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Antisemitischer Anschlag in Halle Der Einzeltäter, der nicht allein war

Der tödliche Angriff von Halle zeigt die Dimension rechtsextremer Gewalt in Deutschland. Und er macht deutlich: Solche Einzeltäter mögen ohne Komplizen handeln - allein sind sie deshalb aber nicht.
Tatort in Halle

Tatort in Halle

Foto: CLEMENS BILAN/EPA-EFE/REX

Als der Täter von Halle am Mittwochmittag im Zentrum der Universitätsstadt aus dem Auto stieg, da war es wohl schon zu spät. Zu spät, um ihn von dem Vorhaben abzubringen, am wichtigsten jüdischen Feiertag die Synagoge zu stürmen und Menschen zu erschießen.

Der Angriff auf das Gotteshaus scheiterte, Schüsse fielen trotzdem: Zwei Menschen tötete der Angreifer, mehrere weitere verletzte er. Was genau bewog diesen Mann zu dieser Tat, und was für eine Tat war es eigentlich genau - ein Amoklauf, politischer Terror, eine Art mörderischer Online-Livestream?

Womöglich war der Anschlag von Halle alles zusammen.

"Man kann das nicht ganz klar trennen", sagt der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent, der in Jena das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft leitet. Primär handele es sich um einen gezielten Anschlag auf einen Ort des jüdischen Lebens in Deutschlands und auf Migranten - andererseits habe der Täter eine Passantin relativ willkürlich hinterrücks erschossen und auch auf andere gezielt, die zufällig in der Nähe waren.

Video: "Die Tür war stärker als seine Waffe"

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Der Täter wurde nach kurzer Flucht gefasst - es handelt sich um Stephan Balliet, 27, aus Sachsen-Anhalt. Am antisemitischen Hintergrund der Tat besteht kein Zweifel. Vergeblich versuchte der Täter, sich den Weg in die Synagoge freizuschießen. In Äußerungen während seiner Tat, die er live streamte, machte er aus seinem Antisemitismus keinen Hehl und leugnete unter anderem den Holocaust.

Quent zufolge steht die Tat in der Tradition eines jahrhundertealten antisemitischen Narrativs, demzufolge die Juden für alles Schlechte verantwortlich seien. Wie verbreitet solche Ressentiments sind, was Ursachen und Folgen sind, zeigte sich zuletzt gehäuft:

Für den Attentäter von Halle spielten laut Quent wohl auch rassistische und antifeministische Ideen eine erhebliche Rolle - und das Konzept des "einsamen Wolfs", das der Rechtsextremist Tom Metzger in den Neunzigerjahren verbreitet hatte. Quent zufolge sehen Rechtsextremisten darin einen "allein handelnden Attentäter, der Angst und Schrecken verbreitet, Minderheiten vernichtet und schließlich einen Bürgerkrieg anzettelt."

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Sachsen-Anhalt: Tödliche Schüsse in Halle

Foto: Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa

Zugleich, so Quent, war der Täter von Halle Teil eines großen virtuellen Netzwerks: Dass er die Tat live streamte und dabei Englisch sprach, zeigt demnach die Wichtigkeit dieser rechtsextremen "Internationale der Menschenhasser" für den Täter.

Die Tat von Halle habe zudem Elemente eines Amoklaufs, da die erschossene Passantin ein Zufallsopfer war. Eine solche Mischung aus Amoklauf und Anschlag habe es in Deutschland auch 2016 gegeben, sagt Quent: Damals tötete ein Schüler in einem Münchner Einkaufszentrum neun Menschen, er hatte es vor allem auf Menschen mit Migrationshintergrund abgesehen. Ob die Tat als Amoklauf oder als rassistischer Terror zu bewerten ist, darüber sind sich Experten uneins.

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Der Angriff von Halle hat laut Quent noch eine weitere Dimension: Gamification, "also die Inszenierung eines Anschlags wie ein Computerspiel". War dem Täter das sogar wichtiger als die Tat selbst?

Quent geht nicht davon aus. "Er hat sich den Anschlagsort und den Tag ja ganz bewusst ausgesucht - das spricht dafür, dass die antisemitische Position im Vordergrund stand." Ein im Internet kursierendes Manifest, das Ermittler nach ersten Erkenntnissen für authentisch halten, stützt diese Annahme: Darin bezeichnet der Täter Juden als bevorzugte Ziele.

Vieles daran erinnert an den Anschlag auf Moscheen im neuseeländischen Christchurch. Dort hatte im März ein Rechtsextremist 51 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt - auch diese Tat war vom Angreifer live im Internet gestreamt worden.

Solche Taten zu vermeiden, ist Quent zufolge schwierig, vor allem wegen der rechten Subkultur im Internet. "Das ist ein Milieu, das einerseits sowohl durch die Sicherheitsbehörden als auch durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz überhaupt nicht erfasst ist - und wir haben andererseits auch kaum Forschung zur Frage, wie die Radikalisierung dort verläuft."

Ein Ansatz könnten laut Quent Beratungsstellen sein, an die Menschen sich wenden könnten, wenn sie wahrnehmen, dass sich in ihrem Umfeld jemand etwa für den Bau von Waffen interessiert. Im Fall des Angriffs in Halle müsse es auch Warnzeichen gegeben haben: "Wenn man sich anschaut", sagt Quent, "wie systematisch er offenbar Waffen vorbereitet hat, dann ist es für mich schwer vorstellbar, dass da niemand etwas von mitbekommen haben kann."