Zum Inhalt springen

Was passiert mit einem Neugeborenen, wenn seine Mutter es in einer Babyklappe abgibt?

Eine Krankenschwester erzählt
Babyklappe in Berlin-Neukölln (Symbolbild): Der Alarm kann jederzeit ausgelöst werden

Babyklappe in Berlin-Neukölln (Symbolbild): Der Alarm kann jederzeit ausgelöst werden

Foto: dpa/Jg Carstensen

Dieser Beitrag wurde am 21.07.2018 auf bento.de veröffentlicht.

Wenn es passiert, tönt der Alarm durch die Behandlungsräume, durch den Stationsraum, durch die Nebenzimmer. Ein lautes Piepen. Jeder soll es mitbekommen. Die Ärztinnen und Ärzte, die Krankenpflegerinnen, die Krankenpfleger, alle machen sich auf den Weg in den Stationsraum, erzählt Carina, Kinderkrankenschwester am Vivantes Klinikum in Berlin Neukölln. 

Denn wenn der Alarm klingelt, hat gerade jemand ein Neugeborenes in die Babyklappe gelegt.

Was sind Babyklappen?

Es gibt bundesweit etwa 100 Babyklappen in Krankenhäusern und Notaufnahmen. Eine Mutter kann ihr Baby nach einer ungewollten Schwangerschaft dort unbeobachtet ablegen, später wird es zur Adoption freigegeben. Meistens liegen die Babyklappen an einer wenig befahrenen Seitenstraße der Kliniken, damit das Kind unauffällig abgelegt werden kann.

Fünf Babyklappen gibt es in Berlin. Das Vivantes Klinikum in Berlin-Neukölln hat eine von ihnen. In den acht Jahren, seit Carina dort arbeitet, wurden fünf Babys in die Klappe gelegt – zwei Mal war sie selbst diejenige, die es herausgeholt hat. 

Von außen ist die Babyklappe in eine rote Backsteinmauer eingelassen, die das Gelände von der Straße trennt, im Juchaczweg, einer Seitenstraße des Klinikums.

Wie ein kleiner Verkaufsschalter sieht sie aus, doch statt einer Glasscheibe ist dort eine schwere, weiße Klappe. Darauf steht in roten Lettern "Nur im Notfall öffnen!", darunter ein gezeichnetes Bild, auf dem zwei Arme ein lächelndes Baby in eine Öffnung legen. Ist das Kind einmal in das Bett gelegt und die Klappe wieder zu, wird diese automatisch verschlossen. 

In einem Bett neben der Babyklappe liegt ein Formular für den Vornamen des Kindes bereit

In einem Bett neben der Babyklappe liegt ein Formular für den Vornamen des Kindes bereit

Foto: Ina Fassbender/ dpa

Auf der anderen Seite der Backsteinmauer, hinter der Klappe auf dem Gelände des Klinikums, befindet sich ein kleines Häuschen, nicht größer als vier Quadratmeter. Es ist nur ein paar hundert Meter von der Rettungsstelle entfernt. Darin steht das Babybett, in das die Mutter ihr Kind legt.  

Das Wärmebettchen ist Tag und Nacht an. Die Temperatur liegt konstant bei 37 Grad, damit ein Baby nicht auskühlt, wenn es abgegeben wird. Ansonsten befinden sich in dem Raum eine Heizung, eine Lampe und die Überwachungskamera. Mehr nicht.

Der Babyklappen-Monitor, der das Bild aus der Babyklappe überträgt, steht in der Rettungsstelle in einem Raum, den sie "die Kanzel" nennen. Hier tippen die Krankenpflegerinnen und -pfleger die Patienteninformationen in den Computer, hier organisieren sie die Termine der Ärzte und verteilen Patienten auf die Untersuchungsräume. Die Kanzel ist das Herz der Rettungsstation. 

Der Babyklappen-Monitor steht in einem Regal, neben Aktenordnern, meistens bleibt er schwarz. Zwei Minuten dauert es nach Anschlagen des Alarms, bis die Live-Übertragung angezeigt wird. Sie geben der Mutter des Kindes die Möglichkeit unerkannt zu bleiben, sich vielleicht zu verabschieden und dann zu gehen.

Als Carina das erste Mal das Bild eines Babys auf dem Bildschirm sah, hatte sie gerade ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester abgeschlossen. Das war vor über sechs Jahren. Sie nahm einen Ersten-Hilfe-Koffer und ging mit dem Bereitschaftsarzt rüber zu der Klappe, zu dem Häuschen. Der Arzt holte den kleinen Jungen aus dem Bett und brachte ihn in die Rettungsstelle, um ihn zu untersuchen.

