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Mordprogramm der Nazis: Der Leidensweg von Rosa Schillings

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"Euthanasie"-Opfer der Nazis "Ich bin ohne Sinnen gestorben!"

Als Todesursache gaben die Nazis an: "Leukämie". Ein Hohn. In Wahrheit starb Rosa Schillings, eine unbeugsame Frau, in der Gaskammer von Hadamar. Gabriele Lübke kennt die ganze Geschichte - Rosa war ihre Großmutter.
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einestages-Autorin Gabriele Lübke hat die Geschichte ihrer Großmutter anhand von persönlichen Dokumenten ihres Vaters und der Krankenakte, die sie über das Bundesarchiv in Berlin erhielt, aufgearbeitet.

Rosa Schillings nahm beim Kaffee mehreren Kranken ihr Butterbrot fort, warf es auf den Boden und rief: "Hunden legt man solches Essen nicht vor. Ich lasse mich nicht zum Tier erniedrigen." In den ersten Wochen in der Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen war Rosa sehr ängstlich. Danach folgte die Rebellion. Sie sah sich als Ausbeutungsobjekt und wollte nicht teilnehmen am täglichen Leben der Anstalt und damit an den Arbeiten, die Patientinnen und Patienten erledigen mussten. Immer wieder verweigerte sie die Medikamente und äußerte, dass man ihr abends Schlafmittel gebe und sie nachts in unsittlicher Weise belästige.

Bei ihrer Einweisung war Rosa auf Anordnung des Arztes zwangssterilisiert worden. Ihren Goldzahn hatte man ihr herausgebrochen. Ihr einst hübsches Gesicht beschrieb sie selbst als Fratze.

Rosa Schillings wurde am 2. Mai 1941 von den Nazis ermordet. Sie starb im Zuge der Erwachsenen-"Euthanasie" in der Gaskammer der Tötungsanstalt Hadamar.

Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden während des Nationalsozialismus schon ab 1934 diskriminiert und verfolgt. Ab Sommer 1939 wurde die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" geplant und von Hitler durch eine Tötungsermächtigung legitimiert, datiert auf den 1. September 1939, Tag des Kriegsbeginns durch den deutschen Überfall auf Polen. Das Mordprogramm erhielt den Namen "Aktion T4" , nach der Adresse Tiergartenstraße 4 der eigens dafür aufgebauten Verwaltungszentrale in Berlin.

In grauen Bussen zu den Tötungsanstalten

Die systematische Ermordung von Kindern mit geistigen oder körperlichen Behinderungen begann 1939; die Nationalsozialisten verschleierten sie auch als "Gnadentod". Ab Januar 1940 wurden erwachsene Patienten und Patientinnen von grauen Bussen abgeholt und in insgesamt sechs Tötungsanstalten gebracht, darunter Hadamar in Hessen. Dort ermordete man sie mit Kohlenmonoxid in als Duschräumen getarnten Gaskammern und äscherte die Leichen umgehend ein.

Die Nazis töteten insgesamt rund 200.000 kranke und behinderte Menschen, davon etwa 15.000 in Hadamar. Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 1941 wurden dort 10.122 Menschen ermordet. Die Angehörigen erhielten kurz darauf "Trostbriefe" sowie Sterbeurkunden mit falschen Angaben zu Todesursache und -datum.

Rosa Schillings war meine Großmutter. Auch mein Vater hat einen solchen Trostbrief und eine Sterbeurkunde erhalten. Als Sterbedatum war der 26. Mai 1941 eingetragen, als Todesursache Leukämie.

Eine zynische Lüge.

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Mein Vater hat viel über seine Mutter erzählt, doch seine Erzählungen endeten immer 1936, als der Kontakt zu ihr abgebrochen wurde. Das Nächste, was er von ihr erfuhr: Sie sei in Hadamar "verstorben".

Mit zwei Kleinkindern nach Borneo

Rosa Schillings wurde am 18. März 1899 als Rosa Antonette Hubertine Droste in Würselen geboren. Sie wuchs mit drei Brüdern in einer wohlsituierten Kaufmannsfamilie auf, eine unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit. Rosa heiratete 1925 Johann Josef Schillings, den alle Jean nannten. Noch im selben Jahr wurde ihre Tochter Inge geboren, ein Jahr später ihr Sohn Gregor.

Jean Schillings nahm 1927 das Angebot einer niederländischen Firma an, die technische Leitung eines Bergwerkes auf der fernen Insel Borneo zu übernehmen. Zunächst blieb Rosa in Deutschland, um ihre kranke Mutter zu pflegen; ihr Vater war bereits 1924 gestorben. Rosas Schwiegermutter konnte nicht verstehen, dass sie ihrem Mann nicht sofort nach Südostasien folgte und brach jeden Kontakt zu ihr und den Enkeln ab.

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Mordprogramm der Nazis: Der Leidensweg von Rosa Schillings

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Nach dem Tod ihrer Mutter reiste Rosa im Februar 1929 mit den Kindern nach Borneo. In der damaligen niederländischen Kolonie hatte ihr Ehemann inzwischen ein Haus erworben und Personal eingestellt. Im Januar 1930 kam es zu einem Aufstand der Bergwerksarbeiter, bei dem Jean erstochen wurde. Rosa beerdigte ihn auf Borneo und kehrte mit den beiden Kindern zurück in ihren Heimatort Würselen. Dort kam es zu Streitigkeiten um das Erbe ihres Mannes und zum endgültigen Bruch mit den Schwiegereltern.

