Zum Inhalt springen

Abtreibungsgesetze Wo auf der Welt Frauen ihre Schwangerschaft beenden dürfen – und wo nicht

Millionen Frauen weltweit haben keinen Zugang zu sicheren Abtreibungen, Bewegungen kämpfen für Reformen und mehr Selbstbestimmung. Was sie bisher erreicht haben und wie konservative Gruppen versuchen, die Zeit zurückzudrehen.
Frauen in Turin, Italien, demonstrieren für Geschlechtergerechtigkeit (Archivbild vom 8. März 2019)

Frauen in Turin, Italien, demonstrieren für Geschlechtergerechtigkeit (Archivbild vom 8. März 2019)

Foto: Mauro Ujetto / NurPhoto / Getty Images
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

Alle Artikel

Die Zitterpartie im Argentinischen Nationalkongress dauerte rund 20 Stunden: Als das Ergebnis der Abstimmung Ende Dezember 2020 bekannt gegeben wurde, fluteten Tausende Anhängerinnen der Abtreibungsreform die Straßen der Hauptstadt Buenos Aires – sie tanzten und feierten, dass Frauen künftig in den ersten 14 Wochen ihrer Schwangerschaft abtreiben dürfen.

In Ländern wie El Salvador gelten Schwangere, die abtreiben oder ihr Kind verlieren, dagegen als Mörderinnen – bereits eine Fehlgeburt kann vom Krankenhaus ins Gefängnis führen. Seit dem Jahr 2000 wurden mindestens 181 Frauen  angeklagt oder verurteilt, mit Haftstrafen von bis zu 40 Jahren. Dort ist es bereits ein Fortschritt, dass Evelyn Hernández, deren Baby tot geboren wurde, wieder freikam – nach drei Jahren Gefängnis.

Evelyn Hernández wurde zu 30 Jahren Haft verurteilt, nachdem sie ihr Kind verloren hatte; erst 2019 kam sie wieder frei

Evelyn Hernández wurde zu 30 Jahren Haft verurteilt, nachdem sie ihr Kind verloren hatte; erst 2019 kam sie wieder frei

Foto: JOSE CABEZAS / REUTERS

Die Abtreibungsfrage zerreißt Gesellschaften, Länder, Kontinente. Vor 50 Jahren, am 6. Juni 1971, lösten Hunderte Frauen eine Debatte in Deutschland aus, indem sie im »Stern« bekannten »Wir haben abgetrieben!« und forderten, Paragraf 218 abzuschaffen, der Schwangerschaftsabbrüche verbietet. Bis heute sind Abtreibungen zwar auch hierzulande rechtswidrig , Frauen bleiben jedoch bei einem Abbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft straffrei.

Wie haben sich die Abtreibungsgesetze in den vergangenen 50 Jahren global verändert? Ist die Welt progressiver, liberaler geworden – oder gab es eher Rückschritte bei dem Recht von Frauen auf Selbstbestimmung?

Die Antwort fällt gemischt aus: Mehr Länder erlauben unter bestimmten Umständen Schwangerschaftsabbrüche als vor fünf Jahrzehnten – andererseits versuchen konservative Lager, diese Trends wieder auszubremsen. Und obwohl Abtreibungen vielerorts weiterhin ein Tabu sind, ist es doch zumindest ein bisschen leichter geworden, darüber zu sprechen. Denn feministische Bewegungen fordern immer lautstarker sexuelle und reproduktive Rechte ein.

»Es gibt mehr Fortschritte als Rückschritte, rund 50 Länder haben nach jahrzehntelanger Lobbyarbeit ihre Gesetze liberalisiert«, beobachtet Katharina Masoud, Expertin für Frauenrechte bei Amnesty International in Deutschland. »Die rechtliche Landschaft ist international progressiver geworden – der Fortschritt bleibt in vielen Teilen der Welt aber ziemlich langsam und in einigen Fällen wie in Polen hat sich die Situation sogar zurückentwickelt.«

Auch im globalen Süden setze die Mehrheit der Länder auf eine sehr restriktive Abtreibungspolitik, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, in Lateinamerika und Südasien. »Fast die Hälfte aller Frauen im gebärfähigen Alter lebt in Ländern, in denen Schwangerschaftsabbrüche verboten oder nur sehr beschränkt erlaubt sind«, sagt Masoud. »Das ist extrem bedenklich.«

1994 verabschiedeten 179 Regierungen bei der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo ein Aktionsprogramm, das reproduktive Rechte in den Mittelpunkt der Bevölkerungspolitik stellt. Menschen weltweit sollen Zugang zu Sexualaufklärung, Verhütungsmitteln und Gesundheitsversorgung rund um Schwangerschaft und Geburt erhalten – und die Möglichkeit, sicher abzutreiben. »Den Zeitpunkt und die Zahl der Kinder zu bestimmen, ist ein Menschenrecht«, sagt die stellvertretende Uno-Generalsekretärin Amina Mohammed.

