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Wie Stickoxide zum Sündenbock wurden

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Warum sind am Arbeitsplatz fast 24 Mal so hohe Stickoxid-Konzentrationen erlaubt wie auf der Straße? Wer dieser Frage nachgeht, stößt auf Ungereimtheiten, die die Debatte um Fahr- verbote ins Reich des Absurden verweisen. Eine Streitschrift.

Umweltbelastung

Von Martin Prem

München – Seit dem VW-Abgasskandal ist Stickoxid (NOX) zum meistbeachteten Luftschadstoff geworden. Vor allem Stickstoffdioxid (NO2) gilt als Krankmacher. Tatsächlich überschreiten an vielen deutschen Messpunkten die Konzentrationen des Schadstoffs die Grenzwerte um zum Teil mehr als das Doppelte. 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft gelten im Jahresmittel als Obergrenze. In der Oettingenstraße in München beispielsweise ergaben Messungen über 60 Mikrogramm.

Ein Angestellter, der über die Oettingenstraße in sein Büro im Stadtteil Lehel eilt, muss sich solchen Dosen immer wieder aussetzen. Dann sitzt er aber ja gut geschützt an seinem Schreibtisch und kann sich erholen. Könnte man meinen.

Doch da stimmt etwas nicht. Denn im Büro gilt die Mittlere Arbeitsplatz-Konzentration (MAK). Und da sind 950 Mikrogramm Stickoxid der Grenzwert – fast das 24-Fache des Straßenrand-Grenzwerts. An keiner Straße in Deutschland wurde ein derart hoher Wert festgestellt.

Warum aber ist so viel Stickoxid für lange Zeit harmlos und so wenig für kurze Zeit eine todbringende Gefahr? Oder werden Arbeitnehmer gefährlich hohen Schadstoffmengen ausgesetzt?

Völlig verschiedene Herangehensweisen

Die Lösung: Die Grenzwerte kamen durch eine völlig unterschiedliche Herangehensweise an das Problem zustande. Für den Arbeitsplatz wurde die Sache toxikologisch untersucht. In Versuchen mit Ratten wurde getestet, welche Konzentrationen sie aushalten.

Erst bei 8000 Mikrogramm NOX pro Kubikmeter Luft kam es zu Reizungen der Atemwege. Das ist das Achtfache dessen, was an Arbeitsplätzen erlaubt ist. Bei 2000 Mikrogramm pro Kubikmeter erlitten die Ratten keinerlei messbare Schäden.

Dem Grenzwert für die Straße liegt eine völlig andere Herangehensweise zugrunde: die epidemiologische. Dabei wird die gesundheitliche Beeinträchtigung von Betroffenen statistisch erfasst. Das Ergebnis: An Stellen, an denen durchschnittliche Stickstoffdioxid-Konzentrationen deutlich über den 40 Mikrogramm liegen, erleiden Menschen gesundheitliche Beeinträchtigungen. Deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese Zahl 2005 empfohlen – und die EU sie umgesetzt. Vorher, im Jahr 2003, wurden für die WHO Untersuchungen in vielen Städten der Welt ausgewertet.

In der jetzigen Diskussion wird ein entscheidendes Faktum weitgehend ignoriert: Es ging bei den epidemiologischen Untersuchungen gar nicht nur um Stickoxide. Deren Vorhandensein sei nur ein „starker Hinweis auf Fahrzeugemissionen“, heißt es in dem Bericht an die WHO. Alles, was sonst noch an Gift in der Luft war, wurde so dem Sündenbock Stickoxid in die Schuhe geschoben.

Im Klartext: Wenn in der Münchner Oettingenstraße 60 Mikrogramm Stickstoffdioxid im Jahresmittel gemessen werden, heißt das nicht, dass dieser Stoff es ist, der krank macht. Es heißt nur, dass die Summe der verkehrsbedingten Emissionen schädlich ist. Ob Stickoxid aus Dieselabgasen der Bösewicht ist – oder Feinstaub aus Benzinmotoren, wurde gar nicht untersucht. Schon allein das führt die Forderung nach einem isolierten Diesel-Fahrverbot komplett ad absurdum.

Denn NOX ist der Hinweisgeber auf viel Verkehr und die entsprechenden Schadstoffe. Wenn man NOX allein reduziert, löst man noch kein Problem. Die anderen – und damit auch die wirklich schädlichen – Schadstoffe sind nach wie vor in der Luft.