"Die zwei Minuten, die man auf den Monitor starrt, bis das Bild endlich auftaucht, fühlen sich an wie eine Stunde", erzählt Carina im Gespräch mit bento. Manchmal öffnen Passanten die Klappe einfach zum Spaß, oder weil sie vielleicht schauen wollen, was dahintersteckt. Es werden also auch hin und wieder Fehlalarme ausgelöst. Erst das Bild auf dem Monitor verrät, ob wirklich ein Neugeborenes abgegeben wurde. 

Der Alarm kann jederzeit ausgelöst werden, darauf ist Carina immer gefasst. Es gibt allerdings Tageszeiten, an denen das besonders wahrscheinlich ist: abends, nachts oder bei Dämmerung. Dann, wenn auf den Straßen rund um das Krankenhaus nicht viel los ist.

Die erste Babyklappe Deutschlands wurde im Frühjahr 2000 in Hamburg eröffnet. In jenem Jahr wurden allein in Hamburg vier Säuglinge von ihren Eltern ausgesetzt oder sogar getötet. Der Jugendhilfeverein Sternipark wollte damals mit der Klappe ein Angebot schaffen, das es Müttern erlaubt, ihre Kinder anonym abzugeben, sodass sie keine rechtlichen Konsequenzen zu befürchten haben – damit die Kinder leben können. (Hamburger Abendblatt )

Was sagt das Gesetz zu Babyklappen?

Laut Paragraph 1591 des Bürgerlichen Gesetzbuches muss eine Frau, die ein Kind zur Welt gebracht hat, als Mutter in die Geburtsurkunde eingetragen werden. Jede Person, die an einer anonymen Geburt beteiligt ist, oder weiß, dass eine Mutter ihr Kind anonym abgibt – wie es bei den Babyklappen der Fall ist – macht sich eigentlich strafbar. Die Babyklappen sind zwar nicht legal, aber geduldet. (bundestag.de )

Seit 2014 gibt es die "vertrauliche Geburt" als gesetzlich verankerte Alternative – auch hierbei bleibt die Mutter bei der Entbindung anonym, ihre Daten werden aber beim Bundesamt für Familie aufbewahrt. Das Kind kann dann nach 16 Jahren den Namen seiner leiblichen Mutter erfragen.

Wenn eine Mutter die Klappe von der Straße aus öffnet, liegt in dem Bett eine Decke für das Baby, sowie Zettel und Stift, falls sie einen Vornamen hinterlassen möchte. Auf einem Informationsblatt, das ebenfalls im Bett liegt, wird sie darüber informiert, dass sie ihr Kind später noch sehen kann, wenn sie das möchte. Acht Wochen lang besteht noch die Chance, es wieder abzuholen

Carina hat noch nie erlebt, dass das vorgekommen ist.

"Es ist ein sehr aufwühlender Moment, wenn man zum ersten Mal das Kind sieht. Schon wenn der Alarm losgeht, steigt das Adrenalin. Man will wissen, ob es dem Baby gut geht." Die meisten Klappenkinder, wie Carina sie nennt, sind wohlauf. So auch der kleine Junge. An ihn erinnert Carina sich nicht mehr genau, zu lange ist es her, zu aufgeregt war sie damals. Dafür erinnert sie sich an das zweite Baby.

"Das habe ich selbst rausgeholt", erzählt sie. Es war erst ein paar Stunden alt, hatte einen langen Body und einen Pullover an. Es war ein Mädchen. "Ich habe es in den Arm genommen, in eine Decke gewickelt und zur Rettungsstelle getragen."

Klappenkinder werden oft nur mit einer Windel bekleidet oder in eine Decke eingewickelt abgegeben. Die meisten sind nicht älter als 24 Stunden

Fast immer sind sie ohne ärztliche Hilfe auf die Welt gekommen. 

Das erkennt Carina an der Nabelschnur: Wenn ein Baby professionell entbunden wird, bindet ein Arzt oder eine Hebamme die Nabelschnur mit einer Nabelklemme ab. Bei Klappenkindern wird oft eine Schnur benutzt, manchmal gar nichts. Das ist nicht weiter schlimm, das Blut versickert irgendwann, wie bei jeder anderen Wunde auch. 

Einmal hat Carina erlebt, dass neben einem Baby in der Babyklappe ein Zettel lag. Die Mutter erklärte, warum sie das Kind nicht aufziehen kann, es lag vor allem an finanziellen Gründen. Sie wünschte sich für ihr Kind eine bessere Zukunft.

In diesem Moment war Carina froh, dass es die Klappen gibt. 