Für sich und ihre Kinder richtete Rosa eine Wohnung ein. Finanzielle Sorgen hatte sie nicht, da sie eine Witwen- und Waisenrente aus den Niederlanden bekam und eigenes Vermögen aus dem Erbe ihrer Eltern hatte. Aber das Schicksal schlug weiter zu: Ihre an Malaria erkrankte Tochter Inge starb im November 1931. In dieser Zeit begannen Rosas Depressionen.

"Den Kindern wird der Hass ja schon eingeimpft"

Weihnachten 1932 brach Rosa in Weinkrämpfe aus, ihr Bruder Hermann brachte sie in eine Heilanstalt nahe Aachen. In Abständen folgten weitere Aufenthalte in mehreren Heilanstalten. Hermann wurde als ihr gesetzlicher Pfleger und als Vormund ihres Sohnes eingesetzt. Rosa und ihr Bruder Josef versuchten, das zu verhindern - vergebens: Pflegschaft und Vormundschaft verblieben noch einige Jahre bei Hermann.

Trotz ihrer Krankheit galt Rosas ganze Liebe und Sorge Sohn Gregor. Sie hatte Angst, dass er ihretwegen leiden muss, denn auch die Kinder vermeintlich "Geisteskranker" waren aufgrund des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Gefahr.

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Archiv BKH Kaufbeuren

Am 22. März 1936 wurde Rosa in die Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen eingewiesen. Die Diagnose: paranoide Schizophrenie. Rosa fügte sich nicht in das Anstaltsleben ein. Für Ärzte und Pflegepersonal war sie nur eine rebellische, aufsässige Patientin. Rosas Willen konnten sie nicht brechen, ihre kritischen Äußerungen über Hitler und das Naziregime nicht stoppen. So nannte sie Hitler einen Schweinehund, der seine Leute mit "Kraft durch Freude" fange.

"Den Kindern wird der Hass ja schon eingeimpft", sagte Rosa laut Krankenakte, und über die Zustände in Galkhausen: "Ihr könnt ja nichts anderes als die Leute zu misshandeln und ihnen nichts zu essen zu geben. Die haben mir mein junges Gesicht genommen und haben mir ihre Fratze gegeben."

Fast 75 Jahre später bin ich Rosas Weg gegangen

Nur noch einmal hat Rosa Galkhausen verlassen: mit dem grauen Bus, der sie in die Tötungsanstalt Hadamar brachte. Angeordnet hatte das, so der letzte Eintrag in der Krankenakte, der "Herr Reichsverteidigungskommissar" am 2. Mai 1941. In Hadamar starb sie am selben Tag den Gastod.

Rosas Sohn Gregor, mein Vater, wuchs ab etwa 1937 bei seinem Onkel Josef auf. Er hat einen Teil des Schicksals seiner Mutter und damit sein eigenes Schicksal aufgearbeitet. In Hadamar erfuhr er, wie seine Mutter gestorben ist. Den in der Gedenkstätte Hadamar  vorliegenden Transportlisten war das wahre Todesdatum zu entnehmen.

2005 sprach mein Vater dann in einem Interview mit einer amerikanischen Wissenschaftlerin über das Schicksal seiner Mutter. Doch auch hier blieben die Jahre von 1936 bis 1941 im Dunkeln, darüber hatte er keine Informationen.

Mich hat dieser Teil meiner Familiengeschichte vor zwei Jahren eingeholt: Im März 2015 habe ich in Hadamar zum ersten Mal den Ort gesehen, an dem meine Großmutter ermordet wurde. Ich bin ihren Weg gegangen - von der Garage der grauen Busse bis zur Gaskammer und zum Krematorium. Ein grausamer Weg, Rosas letzter.

"Ich habe die Ehrenrechte der ganzen Welt"

In Hadamar habe ich erfahren, dass noch 30.000 Krankenakten der Opfer der T4-Aktion, die bis August 1941 getötet wurden, im Bundesarchiv in Berlin einsehbar sind. Auch die Akte meiner Großmutter. Darin wurden hauptsächlich Rosas Äußerungen dokumentiert, nicht die Therapie. So konnte ich ihr Leben von 1936 bis 1941 nachvollziehen. Das Lesen der Akte hat mich emotional sehr berührt, aber auch sehr stolz gemacht: Trotz aller Schikanen konnte niemand Rosas Willen brechen, sie hat sich bis zuletzt gegen die Behandlung in Hadamar und das Naziregime aufgelehnt.

Besonders beeindruckt hat mich, was Rosa am 19. Januar 1941 dem Anstaltsarzt sagte: "Ich habe die Ehrenrechte der ganzen Welt. Ich bin als Staatsanwältin angestellt, um selbst aufzuklären, warum ich gemordet worden bin! Ich bin ohne Sinnen gestorben!"

Fast 75 Jahre später wird Rosas Gesicht in Filmen des israelischen Filmemachers Yaniv Schwartz verwendet: als Anklägerin für die furchtbaren Euthanasie-Morde. Und so ist ihre Äußerung Wirklichkeit geworden.

Im April 2015 stieß ich zufällig im Internet auf diese Kurzfilme von Yaniv Schwartz zur T4-Aktion. Er hatte das Foto meiner Großmutter auf den Internetseiten der amerikanischen Wissenschaftlerin gefunden. Ich nahm Kontakt mit Yaniv auf, so entstand ein neuer Kurzfilm über Rosa (hier zu sehen) . Es ist ein Mahnmal für alle, die diesen sinnlosen Tod gestorben sind - ein israelisch-deutsches Zufallsprojekt über eine der Gräueltaten des Nationalsozialismus.