Dieser Zusammenhang spielte immerhin vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages zur VW-Abgasaffäre eine Rolle. Vor allem der Münchner Toxikologe Helmut Greim hat auf die Rolle des Stickoxids als Marker verwiesen. Er gilt allerdings als industrienah. Doch selbst die Epidemiologin Annette Peters, die für noch niedrigere NOX-Grenzwerte eintritt, räumte vor den Abgeordneten ein, dass ein direkter Zusammenhang von Stickoxiden und Gesundheitsschäden epidemiologisch noch nie untersucht wurde. „Fürs NO2 bin ich mir keiner Studie bewusst, die das schon mal systematisch angeguckt hat“, sagte sie laut Protokoll.

Das bedeutet: Keiner weiß, welche Schadstoffe Schäden verursacht haben, für die Stickoxide in der gegenwärtigen Diskussion pauschal verantwortlich gemacht werden.

Daten aus der Vor-Katalysator-Zeit

Die krasse Fehlinterpretation von Forschungsergebnissen, die zu dem heutigen NOX-Grenzwert geführt hat, hat aber noch eine zweite Dimension: Der WHO-Bericht basiert nahezu durchgängig auf Messungen, die in Zeiträumen oder Regionen vorgenommen wurden, in denen es noch keine wirksame Abgasreinigung gab oder in denen sie noch in den Kinderschuhen steckte.

Viele der statistisch erfassten vermeintlichen NOX-Gesundheitsschäden können gar nicht mehr entstehen. Die Schadstoffe, die sie in Wirklichkeit ausgelöst haben, sind inzwischen aus der Luft weitgehend verschwunden. Einige Beispiele:

-Kohlenmonoxid: Die tödlich-giftige Substanz ist seit der Einführung des Drei-Wege-Katalysators kein Problem mehr – warum Selbstmordversuche mit Auspuffgasen heute aussichtslos sind.

-Kohlenwasserstoffe: Das sind nicht- oder teilverbrannte Reste von Benzin, die teilweise toxisch wirken. Auch sie fielen zum Glück dem Katalysator zum Opfer.

-Schwefeldioxid: Der Hauptverursacher des früheren sauren Regens ist mit der Einführung schwefelfreier Kraftstoffe aus der Luft.

-Asbest: Der lungengängige und krebseerregende frühere Bestandteil von Bremsbelägen ist in Europa und weiten Teile der restlichen Welt verboten.

Bleibt der Feinstaub. Ein Großteil der schädlichen Partikel kam früher aus dem Auspuff von Dieselautos. Das ist mit der Einführung von Rußfiltern kein Thema mehr. Heute sind Benzinabgase eine wichtige Feinstaub-Quelle – weshalb auch Benziner künftig Filter brauchen. Dazu kommen Feinstäube durch Reifenabrieb oder dem Abrieb von Bremsbelägen. Sie bleiben ein Problem – das sich aber auch nicht einseitig Diesel oder Benzinmotoren zuordnen lässt.

NOX: Sündenbock für Phantom-Schadstoffe

Die genannten Phantom-Schadstoffe spielen in der Praxis keine Rolle mehr. Ihre negativen Wirkungen spuken aber immer noch durch die Diskussion um Fahrverbote, womit Stickoxid für Gesundheitsschäden verantwortlich gemacht wird, die gar nicht mehr entstehen – medizinische Geistererscheinungen.

Nur aktuelle Studien brächten Gewissheit

Die verkehrsbedingten Schadstoffe sind überschaubar geworden: Stickoxide kommen heute überwiegend aus Dieselmotoren. Rußpartikel dagegen überwiegend aus Benzinmotoren. Dazu kommen geringe Reste der früheren Hauptschadstoffe und Folgeprodukte. Bevor man über Fahrverbote auch nur nachdenkt, sollten Toxikologen und Epidemiologen unter heutigen Bedingungen gemeinsam erforschen, welche Wirkungen welcher Schadstoff in welcher Konzentration hat – und ob deren Mix darüber hinsausgehende Schäden verursacht. Alles andere wäre Scharlatanerie.

Und unser Angestellter aus der Oettingenstraße sollte bis dahin immer wieder mal aus dem Haus gehen, um am Straßenrand Luft zu tanken, die immerhin besser ist, als der Mief in seinem Büro.

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