgen Österreich und die USA (vgl. Grafik).

Die Schweiz ist das wichtigste Zielland

Anteile der wichtigsten Zielländer deutscher Auswanderer (2018 in %)*

Auswanderung lohnt sich

Zu den zentralen Ergebnissen der Befragung zählen folgende fünf Punkte:

  • Auswanderung ist meist temporär: 60% der befragten Rückkehrer gaben an, zuletzt für maximal fünf Jahre im Ausland gelebt zu haben. Zwei Drittel der umgezogenen Personen hatten schon einen früheren Auslandaufenthalt hinter sich.
  • Auswanderer sind eher jung: Das durchschnittliche Alter der international mobilen Deutschen liegt mit 36,6 Jahren fast zehn Jahre unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Der Anteil der 25- bis 39-Jährigen liegt bei den ins Ausland umgezogenen Deutschen mit 63% deutlich höher als in der allgemeinen Bevölkerung (27%).
  • Auswanderer sind gut ausgebildet: 76% der befragten mobilen Deutschen, aber nur 25% der Gesamtbevölkerung haben einen Hochschulabschluss.
  • Auswanderung ist «chancengetrieben»: Für 58% der Befragten haben eigene berufliche Gründe und für 29% hat der Beruf des Partners bzw. der Partnerin eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für ein Leben im Ausland gespielt (Mehrfachnennungen möglich). 46% nannten den Lebensstil. Darunter fällt zum Beispiel der Wunsch, den Lebensabend im Süden zu verbringen. Nur 18% gaben «Unzufriedenheit in Deutschland» als Motiv an. «Es gehen nicht die Verbitterten oder Enttäuschten, sondern diejenigen, die schon in Deutschland erfolgreich waren und den nächsten Karriereschritt planen», fasste Co-Autor Marcel Erlinghagen (Universität Duisburg-Essen) zusammen.
  • Auslandaufenthalte lohnen sich: Der monatliche Nettoverdienst von Vollzeitbeschäftigten lag laut der Befragung etwa ein Jahr nach dem Umzug ins Ausland um durchschnittlich 1186 € höher als vorher. Damit lag der Anstieg weit über jenem von Personen, die nicht oder nur im Inland umgezogen sind. Berücksichtigt man die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten, fällt der kaufkraftbereinigte Lohnanstieg der Auswanderer in Ländern wie der Schweiz oder den USA geringer und in China oder Spanien höher aus, doch bleibt ein deutlicher Gewinn. 

Führt die Auswanderung gut qualifizierter Deutscher zu einem Braindrain, also einem dauerhaften Verlust von Fachkräften aus Deutschland? Nach Einschätzung der Studie ist das auf längere Sicht nicht der Fall, zumal die meisten Auslandaufenthalte zeitlich befristet sind. Vielmehr würden die Befunde auf eine «brain circulation» und damit auf eine weitgehend ausgeglichene Qualifikationsstruktur der Aus- und Rückwanderer hindeuten. Man könne nicht auf die Netto-Auswanderung allein abstellen, ergänzt Erlinghagen im Gespräch. Falls die Deutschen, die im Ausland blieben, zum Beispiel vor allem Rentner seien, die auch den Lebensabend im Gastland verbrächten, würde dies keinen Braindrain verursachen. Über all das wisse man sehr wenig.

Hochqualifizierte Zuwanderer

Kaum umstritten ist zudem, dass Menschen mit Auslandserfahrung für eine exportorientierte Volkswirtschaft wie Deutschland eine Bereicherung darstellen. Gleichwohl sieht Gabriel Felbermayr vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel den Befund des Reports kritischer als dessen Autoren. «Die Studie beschwichtigt, aber hier liegt ganz klar Braindrain vor, in 10 Jahren eine halbe Million Leistungsträger», hielt er auf Twitter fest.

Dem hält Erlinghagen entgegen, dass es auch hochqualifizierte (nichtdeutsche) Zuwanderer gebe. Dies bestätigt Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarktforschung und Berufsfragen (IAB) in Nürnberg. Weil die Wanderungsstatistik keine Angaben über Qualifikationen enthalte, müsse man allerdings Schlussfolgerungen aus Daten der bereits ansässigen Zuwanderer (Mikrozensus) ziehen, sagt er im Gespräch. Über den Daumen gepeilt dürften etwa 35% der Zuwanderer einen Hochschulabschluss haben, während es in der Gesamtbevölkerung 25% seien. In Jahren mit hoher Fluchtmigration (vor allem 2015) sei der Anteil etwas geringer gewesen. Da zugleich die Netto-Zuwanderung mit derzeit rund 0,5 Mio. Menschen pro Jahr deutlich höher sei als die Netto-Abwanderung, werde der Abgang hochqualifizierter Deutscher mehrfach überkompensiert.

Diese Daten widersprechen der verbreiteten Meinung, dass in Deutschland Hochqualifizierte gehen und wenig Gebildete kommen. Brücker erklärt den überraschenden Befund damit, dass im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten ein grosser Teil der Zuwanderer aus anderen EU-Staaten stamme und häufig gut ausgebildet sei.

Felbermayr sieht dennoch Handlungsbedarf, zumal aus den Nicht-EU-Ländern vor allem wenig Qualifizierte einwandern würden. Er plädiert dafür, Deutschland für hochqualifizierte Zuwanderer aus Industrieländern wie der Schweiz, den USA oder Japan attraktiver zu machen. Dies könne zum Beispiel durch steuerliche Vorteile in den Anfangsjahren erfolgen, wie es in Skandinavien geschehe. Auch könnte man Ausländern, die in Deutschland studierten, durch Anpassungen im Ausländerrecht das Dableiben nach Studienabschluss erleichtern.

Sie können dem Berliner Wirtschaftskorrespondenten René Höltschi auf Twitter folgen.