Es gibt auch Kritik an Babyklappen

Kritikerinnen und Kritiker sagen, man würde die Kinder ihrer Identität berauben, wenn man den Müttern erlauben würde, sie anonym abzugeben. Die Erziehungswissenschaftlerin und Adoptionsexpertin Christine Swientek glaubt außerdem, dass die Klappen die Situation nicht verbessern: Eine Mutter, die in einer so ausweglosen Situation sei, würde nicht auf die Idee kommen, die nächste Babyklappe aufzusuchen, sondern das Kind letztlich doch einfach aussetzen oder töten. (Deutschlandfunk )

Carina ist anderer Meinung: "Manchmal bringen Menschen Kinder eben in Notsituationen auf die Welt. "

"Die Hauptsache ist für mich, dass das Kind lebt."

Carina

Zahlen zu Gewalt an Neugeborenen

In Deutschland wird keine Statistik darüber geführt, wie viele Neugeborene jedes Jahr ausgesetzt oder getötet werden. Eine Recherche von Terre des Hommes  hat allerdings ergeben, dass es 2016 14 dokumentierte Fälle von Kindstötung und Lebendaussetzungen von Neugeborenen gab. Das statistische Bundesamt hat im Jahr 2015 14 tätliche Angriffe – die Vernachlässigung und Verlassung durch Eltern beinhalten – bei Kindern unter einem Jahr verzeichnet.

Man sagt, dass Kinder in den ersten Stunden nach der Geburt vor allem im Arm der Mutter ruhig sind. Dort hören und fühlen sie ihren Herzschlag. Den Rhythmus des Herzens der Mutter kennen sie noch aus dem Bauch. 

"Ein Herzschlag ist individuell, bei Männern und Frauen schlagen die Herzen mit unterschiedlichen Frequenzen", sagt Carina. "Die Töne sind verschieden."

"Ich denke schon, dass ein Baby spürt, wenn es nicht mehr bei seiner Mutter ist."

Carina

Carina sagt, sie behandle diese Kinder nicht anders, als andere Babys. "Mir geht das Schicksal oft nahe, aber ich versuche, das emotional für mich zu verarbeiten. Das musste ich in meinem Beruf erst lernen."

In der Rettungsstelle wird das Kind im Behandlungszimmer von einem Arzt untersucht. Carina assistiert. Da es vermutlich die erste ärztliche Untersuchung ist, läuft sie ähnlich ab wie eine Kreissaal-Untersuchung direkt nach der Geburt. Der Arzt überprüft, ob das Kind fünf Finger an jeder Hand hat, fünf Zehen an jedem Fuß. Kopfumfang, Körperlänge und Gewicht werden vermessen. 

All das notiert er in eine Akte, die für das Kind angelegt wird, wie bei jedem anderen Patienten auch. Bei der Frage nach der Anamnese – der Krankengeschichte – wird "Kind aus der Klappe" vermerkt. Über seine Geschichte oder die der Eltern weiß der Arzt nichts. Wenn die Mutter keinen Vornamen hinterlassen hat, denken die Krankenpflegerinnen sich einen aus. Dieser steht dann auf der Akte. Wie Carina das kleine Mädchen genannt hat, darf sie aus Datenschutzgründen nicht sagen.

Babyklappe in Potsdam: Im besten Fall kommen die Klappenkinder schon nach ein bis zwei Tagen in eine Pflegefamilie

Babyklappe in Potsdam: Im besten Fall kommen die Klappenkinder schon nach ein bis zwei Tagen in eine Pflegefamilie

Foto: dpa/Bernd Settnik

"Ich habe ihr einen Body angezogen, darüber einen Strampler, beides in Weiß", erinnert sie sich. "Um das Handgelenk binden wir den Babys ein Plastikband, je nach Geschlecht mit blauen oder rosa Entchen. Darauf steht der Name, den wir ihm gegeben haben." Das Mädchen hat das Band mit den rosa Enten bekommen.

Nachdem es angezogen ist, hat Carina das Mädchen in eine Decke gewickelt. Sie nahm sie in den Arm, griff nach ihrer Akte, dem ersten Dokument, das ihre Existenz beweist, trägt sie aus der Rettungsstation, durch eine große Halle, rüber in die Säuglingsstation. Dort kümmern die Krankenpfleger sich weiter um sie. 

Es war das letzte Mal, dass Carina das Mädchen gesehen hat.

Im besten Fall kommen die Klappenkinder schon nach ein bis zwei Tagen in eine Pflegefamilie. Das Jugendamt wird eingeschaltet, um die nächsten Schritte in die Wege zu leiten. Und findet schließlich, wenn alles gut läuft, neue Eltern für sie. 

Mehr lesen über