Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Der Mitbewohner des Monsters: Erst im Gefängnis fühlte er sich sicher

Foto: Jack Orton/ AP

Serienmörder Jeffrey Dahmer Leben mit dem Menschenfresser

Sie nannten ihn das Monster von Milwaukee: 1992 wurde der Kannibale Jeffrey Dahmer für seine grausamen Morde zu 957 Jahren Gefängnis verurteilt. Auch Billy Capshaw bekam lebenslänglich. Bei der Armee war er Zimmergenosse des Psychopathen - und erholte sich nie von der systematischen Folter.

Als Billy Capshaw am 23. Juli 1991 im Konferenzraum der Haftanstalt von Garland County vor die Presse trat, hatte jeder der Journalisten die schrecklichen Bilder im Fernsehen gesehen: Die Kühltruhe mit den menschlichen Schädeln. Das große, blaue Plastikfass mit den Körpern in Salzsäure. Polizeibeamte in Sauerstoffmasken und Schutzanzügen, die immer neue Beweisstücke aus Wohnung 213 der Oxford Apartments in Milwaukee getragen hatten - Möbelstücke, Kisten, Körperteile. Es war die Wohnung des Serienmörders Jeffrey Dahmer, des "Monsters von Milwaukee", wie er jetzt genannt wurde.

Sie alle waren gekommen, um Capshaw dieselbe Frage zu stellen: Wie war das eigentlich, mit dem Monster zu leben? Denn damals, Anfang der achtziger Jahre, hatte er eineinhalb Jahre sein Kasernenzimmer mit Dahmer geteilt. Capshaw zeigte mit dem Finger auf die Journalisten und sagte: "Er war so normal wie jeder hier." Er habe es einfach nicht glauben können, so Capshaw, dass Dahmer mindestens 17 Menschen getötet hatte. Getötet, missbraucht, verstümmelt und gegessen. Vor zehn Jahren, als sie beide im süddeutschen Baumholder stationiert waren, so Capshaw, war er "der engste Freund" von Dahmer. "Ich habe immer zu ihm aufgesehen. Er tut mir leid", sagte er. Und: "Ich habe viel an ihn gedacht über die Jahre." Das stimmte. Doch alles andere war gelogen.

18 Monate lang hatte Billy Capshaw in der US-Kaserne des rheinland-pfälzischen Nestes Baumholder mit Dahmer auf einem Zimmer gelebt - und war durch die Hölle gegangen. Genaugenommen tat er das noch immer. Denn das, was sich dort zugetragen hatte, hatte ihn nie wieder ganz losgelassen. Es war die Scham über das, was Dahmer ihm angetan hatte, die Capshaw nun vor den Journalisten lügen ließ.

Die Vorgesetzten sahen weg

Zehn Jahre zuvor, als Billy Capshaw im Februar 1980 in der US-Kaserne im deutschen Baumholder ankam, fand der Sanitäter das reine Chaos vor. "Es war völlig verrückt. Die Armee hatte sich noch nicht von Vietnam erholt - die meisten Soldaten betranken sich jeden Abend", erinnert er sich auf der Website survivingjeffreydahmer.org, auf der er Jahre später die Aufzeichnungen veröffentlichte, die er im Rahmen einer Therapie machte. In diesem einschüchternden Umfeld brauchte der dickliche, 17 Jahre alte Sanitäter Capshaw nichts dringender als einen Verbündeten. In seinem drei Jahre älteren Zimmergenossen Dahmer - neben ihm der einzige der Einheit, der nicht in Vietnam gewesen war - meinte er ihn gefunden zu haben: "Er schien erst ein netter Kerl zu sein. Er hatte Charisma."

Capshaw ahnte nicht, dass sein Mitbewohner schon als Kind zwanghaft Katzen und Hunde ausgeweidet hatte, weil ihm das ein Gefühl von Macht gab. Er wusste auch nicht, dass Dahmer seit seinem 14. Lebensjahr sexuelle Gewaltfantasien hatte. Vor allem aber hatte der junge Sanitäter keine Ahnung, dass der Mann, mit dem er nun ein Zimmer teilte, nur eineinhalb Jahre zuvor kurz nach seinem 18. Geburtstag den Anhalter Steven Hicks aufgelesen, zu sich nach Hause gelockt, ihn mit einer Hantel erschlagen, zerstückelt und seine Überreste im Garten vergraben hatte.

