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Syrische Flüchtlingscamps Warum musste die fünfjährige Nahla sterben?

In Syrien ist ein fünfjähriges Mädchen ums Leben gekommen, nachdem es von seinem Vater über Wochen angekettet worden war und Hunger gelitten hatte. Der Fall legt die dramatischen Zustände in den Flüchtlingscamps offen.
Nahla al-Othman, fünf Jahre, ein paar Monate vor ihrem Tod in einem Flüchtlingscamp im Nordwesten Syriens

Nahla al-Othman, fünf Jahre, ein paar Monate vor ihrem Tod in einem Flüchtlingscamp im Nordwesten Syriens

Foto:

Hussein Al Hamad

Globale Gesellschaft

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Es gibt ein Foto, aufgenommen ein paar Wochen vor ihrem Tod, darauf kann man das Mädchen sehen. Ihr zerwühltes kinnlanges Haar, ihren Pulli, der einmal pink war und jetzt voller Dreck und Staub ist. Die Füße in blauen Gummistiefelchen. Und dann die Ketten. Eisenketten, deren Enden das Mädchen, Nahla al-Othman, fünf Jahre alt, in ihren kleinen Händen hält, fast wie eine Selbstverständlichkeit.

Nahla al-Othman hat drei ihrer fünf Lebensjahre in einem Zelt verbracht, gemeinsam mit ihrem Vater und sechs Geschwistern. Im syrischen Bürgerkrieg war die Familie aus ihrem Heimatort vertrieben worden, sie ließ sich im kleinen Flüchtlingscamp Farjallah nahe der türkischen Grenze nieder. Die Mutter verließ die Familie vor einiger Zeit, floh allein in die Türkei.

Der Vater sagt, Nahla sei ein verhaltensauffälliges Kind gewesen, mit einer unheilbaren Hautkrankheit. Und sie habe sich immer wieder selbst in Gefahr gebracht: Ihre Hände am Feuer verbrannt, sich von hohen Mauern geworfen. Sie habe sich einfach so ihre Kleidung vom Leib gerissen oder sei abgehauen, manchmal nachts in die Zelte der Nachbarn, manchmal raus aus dem Camp. Er sagt, er habe sie schützen wollen, indem er dies tat: Seine eigene Tochter in Ketten legen. Sie in einen Käfig sperren, in ein zum Gefängnis umgebautes Kinderbett. Nachbarn sprechen von Folter.

Nahla wurde von ihrem Vater auch in dieses Bett gesperrt, das er zu einem Käfig umgebaut hatte. Ursprünglich stand es im Zelt der Familie, wurde dann als Beweismittel zur Polizeistation gebracht, wo dieses Bild entstand.

Nahla wurde von ihrem Vater auch in dieses Bett gesperrt, das er zu einem Käfig umgebaut hatte. Ursprünglich stand es im Zelt der Familie, wurde dann als Beweismittel zur Polizeistation gebracht, wo dieses Bild entstand.

Foto: macergifford / Twitter

Am 4. Mai 2021 um 21 Uhr starb das Flüchtlingsmädchen Nahla in einer Notaufnahme in Killi bei Idlib. So steht es auf dem Totenschein, der dem SPIEGEL vorliegt. Todesursache: Ersticken. Ihr Vater hatte sie noch lebend zum Krankenhaus gebracht. Man fand bei der Obduktion Speisereste in der Luftröhre. Der behandelnde Kinderarzt nimmt an, dass Nahla, ausgehungert und mangelernährt, zu hastig Lebensmittel in sich hineingestopft und sich verschluckt hatte.

Nahla al-Othmans Geschichte zu erzählen, bedeutet erst einmal, über einen Einzelfall zu berichten, der die Region erschüttert. DER SPIEGEL hat die letzten Wochen ihres Lebens rekonstruiert, hat mit behandelnden Ärzten, dem Vater, der Mutter, der Schwester, Aktivisten und dem Camp-Leiter gesprochen.

Dabei zeigt sich zunächst das Bild eines maßlos überforderten, gewalttätigen Vaters. Und eines Mädchens, das nicht an den Misshandlungen starb, aber ohne sie vielleicht stark genug gewesen wäre zu überleben. Das in den Mangel hineingeboren wurde und dessen Krankheit in einem vom Bürgerkrieg zerstörten Land keine Chance auf Linderung hatte.

