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Frankfurter Ermittler: Uwe Fey und der Fall Tristan

Foto: Polizei/ picture-alliance / dpa

Fall Tristan Brübach Kommissar Fey und das Rätsel vom Liederbach-Tunnel

Ein Unbekannter tötete den 13-jährigen Tristan - bei keiner anderen Tat fand die Polizei vergleichbare Verstümmelungen. 20 Jahre später sucht der zuständige Frankfurter Ermittler noch immer nach Antworten.

Uwe Fey sitzt an seinem Schreibtisch im Polizeipräsidium Frankfurt am Main, Kommissariat 11, und blickt in den Taunus. Seine Laune könnte besser sein. Er ist HSV-Fan. Das Gefühl, das ihn erstmals seit Jahrzehnten beim ersten Spiel der Rückrunde in Augsburg beschlich, hat sich festgesetzt: Der Hamburger Traditionsverein steigt ab.

Fey ist ein zäher Typ, hartnäckig, unverdrossen. Das hat er in den vergangenen Jahren als Anhänger des HSV bewiesen und noch mehr in 40 Jahren als Polizeibeamter. Fast die Hälfte dieser Zeit kämpft er um die Aufklärung eines Verbrechens, das Frankfurt und die Region erschütterte: der Mord an Tristan Brübach, einem 13 Jahre alten Jungen, der am 26. März 1998 in der Nähe des Bahnhofs Frankfurt-Höchst getötet wurde.

Im Mai 2016 sah es so aus, als sei man Tristans Mörder auf die Spur gekommen. Eine andere Ermittlergruppe hatte Manfred Seel im Visier: einen Entrümpler, Familienvater und Serienmörder aus Schwalbach im Taunus. Die Ermittler sind davon überzeugt, dass Seel zwischen 1971 und 1993 fünf Frauen tötete, verstümmelte, Teile ihrer Leichen aufbewahrte. Seine dunkle Seite flog allerdings erst nach seinem Tod im Sommer 2014 auf.

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Frankfurter Ermittler: Uwe Fey und der Fall Tristan

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Seel, ein sadistisch veranlagter Mann mit sexueller Präferenzstörung, schnitt seine Opfer auf, sezierte sie fein säuberlich und entnahm ihnen Organe. Die Vorgehensweise des Tötens, das Verletzungsbild der Opfer, in einem Fall die säuberlich deponierten Schuhe der Toten - all das erinnerte an den Mord an Tristan Brübach.

Der Münchner Profiler Alexander Horn erstellte ein Täterprofil: Manfred Seel hatte sich seine Opfer bewusst ausgesucht; angeschlagene, hilflose, sich selbst überlassene, ausgegrenzte Personen ohne feste soziale Bindungen. Menschen, die nur wenige wirklich vermissten. Leichte Opfer. Auch das eine Parallele zum Fall Tristan Brübach.

Aber tötete der Frauenmörder Seel auch einen 13-jährigen Jungen?

Kommissar Fey hat keine Sekunde an diese Theorie verschwendet. "Das war eine Spur, ein Hinweis, aber der Verdacht hat sich nicht erhärtet", sagt er in seinem Büro und atmet tief durch. "Dass Manfred Seel Tristans Mörder ist, dafür gibt es keinen konkreten Verdacht." Damit bleibt der Fall ungeklärt und einer der wenigen, die Fey bis heute umtreiben.

Gestörte Sexualität

Fey blieb zwar der Anblick Tristans, wie er an jenem 26. März 1998 im Tunnel gefunden wurde, erspart: Die Kehle durchtrennt bis zur Wirbelsäule, Teile des Oberschenkelmuskels herausgeschnitten, die Hoden herausgeschält. Ein Ethnologe sprach von einer "Schlachtung".

Die Tatortfotos aber haben sich Fey, der erst nach einigen Monaten zum Ermittlerteam stieß, derart ins Gedächtnis gebrannt, als wäre er mit dem Erkennungsdienst vor Ort gewesen. Seit 16 Jahren arbeitet er nun federführend die Spuren im Fall Tristan ab, er hat die Bilder immer im Kopf. Tristan war so schlimm zugerichtet, dass er für die Beamten im Einsatz nur über den Namen auf seinen Schulheften zu identifizieren war.

Der Tatort: ein 100 Meter langer Tunnel des Liederbachs, finster und kühl, damals zugewuchert von Gebüschen und Gestrüpp, nur über schmale Trampelpfade erreichbar, die kurzen, steilen Hänge hinunter. Für Kinder war es das ideale Versteck, der perfekte Ort für eine Mutprobe: Wer traut sich in das feuchte, schwarze Loch?

Der Täter überfiel Tristan am helllichten Tag vor dem Tunnel, tötete ihn und ließ ihn im Flußbett ausbluten. Erst danach zerrte er ihn in die Dunkelheit des Tunnels, verstümmelte ihn. Die Tat dauerte nicht länger als 15 Minuten.

Fey und seine Kollegen haben in mehr als 80 Ländern nach vergleichbaren Verbrechen gesucht: Das Verletzungsbild ist weltweit einmalig, so hat noch kein anderer Täter getötet. Die Genitalien und das Fleisch nahm er mit, Analytiker werten es als Zeichen seiner gestörten Sexualität.