Die jüngsten Reformen in den erzkatholischen Ländern Argentinien und Irland gelten als Meilensteine, auch in Südkorea wurde das strikte Abtreibungsverbot gelockert . »Ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren« wie Lobbyarbeit oder die Mobilisierung junger Menschen habe der Amnesty-Expertin Katharina Masoud zufolge zu den Gesetzesänderungen geführt, aber: »Ein allgemeines Erfolgsrezept gibt es nicht.«

Aufstand im Land des Papstes: In Argentinien ist die Abtreibungsreform eine Zeitenwende

Aufstand im Land des Papstes: In Argentinien ist die Abtreibungsreform eine Zeitenwende

Foto: Ricardo Ceppi / Getty Images

In Argentinien kämpfte das Bündnis »La Campaña Nacional por el Derecho al Aborto legal, Seguro y Gratuito« (Nationale Kampagne für das Recht auf eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung) 15 Jahre lang für die Reform, Politiker engagierten sich parteienübergreifend – und eine wachsende feministische Bewegung flutete soziale Netzwerke und Straßen, mit grünen Tüchern als Protestsymbol. »Die Sichtbarkeit hat Druck auf die Politik aufgebaut, aber das Tuch gibt uns auch das Gefühl, wie Schwestern zu sein, es hat unser Gemeinschaftsgefühl gestärkt«, sagt die Aktivistin Nayla Procopio.

Gesetze allein reichen jedoch nicht. Die Ärztin Rosa Angela fordert, dass auch ländliche Regionen in Argentinien eine angemessene Gesundheitsversorgung erhalten müssten: »Lokale Heiler provozieren dort Abtreibungen mit obskuren Methoden und die Müttersterblichkeit ist besonders hoch – da hilft auch kein Gesetz, weil das völlig unkontrolliert abläuft.«

Demonstrantinnen prangern die Kriminalisierung von Abtreibungen in Polen an – und deren gefährliche Folgen

Demonstrantinnen prangern die Kriminalisierung von Abtreibungen in Polen an – und deren gefährliche Folgen

Foto: Artur Widak / NurPhoto / Getty Images

Allein in Argentinien sind bisher Tausende von Frauen bei gefährlichen Praktiken gestorben, Millionen Frauen auf der ganzen Welt haben noch keinen Zugang zu hygienischen und professionellen Abtreibungen. Die WHO warnt davor, dass rund 45 Prozent der Abtreibungen weltweit »unsicher«  seien – vor allem in Afrika, Lateinamerika und Asien. Auf Malta, dem Land mit dem strengsten Abtreibungsgesetz der EU, versuchen manche Frauen, mit einem Kleiderbügel abzutreiben.

Jona Turalde von der Frauenrechtsorganisation SheDecides zufolge  seien auf den Philippinen zwei Drittel aller Schwangerschaften ungewollt, rund 600.000 unsichere Abbrüche würden jährlich durchgeführt – mindestens drei Frauen pro Tag würden an den Folgen sterben.

Die Coronakrise verschärft das Problem: Rund zwölf Millionen Frauen weltweit haben nach Schätzungen des Uno-Bevölkerungsfonds UNFPA aufgrund der Pandemie Schwierigkeiten beim Zugang zu Verhütungsmitteln gehabt. Die Folge: rund 1,4 Millionen ungewollte Schwangerschaften. Der Zugang zu Medizin, Krankenhäusern, Ärztinnen und Ärzten ist eingeschränkt .

Experten fürchten zudem, dass Chinas Kehrtwende in der Geburtenpolitik Schwangerschaftsabbrüche künftig erschweren könnte. Das 1,4-Milliarden-Einwohnerland nutzt Abtreibung als politisches Instrument: In Zeiten der Ein-Kind-Politik hatten Frauen guten Zugang zu entsprechenden Behandlungen, teils wurden Schwangere zu Abtreibung oder Sterilisation gar gezwungen. Ein Kurswechsel würde Auswirkungen auf Millionen von Chinesinnen haben.