»Zehn Jahre ohne eine Perspektive haben ihre Spur bei den Kindern hinterlassen. Wie viele Fälle geschehen jeden Tag, ohne dass irgendjemand je davon erfährt?«

Sonia Khush, Hilfsorganisation »Save the Children«

Doch Nahlas Geschichte deutet darüber hinaus. 1,7 Millionen Syrerinnen und Syrer sind Vertriebene in ihrem eigenen Land. Viele von ihnen wurden in der letzten Großoffensive  des Machthabers Baschar al-Assad auf die Region Idlib im Winter 2019/2020 aus ihren Häusern gebombt. Sie leben seitdem in Zelten, Hütten, Provisorien, in Camps, Wäldern, offenen Feldern im Norden des Landes. Unter ihnen Hunderttausende Kinder.

Eltern legen Neugeborene aus Verzweiflung neben Müll ab

Alltag heißt für sie: kaum Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung, zu einem hygienischen, sicheren Zuhause. Das Erste, was den Menschen aber einfällt, wenn man sie fragt, was ihnen fehle, ist Essen. Das berichten Hilfsorganisationen vor Ort. Die Lebensmittelpreise sind enorm gestiegen. Die Menschen leiden Hunger.

»Wir sehen in den Camps von Idlib immer öfter Eltern, die ihre Neugeborenen aussetzen, sie neben Mülltonnen ablegen und fortgehen. Die Eltern tun das nicht, weil sie selbst grausame Menschen sind. Sie tun diese grausamen Dinge, weil sie keinen anderen Ausweg sehen«, sagt Sonia Khush von der Hilfsorganisation »Save the Children«.

Viele Kinder in den Lagern versuchen aktiv, ihr Leben zu beenden. Bei jedem fünften registrierten Suizidversuch  im Nordwesten Syriens handele es sich inzwischen um ein Kind, sagt sie. 15 Prozent der Jugendlichen trügen Suizidgedanken. Wer nie etwas anderes als Krieg erlebt hat, kann kaum auf die Idee kommen, auf eine schönere Zeit zu hoffen.

Sonia Khush fragt sich: »Wie viele Fälle wie der von Nahla geschehen jeden Tag, ohne dass irgendjemand je davon erfährt?«

Dass die Welt vom Leben und den Qualen Nahla al-Othmans erfahren hat, liegt am Video des Aktivisten Ahmad Rahhal. Er sagt am Telefon, er habe Mitte März das Farjallah-Camp besucht. Er hatte davon gehört, dass dort ein Mädchen von seinem Vater gefesselt werde. Als er Nahla traf, war sie nicht angekettet, sondern in ihrem Zelt. Er richtete sein Handy auf Nahla, die ihm verwahrlost vorkam, und begann zu filmen. Die Aufnahme, 56 Sekunden, liegt dem SPIEGEL vor.

»Niemand hier kann es sich leisten, Verantwortung zu übernehmen.«

Hesham Al Omer leitet das Farjallah-Camp, in dem Nahla lebte

Nahla bittet Rahhal darin um ein Sandwich, sie streckt ihre Hände nach ihm aus. Offene Wunden an ihren Fingern sind zu erkennen. Was das für Verletzungen an ihrer Haut seien, fragt Aktivist Rahhal, das Mädchen sagt: »Eine Hautkrankheit.«

»Sperrt dich dein Vater manchmal ein?«

»Er kettet mich an und schlägt mich.«

»Warum?«

»Weil ich wegrenne oder ins Zelt der Nachbarn laufe.«

Ahmad Rahhal sagt, er habe das Video direkt an die Provinzverwaltung geschickt, doch diese habe nichts unternommen. Als er dann vom Tod Nahlas erfuhr, lud er einen Teil des Videos bei YouTube hoch. Es wurde bisher 1,5 Millionen Mal angeklickt. In sozialen Medien verbreitete es sich schnell, genau wie das Foto mit den Eisenketten. Ahmad Rahhal sagt, Nahlas tägliches Leiden sei für alle in dem Camp offen sichtbar gewesen. Alle hätten davon gewusst.

Ein Flüchtlingslager nahe dem Ort Killi in Nordwest-Syrien: Nahlas Familie lebt in einem kleinen, abgeschiedenen Camp

Ein Flüchtlingslager nahe dem Ort Killi in Nordwest-Syrien: Nahlas Familie lebt in einem kleinen, abgeschiedenen Camp

Foto:

Osama Jumaa / ZUMA Wire / imago images

Warum ist niemand gegen den Vater eingeschritten? Warum hat niemand Nahla geholfen? Warum musste sie schließlich sterben?