Nach ein paar Tagen begann die freundliche Fassade seines Mitbewohners zu bröckeln: Dahmer versuchte immer mehr, ihn zu kontrollieren, fing an, ihn zu schlagen. Capshaw beschwerte sich bei seinen Vorgesetzten - doch die verspotteten ihn nur, er sei eine "Muschi". Dahmer isolierte ihn systematisch: Er hatte den einzigen Schlüssel zum Zimmer und behielt Capshaw immer im Auge. Verließ Dahmer das Zimmer, schloss er seinen Mitbewohner ein. Anrufe und Briefe für ihn fing er ebenso ab wie den Sold. Die Vorgesetzten ignorierten dies alles, wie Capshaw sich fassungslos erinnert: "Ich erschien nie zu Übungen. Ich erledigte nie die Arbeiten, die mir zugeteilt worden waren. Trotzdem wurde ich befördert."

Capshaws Fluchtversuch

Dahmer wurde immer gewalttätiger. Bald reichte es ihm nicht mehr, sein Opfer mit bloßen Händen zu verprügeln. Er benutzte ein Stahlrohr seines Bettgestells, um Capshaw zu schlagen - auf die Finger, gegen die Schienbeine, vor allem aber immer wieder auf die Gelenke, weil das am meisten schmerzte. Hatte er seinen Zimmergenossen so schwer verletzt, dass Billy zum Arzt musste, brachte er ihn selbst hin. Dort trat der Peiniger so ruhig und überzeugend auf, dass die Ärzte ihm glaubten, er passe nur auf seinen Freund auf und habe ihn nicht selbst so zugerichtet - obwohl Capshaw das Gegenteil beteuerte.

Fotostrecke

Der Mitbewohner des Monsters: Erst im Gefängnis fühlte er sich sicher

Foto: Jack Orton/ AP

Capshaw versuchte zu fliehen: Einmal, als es ihm gelungen war, seinen Sold selbst entgegenzunehmen, kletterte er aus dem Fenster und flüchtete. Allein als Fremder in einem Land, dessen Sprache er nicht beherrschte, irrte er umher. Es schien ausweglos: Kehrte er nicht zurück, würde er als Deserteur gesucht. Und in die USA fliehen konnte er nicht - schließlich lag sein Personalausweis bei der Garnisonsleitung. Zudem waren seine finanziellen Mittel begrenzt. Er schlief ein paar Nächte in einem Hotel und kehrte dann resigniert zurück. Dieses Mal richtete ihn Dahmer besonders übel zu.

Plötzlich verschwunden

Immer mehr zeigte sein Peiniger auch sexuelles Interesse an ihm. Manchmal streichelte er ihn zärtlich, griff ihm in den Schritt und sagte ihm, dass er ihn liebe. Eines Tages wachte Capshaw benommen auf, und stellte fest, dass er gefesselt worden war. Dahmer, der ihn scheinbar unter Drogen gesetzt hatte, nutzte die Wehrlosigkeit seines Zimmergenossen, um ihn zu vergewaltigen. Aus Scham schwieg Capshaw jahrelang darüber.

Billy schmiedete Mordpläne, aber aus Angst vor einer Gefängnisstrafe brachte er es nicht über sich, sie in die Tat umzusetzen. Immer wieder bettelte er seine Vorgesetzten an, ihn in ein anderes Zimmer zu verlegen - doch die lehnten ab oder verspotteten ihn. Und so fügte er sich schließlich in sein Schicksal: Genauestens beobachtete er rund um die Uhr Dahmers Stimmungen. Weil der noch aggressiver wurde, wenn Billy während der Misshandlungen wegschaute, blickte er seinem Peiniger nun stets in die Augen. Und weil Dahmer nur noch härter zuschlug, wenn sein Opfer schrie und weinte, lernte er, die Schläge still zu ertragen. Jeder Funken Hoffnung war aus dem jungen Mann gewichen.

