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Ärzte-Debatte Ist Übergewicht eine Krankheit?

In Großbritannien diskutieren Mediziner, ob Übergewicht zur Krankheit erklärt werden soll. Was dafür spricht - und was dagegen.
Foto: Roos Koole/ Moment Open/ Getty Images

Gut jeder zweite Erwachsene in Deutschland ist übergewichtig. Und fast jeder sechste  ist fettleibig - mit einem Body-Mass-Index über 30. Sind all diese Menschen krank?

Über diese Definition diskutieren Experten im britischen Fachblatt "The BMJ" . Aktuell wird in Großbritannien, ebenso wie in Deutschland, Übergewicht nicht als Krankheit gewertet - allerdings ist das Thema hierzulande nicht in der öffentlichen Debatte.

In Portugal  dagegen gilt Übergewicht schon seit 15 Jahren als chronische Krankheit. Auch die US-Ärzteorganisation AMA stuft dies seit dem Jahr 2013  so ein.

Im aktuellen "BMJ" plädiert John Wilding von der University of Liverpool zusammen mit der Präsidentin der European Association for the Study of Obesity, Vicki Mooney, dafür, dass auch die Briten Übergewicht künftig offiziell als Krankheit ansehen.

"Nicht der Fehler des Einzelnen"

Ihre Argumente: Vererbung und Umwelt tragen entscheidend dazu bei, ob jemand Übergewicht entwickelt, wie sich Fettpolster am Körper verteilen und wie groß das Risiko für Folgeerkrankungen ist. Mehr als 200 Genvarianten seien bereits bekannt, die das Gewicht beeinflussen. Viele dieser Gene seien an der Regulierung von Hunger und Sättigung beteiligt. "Es ist nicht der Fehler des Einzelnen, wenn er übergewichtig wird", folgern die beiden.

Sie halten es deshalb für einen grundsätzlich falschen Ansatz, dass Übergewichtige allein dafür verantwortlich sein sollen abzunehmen. "Wenn wir Übergewicht als chronische Krankheit anerkennen, sollte das dazu beitragen, dass übergewichtige Menschen weniger stigmatisiert und diskriminiert werden", schreiben sie. Die beiden gehen davon aus, dass sich mehr Betroffene auf eine Behandlung einlassen würden, wenn Übergewicht als Krankheit definiert würde.

Ihnen widerspricht im "BMJ" der Allgemeinmediziner Richard Pile. Er kann sich nicht vorstellen, dass die neue Definition positive Effekte hätte. Weder würden dicke Menschen, sobald sie die Nachricht hören, plötzlich begeistert zu einem zügigen Spaziergang aufbrechen. Noch würden Gesundheitsexperten in einem Moment der Erkenntnis an die Stirn fassen und 'Das ändert alles!'" rufen, schreibt er.

"Profitieren würden Pharmaunternehmen"

Pile fürchtet stattdessen mögliche negative Konsequenzen. Würde man Übergewicht als Krankheit sehen, als von der Genetik vorgegeben, könnte dies Betroffenen die Motivation nehmen, dagegen anzugehen. Er warnt, die einzigen Profiteure dieser Änderung würden Pharmakonzerne und Ärzte sein, die Medikamente verkaufen beziehungsweise Operationen durchführen. Bislang gibt es allerdings kaum Arzneien, die Übergewichtigen möglicherweise beim Abnehmen helfen.

Wilding, der für die Anerkennung als Krankheit plädiert, zählt in den beim "BMJ" üblichen Offenlegungen möglicher Interessenkonflikte gut ein Dutzend Pharmaunternehmen auf, von denen er unter anderem Vortragshonorare erhalten hat. Pile hingegen engagiert sich in einem Unternehmen, das Menschen unter anderem durch Coaching helfen will. Allein aufgrund dieser Interessenkonflikte sollte man die Argumente der Pro-Seite jedoch nicht beiseiteschieben.

Übergewicht so bekämpfen, wie man auch Infektionen bekämpft

Tatsächlich ist die Diskussion darüber, ob Übergewicht als Krankheit gelten sollte, schon älter. 2017 etwa veröffentlichte die Fachzeitschrift "The Lancet Diabetes & Endocrinology" ein Editorial  mit der Forderung, Übergewicht als Krankheit anzuerkennen. Der Text basierte auf einem Positionspapier der World Obesity Federation.

Infektionskrankheiten, so heißt es dort, wurden erfolgreich durch gesellschaftliche Maßnahmen zurückgedrängt, so habe man etwa durch sanitäre Anlagen die Hygiene verbessert. Und ebenso müsse man die Übergewichtsepidemie mit Maßnahmen angehen, die deren "Krankheitserreger" bekämpfen: Nahrungsmittel mit hoher Energiedichte und Bewegungsmangel. Dies kann aber nicht der Einzelne lösen, stattdessen müssten Regierungen, Gesundheitsdienste, Lebensmittelhersteller und andere gemeinsam daran arbeiten.

Am Ende liegt die Lösung wahrscheinlich zwischen beiden Positionen - und ob Übergewicht als Krankheit definiert wird oder nicht, ist dabei gar nicht der wichtigste Punkt. Denn wenn es mehr Menschen schaffen sollen, nicht übergewichtig zu werden beziehungsweise abzunehmen, braucht es beides: Sowohl gesellschaftliche Veränderungen als auch persönliche Motivation.