Der Leiter des Camps, Hesham Al Omer, 45 Jahre, sagt dazu am Telefon, im Farjallah-Lager lebten 350 Familien. Es liege fernab von größeren Städten. Es kämen selten NGOs, um zu helfen. Es gebe zu wenig Wasser, zum Waschen, zum Kochen. Er benutzt das Wort »Albtraum«, um den Alltag der Kinder zu beschreiben. Viele, sagt er, arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen.

»Kein Arzt in der Region konnte Nahlas Hautkrankheit behandeln. Ich habe sie auch einmal zu einem Arzt gebracht. Sie war ein unruhiges Kind, vielleicht wegen der Blasen und Wunden an ihrem ganzen Körper. Der Vater hätte rund um die Uhr auf seine Tochter aufpassen müssen. Er ist alleinerziehend, muss arbeiten. Er sah keine andere Wahl, als sie festzubinden.«

Die Tagebücher einer syrischen Flüchtlingsfamilie

Sicher, sagt Al Omer, hätten alle gesehen, dass der Vater Nahla ankette wie ein Tier. »Aber wenn du hier einen Missstand ansprichst, dann bist du es, der ihn lösen muss. Du musst zahlen, du hast dann die Verantwortung. Niemand hier kann es sich leisten, Verantwortung zu übernehmen.«

Der Polizeichef veröffentlichte ein Statement, in dem steht, das Mädchen sei »unter mysteriösen Umständen« zu Tode gekommen. Zeugen hätten ausgesagt, dass es vom Vater gefoltert worden sei. Er habe das Kind vernachlässigt, hungern lassen. Die Obduktion habe jedoch keine Spuren von Misshandlungen festgestellt. Der Vater sei nicht schuld am Tod, so die Polizei, das Mädchen sei erstickt.

Der Vater. Am Telefon klingt er nervös, aber klar. Essam Abdulkarim Othman, 41 Jahre, hat acht Kinder. Früher arbeitete er auf Baustellen, in Damaskus oder in Beirut, Libanon. Seit dem Krieg ist er arbeitslos. Sein ältester Sohn ist seit Jahren verschollen, erzählt Othman, seit er einmal weglief in Richtung Kriegsfront. Keiner wisse, ob der Sohn tot ist. Othman gibt zu, dass er seine Kinder ab und zu schlägt, und auch seine Frau, bevor sie ihn verließ.

»Ich hatte Angst, nach meinem Sohn noch ein Kind zu verlieren. Jetzt habe ich es dennoch verloren.«

Essam Abdulkarim Othman, Vater der toten Nahla, musste 21 Tage in Untersuchungshaft, bevor er entlassen wurde

Dann spricht er von Nahla. Er sagt, er sei kein Mörder. Er weine um seine Tochter. Nach Nahlas Tod kam er 21 Tage in Haft, wurde dann freigelassen. Er erzählt, wie Nahla sich immer wieder selbst verletzt habe, abgehauen sei. Ständig habe man Angst haben müssen um sie. »Andere Leute sagten zu mir: Wenn du nicht in der Lage bist, auf dein Kind aufzupassen, warum hast du es überhaupt in die Welt gesetzt?«, sagt Othman. Da habe er angefangen, Nahla anzuketten.

Er sagt: »Ich habe keine Ressourcen. Ich bin allein mit den Kindern. Ich muss Essen besorgen, Wasser. Hilfen haben wir keine.« Er habe Angst gehabt, nach seinem Sohn noch ein Kind zu verlieren. »Jetzt habe ich es dennoch verloren«, sagt er. Seine Tochter hat er in einem Grab unweit des Camps beerdigt.

Ein Krankenhaus für 175.000 Menschen aus 80 Flüchtlingslagern

Im medizinischen Befund heißt es, Nahla sei nach der Einlieferung eine halbe Stunde lang wiederbelebt worden, bevor sie starb. Sie sei unterernährt gewesen. Das Krankenhaus sagt, es sei fast die einzige medizinische Anlaufstelle für 175.000 Menschen aus 80 Flüchtlingslagern in der Umgebung. 17.600 Kinder seien in den vergangenen sechs Monaten eingeliefert worden, viele mit Lungenentzündung, Unterernährung, Unterkühlung. An Covid-19 könne man gar nicht denken. Es gebe nur drei Kinderärzte. Es fehle an Medikamenten, an Personal, an allem.

Vielleicht, sagt der Kinderarzt, der Nahla an dem Abend Anfang Mai behandelt hat, hätte er das Mädchen retten können, wenn er eine bessere Ausrüstung zur Verfügung gehabt hätte. Und wenn Nahlas Körper nicht schon so schwach gewesen wäre.

Mitarbeit: Mohannad al-Najjar

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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