Mehr Corona-Tote wegen der Luftverschmutzung?

Mehrere Studien weisen auf einen möglichen Zusammenhang hin. Doch bei der Interpretation ist Vorsicht geboten.

Ruth Fulterer
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Noch am 8. Januar war die Luft in Mailand dicht und verschmutzt, wie so oft im Winter. Hat das die Corona-Krise verschärft?

Noch am 8. Januar war die Luft in Mailand dicht und verschmutzt, wie so oft im Winter. Hat das die Corona-Krise verschärft?

Flavio Lo Scalzo / Reuters

Mit Viren hat Yaron Ogen bisher nichts zu tun gehabt. Er ist Geologe und vor kurzem aus Israel nach Deutschland gekommen, um an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu forschen. Normalerweise beschäftigen ihn Mineralien, mithilfe von Satellitendaten stellt er fest, wo sie auf der Erdoberfläche vorkommen.

Jetzt gehört er zu den Corona-Erklärern. «Die letzten Tage waren verrückt. Ununterbrochen haben Medien angerufen», sagt er. Der Grund: Er ist der Autor der jüngsten in einer Reihe von Studien, die einen Zusammenhang zwischen der Tödlichkeit von Corona und der Luftverschmutzung herstellen.

Seine Studie, die am 20. April veröffentlicht wurde, zeigt: Wo in den Monaten vor dem Ausbruch besonders viel Stickstoffdioxid (NO2) in der Luft war und wenig Wind wehte, sind besonders viele Menschen am Virus gestorben. Die Analyse umfasst 66 Regionen in Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland.

Die Idee sei ihm im Flugzeug gekommen, auf dem Rückweg von einem Heimatbesuch in Israel, auf einem der letzten Flüge vor dem Lockdown. Er habe über die Gemeinsamkeiten der Verstorbenen gelesen, Alter, Vorerkrankungen. Als Geograf habe ihn vor allem die regionale Konzentration der Todesfälle interessiert: «Ich betrachte das wie einen See mit toten Fischen. Da ist der erste Gedanke nicht: Wie ist der einzelne Fisch gestorben? Sondern man denkt an Vergiftung.»

Das Gift könnte in diesem Fall die NO2-Belastung sein. Sie ist in der Poebene zwischen Turin und Venedig ausserordentlich hoch. Das zeigt Ogens Analyse von Satellitenbildern aus den Wochen vor der Corona-Pandemie. Schuld ist die geografische Lage – umgeben von Bergen, liegt die Ebene wie ein Becken da, in dem sich die Abgase der Industrien über Wochen halten. Ähnlich ist es in Madrid. Auch hier starben ausserordentlich viele Menschen an Covid-19.

Die Hypothese, es könnte einen Zusammenhang zwischen Covid-19-Mortalität und Luftverschmutzung geben, stellen auch andere Studien auf, unter anderem von den Universitäten Aarhus und Harvard. Letztere muss noch begutachtet werden.

Ballungsgebiete haben mehr gemeinsam als schlechte Luft

Doch wie sinnvoll sind solche Vergleiche überhaupt? New York, Mailand und Wuhan haben schliesslich mehr gemeinsam als die schlechte Luft: Man lebt hier dicht gedrängt, der Personenaustausch mit Menschen aus aller Welt ist gross. Auch die Verbreitung von 5G ist eine Gemeinsamkeit von Ballungsgebieten. Für 5G-Gegner war das Argument gut genug dafür, zu behaupten, das Coronavirus habe etwas mit dem neuen Mobilfunkstandard zu tun.

Die entscheidende Frage ist allerdings, ob ein Zusammenhang auch auf medizinischer Ebene plausibel ist. Um das zu prüfen, seien Tierexperimente oder epidemiologische Untersuchungen nötig, sagt Annette Peters, Direktorin des Instituts für Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum München. Während es bei 5G keine Hinweise auf Gesundheitsschäden gibt, sind sie bei Luftverschmutzung schon bewiesen.

Bezüglich Stickstoffdioxid weiss man, dass der Stoff durch oxidativen Stress das Immunsystem belastet und so den Körper daran hindert, Krankheitserreger erfolgreich abzuwehren. Ausserdem zitiert Ogen Studien, die zeigen, dass der Stoff chronische Erkrankungen begünstigt – Vorerkrankungen, die Covid-19-Verläufe schlimmer machen.

Noch besser untersucht ist die Schädlichkeit von Feinstaub. Er schädigt die Gesundheit einerseits langfristig, besonders die Atemwege. Andererseits löst er akut Entzündungen aus, wodurch die Erreger besser andocken können, was Infektionskrankheiten verschärft.

Die Studie der Harvard-Forscher untersucht den Zusammenhang mit langfristiger Feinstaubbelastung. Die Forscher betrachteten den 17-Jahre-Schnitt von PM2,5-Partikeln und fanden heraus, dass jedes Mikrogramm pro Kubikmeter Luft die Covid-19-Sterberate um 15 Prozent erhöht. Und das unabhängig von Klimafaktoren, Bevölkerungsdichte und -zusammensetzung in den Regionen. Für diese kontrolliert die Studie die Auswirkungen. Es ist also unwahrscheinlich, dass es sich nur um einen Ballungsraum-Effekt handelt.

Die Studie von Yaron Ogen verzichtet auf solche Kontrollen. Er habe die Sache so einfach wie möglich halten wollen, sagt er, gerade einmal zwei Wochen Arbeit habe die Erstellung benötigt. «Ich beweise nichts, sondern zeige einen möglichen Zusammenhang. Wie der genau aussieht, das können andere besser untersuchen als ich.»

Luftverschmutzung tötete schon vor Corona

Die Epidemiologin Peters stört sich nicht daran, dass sich nun auch Geografen zu Studien über Corona berufen fühlen – solange die wissenschaftlichen Standards eingehalten werden. Sie warnt aber vor voreiligen Schlüssen: Um zu beurteilen, in welcher Relation Luftverschmutzung und Corona stehen, müsse man beobachten, wie sich die verbesserte Luftqualität infolge der Lockdowns auswirkt. Belastbare Ergebnisse erwartet sie erst in einigen Monaten.

Und sie kritisiert, wenn aufgrund der Pandemie dazu aufgerufen wird, die Luft sauberer zu halten. Denn Luftverschmutzung schadete der Gesundheit schon vor Corona. Mehr als drei Millionen Menschen sterben jährlich an deren Folgen. Meistens, weil die Verschmutzung chronische Erkrankungen begünstigt. Die Todesfälle infolge durch schlechte Luft begünstigter Infektionskrankheiten, wie Covid-19, sind im Vergleich dazu viel weniger zahlreich.

In Mailand nützt man die Corona-Krise trotzdem dazu, die Luft längerfristig sauberer zu machen: Die Stadt hat verkündet, im Zuge der Wiedereröffnung 35 Strassenkilometer in verkehrsberuhigte Zonen und Fahrradwege umzubauen.