Doch dann kam eine unerwartete Wendung: Eines Tages im August 1981 wurde Capshaw zu einem Feldeinsatz weggerufen. Als er zurückkam, erinnert er sich, "war der erbärmliche Hurensohn weg. Ich hörte, sie hatten ihn mit Gewalt fortzerren müssen." Dahmer war aus der Truppe geworfen worden - doch nicht wegen der unaussprechlichen Gewalttaten oder des sexuellen Missbrauchs. Er hatte seinen Vorgesetzten schlicht zu viel getrunken.

Gefangen in der Vergangenheit

Capshaw war endlich frei - aber ein gebrochener Mann: Als er zwei Monate später aus dem Militärdienst entlassen wurde und zurück in seine Heimatstadt Hot Springs in Arkansas zog, litt er unter ständigen Panikattacken. Nachts erwachte er schweißgebadet aus Alpträumen und hatte am ganzen Körper Schmerzen, als wäre er wieder verprügelt worden. Er begann zu trinken und Drogen zu nehmen, verlor einen Job nach dem anderen. Drei Selbstmordversuche scheiterten.

Er ahnte nicht, dass auch Jeffrey Dahmer in die USA zurückgekehrt war und gut tausend Kilometer weiter nördlich in Milwaukee begonnen hatte, systematisch junge Männer aus Schwulenclubs in seine Wohnung zu locken, mit Schlaftabletten zu betäuben, zu missbrauchen und auf bestialische Weise zu ermorden. Dennoch verbarrikadierte Capshaw sich monatelang in seinem Haus, da er ständig damit rechnete, Dahmer könnte wieder auftauchen und ihn umbringen.

Eines Nachts im Jahr 1991 schlief Capshaw betrunken im Haus eines Freundes ein. Dessen 15-jährige Tochter zog ihm seinen Autoschlüssel aus der Tasche und fuhr mit seinem Wagen davon. Sie baute einen Unfall, ein Mensch starb dabei. Verurteilt wurde Capshaw - zu einem Jahr Haft wegen fahrlässiger Tötung, da das Mädchen durch ihn an das Auto gekommen war. Wieder war er seiner Freiheit beraubt, eingesperrt in einen Raum. Doch ironischerweise fühlte er sich erst hier wieder sicher vor Dahmer.

Ende ohne Ende

Und so saß Billy Capshaw im Gefängnis, während Dahmer am 22. Juli 1991 sein letztes Opfer in das berüchtigte Zimmer 213 der Oxford Apartments lockte: den 32-jährigen Tracy Edwards. Als Dahmer ihm drohte, sein Herz herauszuschneiden und es aufzuessen, gelang es Edwards, ihn niederzuschlagen und zu fliehen. Wenig später führte er zwei Polizisten zurück zur Wohnung von Dahmer. Seelenruhig beschwichtigte der Mörder sie, doch Edwards drängte die Beamten, die Wohnung zu durchsuchen. Sie fanden Hunderte Fotos verstümmelter Leichen, ein vollständiges Skelett und etliche abgetrennte Gliedmaßen.

24 Stunden brauchte Dahmer, um alle Grausamkeiten zu gestehen, die er seinen 17 Opfern angetan hatte. Es dauerte Monate, bis alle sterblichen Überreste identifiziert, die Beweise gesichert und ein Gerichtsurteil gefunden waren: Am 17. Februar 1992 wurde Jeffrey Dahmer verurteilt - zu 957 Jahren Gefängnis. Nur zwei davon sollte er absitzen: Am 28. November 1994 wurde Dahmer von einem Mithäftling mit einer Eisenstange erschlagen. Der Mörder sagte, Gott habe ihm die Tat befohlen.

Auch wenn sein Peiniger tot war: Für Billy Capshaw war es zu spät, noch Frieden zu finden. Jahrelang kämpfte er in Therapiegruppen, Einzelsitzungen, mit Antidepressiva und Beruhigungsmitteln gegen die Angst an, die sein Martyrium hinterlassen hatte, gegen die Wut, die ihn noch heute befällt, wenn Menschen ihm nicht zuhören. Und gegen die Schuld, die er seit damals fühlt. Dafür, dass er Dahmer nicht selbst getötet hatte.