Die Mutter hatte sich das Leben genommen

Tristan Brübach lebte nicht weit entfernt im Stadtteil Unterliederbach. Ein aufgeweckter Junge mit trauriger Kindheit. Die Mutter, einst drogensüchtig, hatte sich 1995 das Leben genommen. Der Vater, der 2015 starb, hatte sich für seinen Job in einem Kiosk am Hauptbahnhof aufgerieben. Tristan war viel alleine, tröstete sich mit seinem Kaninchen Hoppelfried, vertrieb sich die Zeit vor seiner Playstation oder streunte auf der Straße herum.

Tristans unstetes Leben bietet Stoff für viele Legenden, die sich die Anwohner rund um den Tatort erzählen. Tristan habe mit Drogen gedealt, seinen jungen Körper an ältere Männer verkauft, vielleicht war er Zeuge krimineller Machenschaften und musste deshalb sterben. Die Leute werden nicht müde, ihre eigenen Ängste in den Fall zu projizieren. Jeder in Frankfurt-Höchst kennt das Verbrechen an Tristan Brübach, jeder meint wahre Details zum Fall zu kennen.

Polizeifoto Tristan Brübach

Polizeifoto Tristan Brübach

Foto: Polizei/ picture-alliance / dpa

Kommissar Fey und seine Kollegen der Mordkommission 3 ließen nichts unversucht: Sie nahmen von 14.500 Männern aus der Umgebung Fingerabdrücke, arbeiteten etwa 24.000 Spuren und Zeugenaussagen ab; manche haben Fey monatelang beschäftigt. Anhand mehrerer Zeugenaussagen wurde ein Phantombild erstellt: Es zeigt einen Mann mit blondem Pferdeschwanz.

Zwei Mitarbeiter der ehemaligen Justizvollzugsanstalt Höchst meldeten sich 2008 mit dem Hinweis, der Mann auf dem Phantombild habe dort eingesessen. Fey wertete die Akten aus von Gefangenen, die in Frage kamen und in Höchst inhaftiert waren. Aber er hatte nur Zugriff auf die Unterlagen derer, die auch dort entlassen worden waren. An die Akten der Häftlinge, die im Rahmen ihrer Freiheitsstrafe in ein anderes Gefängnis verlegt worden waren, kam er nicht heran.

Fey schickte an alle rund 400 Justizvollzugs- und Maßregelvollzugsanstalten in Deutschland das Phantombild verbunden mit der Frage, ob dieser Mann inhaftiert sei oder einst war: nicht einmal 80 Anstalten beantworteten seine Anfrage.

Ein Arzt hat einen Tipp, ein Gericht stoppt den Ermittler

Nach einem Fahndungsaufruf bei "Aktenzeichen XY ungelöst" meldete sich ein HNO-Arzt bei Fey und gab ihm den Tipp, er möge alle Krankenhäuser abklappern. Der mögliche Täter, der Zeugenaussagen zufolge beim Sprechen "näseln" sollte, könne eine Lippen-Kiefer-Gaumensegel-Spalte haben, so der Arzt. Dies würde bei allen Kliniken registriert. Doch das zuständige Amtsgericht hielt den Eingriff für unverhältnismäßig und lehnte aus Gründen des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte den Antrag ab, wonach Fey alle registrierten Patienten hätte überprüfen können.

Viel Zeit investierte der Ermittler auch in eine Frau aus Amerika, die Kontakt zu ihm aufnahm und ihren ehemaligen Ehemann im Verdacht hatte. Sieben Monate lang fütterte sie Fey geschickt mit detaillierten Tipps, bis er herausfand, dass die "gekränkte Ehefrau" ihren Ex aus Rache ans Messer liefern wollte; der Mann hatte mit dem Verbrechen an Tristan nichts zu tun. Die Frau musste ein Bußgeld zahlen wegen falscher Verdächtigungen.

Kommissar Fey ermittelt unbeirrt fort. "Dieser Fall muss geklärt werden!" Es klingt wie ein Hilferuf. "Irgendwas ist nicht richtig gelaufen, sonst hätten wir den Täter." Fey geht davon aus, dass Tristan und sein Mörder eine Beziehung zueinander hatten. "Ob eher lose oder enger, kann ich nicht sagen." Fey macht eine kurze Pause. "Aber ich bin mir sicher: Tristan hat seinen Mörder gekannt."

Der Täter habe gewusst, dass sich Tristan zu dieser Zeit am Höchster Bahnhof herumdrückte; dass man den Jungen dort finden und ihm auflauern konnte. Der Tatort, vor und im Tunnel, "war die versteckteste Stelle am Bahnhof Höchst, die es damals gab", sagt Fey. An jedem anderen Ort in der Umgebung sei das Entdeckungsrisiko größer gewesen.

Eineinhalb Jahre nach Tristans Tod öffneten Unbekannte sein Grab auf dem Friedhof Höchst, legten Erde und Blumen auf eine Plastikplane. War es sein Mörder? Ein Helfer?

20 Jahre nach der Bestattung wird das Grab nun aufgelöst. Eine Bürgerbewegung wird am 26. März wenige Meter von der Grabstelle entfernt einen Gedenkort errichten, wie es bereits einen am Schlossplatz Höchst gibt.

Kommissar Fey unterstützt das Gedenken, betont aber, dass die Polizei nichts damit zu tun habe. Ihn beruhigt es, dass er nicht der Einzige ist, den der Fall Tristan Brübach nicht loslässt. "Der Fahndungsaufruf bleibt bestehen", sagt Fey und blickt aus dem Fenster. Mord verjährt nicht.

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