Lehrmittel oder Fetisch: Wozu dienten Elfenbeinpüppchen von Schwangeren aus dem 17. und 18. Jahrhundert?

Radiologen haben Püppchen mit abnehmbarem Bauch aus dem 17. und 18. Jahrhundert untersucht. Die meisten bestehen aus einem Material, das einen praktischen Nutzen wenig wahrscheinlich macht.

Esther Widmann
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Die meisten erhaltenen Figuren sind weiblich und haben eine abnehmbare Bauchdecke, unter der sich Organe und ein Fötus verbergen.

Die meisten erhaltenen Figuren sind weiblich und haben eine abnehmbare Bauchdecke, unter der sich Organe und ein Fötus verbergen.

Fides R. Schwartz / Radiological Society of North America

Weiss und steif liegt sie auf dem Rücken, den Arm angewinkelt vor dem Gesicht. Der Bauch ist von der Brust bis zum Schritt aufgeschnitten, die Eingeweide liegen frei – und ein Fötus. Ein Glück, dass sie keine Frau, sondern eine Figur aus Elfenbein ist.

Entstanden ist sie im späten 17. oder frühen 18. Jahrhundert in Deutschland, und sie war zu dieser Zeit kein Einzelstück. Etwa 180 solcher zwischen 15 und 30 Zentimeter langen liegenden menschlichen Figuren aus Elfenbein gibt es noch. 22 davon befinden sich in der Sammlung der Duke University in Durham, North Carolina, in den USA. Radiologen haben sie nun untersucht in der Hoffnung, mehr über ihre Entstehung herauszufinden.

Dazu unterzogen Fides Schwartz und ihre Kollegen die zerbrechlichen Figürchen einer Röntgen-Mikrotomografie, auch Micro-CT genannt. Anders als in der medizinischen CT, wo der Patient ruhig liegt, wird das Objekt schrittweise um die eigene Achse gedreht; die Daten ermöglichen anschliessend eine Darstellung in 3-D. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung, die die Forscher kürzlich auf einem Treffen der Radiological Society of North America vorstellten, sind wenig überraschend. Bis auf zwei Figuren bestehen alle aus reinem Elfenbein, von den verbleibenden ist eine aus Elfenbein und Walknochen zusammengesetzt, die andere aus Geweih geschnitzt.

Eine These: anatomische Modelle

Die Wissenschafter gehen davon aus, dass es sich bei den Figuren um anatomische Modelle handelt, mit denen möglicherweise Schwangerschaft und Geburt gelehrt wurden. Nachschlagewerke vertreten dieselbe These. Erst mit dem Aufkommen besserer Modelle im 18. Jahrhundert seien die Figuren Sammelobjekte und luxuriöse Statusobjekte geworden. Dass die kleinen Schwangeren tatsächlich aus Elfenbein sind, stützt jedoch eine ganz andere Idee.

«Aus meiner Sicht gibt es nur Argumente gegen die Verwendung als anatomisches Modell», sagt Marion Maria Ruisinger, die Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt, in dessen Sammlung sich zwei solcher Schwangeren aus Elfenbein befinden: «Erstens: ihre Grösse. Sie sind zu klein für die Demonstration vor einer Gruppe. Zweitens: ihre schematische Darstellung der anatomischen Verhältnisse. Das konnte man um 1700 schon viel besser, davon zeugen zum Beispiel anatomische Kupferstiche aus dieser Zeit. Und drittens: das gewählte Material. Elfenbein war ein absoluter Luxusartikel, für die anatomische Lehre musste man zu günstigeren Materialien greifen.»

Zudem lässt sich ein Zusammenhang mit der Geburtshilfe kaum belegen. Eine institutionalisierte Ausbildung für Hebammen gab es damals ohnehin nicht, sie entstand erst im späteren 18. Jahrhundert. Und die schematische anatomische Darstellung wäre dafür «auch wenig hilfreich» gewesen, sagt Ruisinger. «Für diese Zwecke wurden später vielmehr lebensgrosse geburtshilfliche Phantome gebaut, manchmal sogar mit einem echten weiblichen Becken im Innern, so dass die Hebammen mit einem Baby aus Leder die Handgriffe üben konnten.»

Hergestellt wurden die Elfenbein-Figürchen offenbar vor allem von zwei Werkstätten, einer in Nürnberg und etwas später einer in Schweinfurt. Nürnberg, erklärt Ruisinger, hatte zu dieser Zeit gute Handelsbeziehungen Richtung Süden, etwa nach Venedig. Zudem sei die Stadt für ihre Kunsthandwerker – Goldschmiede, Buchdrucker und Kupferstecher – bekannt gewesen. Zu ihnen gehörte auch die Familie Zick, eine grosse Sippe mit vielen Elfenbeinschnitzern. Einem ihrer Mitglieder namens Stephan Zick werden zahlreiche der fraglichen Kleinskulpturen zugeschrieben.

Die andere These: Faszinosum weiblicher Körper

Bei den meisten der erhaltenen Figuren sind die Arme beweglich, und der Bauch lässt sich öffnen. Auffällig ist, dass die Mehrzahl weiblich ist. Das könnte zum einen mit dem Faszinosum des werdenden Lebens zusammenhängen, das nur der weibliche Körper biete, sagt Ruisinger. Aber vielleicht liege es auch einfach daran, dass die Kunstsammlungen, für die die Figuren hergestellt worden seien, in der Regel Männern gehörten.

Das deckt sich mit ihrer Erklärung eines ähnlichen Phänomens aus China: Sogenannte Diagnosepüppchen, geschnitzte Figuren nackter Frauen mit angewinkeltem Arm, dienten angeblich dazu, dass Frauen dem behandelnden Arzt zeigen konnten, wo sie Beschwerden hatten. Ruisinger weist diese Interpretation zurück: «Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass das wohl eher ein Marketingtrick der Chinesen war, dem wir Abendländer aufgesessen sind», sagt sie. Als medizinisch verbrämt hätten sich solche Figürchen leichter an Reisende verkaufen lassen und wären von diesen eher nach Hause mitgenommen worden, als wenn sie mit ihrem wahren Zweck etikettiert worden wären: Erotik.