Auf der Seite der Abtreibungsgegner: Donald Trumps Politik beeinflusste Schwangerschaftsberatungen weltweit

Auf der Seite der Abtreibungsgegner: Donald Trumps Politik beeinflusste Schwangerschaftsberatungen weltweit

Foto: Mark Wilson / Getty Images

Rechtskonservative und religiöse Bewegungen kämpfen derweil weltweit dafür, dass die Zeit zurückgedreht wird: Ihr Widerstand gegen sexuelle Selbstbestimmung und Abtreibung steigt. In den USA versuchen erzkonservative Abtreibungsgegner, Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich verbieten zu lassen. Die amerikanische Pro-Life-Bewegung, aber auch die Außen- und Entwicklungspolitik der Trump-Ära und Zugeständnisse an evangelikale Gruppen  prägen auch den Rest der Welt.

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hatte gleich zu Beginn seiner Amtszeit die Global Gag Rule in Kraft gesetzt: Der Verordnung zufolge durften Organisationen, die auch nur indirekt Geld aus den USA bekommen, keine Beratungen zu Schwangerschaftsabbrüchen mehr anbieten. Wer das trotzdem tat, bekam also keine US-Mittel mehr. So mussten in Afrika zahlreiche Nichtregierungsorganisationen ihre Arbeit in den vergangenen Jahren einstellen und konnten Zehntausende betroffene Frauen nicht mehr erreichen.

Seit Kurzem kann unter dem neuen Präsidenten Joe Biden zwar wieder Geld aus den USA fließen – doch nun entfällt mit der britischen Regierung ein anderer wichtiger Geber. Großbritannien hat unter anderem die zugesagten Mittel an den Uno-Bevölkerungsfonds für dieses Jahr um rund 85 Prozent gekürzt. Daraus wurden bislang Beratungen und zum Beispiel Verhütungsmittel finanziert.

»Das bringt uns wieder in genau jene Lage zurück, aus der wir uns nach dem Ende der Global Gag Rule gerade erst befreit hatten«, sagt Nelly Munyasia, Direktorin des Reproductive Health Networks Kenya (RHNK). Ihrer Organisation war mit dem Amtsantritt Trumps fast die gesamte Finanzierung weggebrochen, denn das RNHK berät auch zu Schwangerschaftsabbrüchen. Die neuen Einschnitte würden nun erneut weniger Beratungskapazitäten bedeuten – sodass weniger Frauen Zugang zu Informationen über Verhütung, Familienplanung oder sicheren Schwangerschaftsabbrüchen erhalten würden.

Die britische Regierung begründet die gekürzten Mittel mit der Pandemie, die den öffentlichen Haushalt stark belastet habe. Kritiker sehen jedoch noch einen anderen Grund: den Einfluss konservativer Kräfte – so wie in den USA.

»Mit Trump sind diese Anti-Abtreibungsgruppen stärker geworden«, beobachtet auch Nelly Munyasia. »Sie verfügen über sehr viel Geld, sie tauchen auch hier in Kenia immer wieder auf.« Die Strategie der Abtreibungsgegner: mit Diffamierungskampagnen und Beschwerdeschreiben Ärzte und Einrichtungen diskreditieren, die Abtreibungsberatungen anbieten. Erst kürzlich wurde wieder ein Mediziner in der Hauptstadt Nairobi Zielscheibe einer solchen Aktion.

Rechtskonservative und Evangelikale machen Kampagne gegen Abtreibungen – und beeinflussen in vielen Ländern die Politik

Rechtskonservative und Evangelikale machen Kampagne gegen Abtreibungen – und beeinflussen in vielen Ländern die Politik

Foto: Andressa Anholete / Getty Images

Evangelikale Bewegungen und Pfingstkirchen, die ursprünglich aus den USA kommen, hätten dem US-Politologen Javier Corrales  zufolge mittlerweile einen großen Einfluss auf politische Entscheidungen in vielen Ländern weltweit. Evangelikale würden Allianzen mit NGOs, Parteien und anderen traditionellen politischen Akteuren bilden, darunter der Katholischen Kirche, ihrem ehemaligen Gegenspieler – mit dem Ziel konservative Reformen durchzusetzen.

Der Kampf gegen LGBTIQ-Rechte, Abtreibung und reproduktive Selbstbestimmung habe die »zersplitterte religiöse Szene« vereint, so Corrales – um gegen die gemeinsamen Feinde vorzugehen, hätten sie eine Art Waffenstillstand geschlossen.

Andererseits sind auch Frauenbewegungen wie #MeToo so stark wie nie zuvor – von Argentinien bis nach Südkorea. Aktivistinnen mobilisieren in sozialen Netzwerken und gingen auch mitten in der Pandemie für mehr Selbstbestimmung, gegen Diskriminierung und Missstände auf die Straße. »Es geht darum, ein Symbol zu setzen«, sagt Erika Martínez, die in Mexiko für mehr Frauenrechte und gegen Gewalt kämpft. »Wir zeigen ganz konkret, dass wir genug haben.«

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.