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Polizeigewalt in Wien "Symptom eines politischen Rechtsrucks"

Anselm Schindler wurde in Wien von Polizisten unter einen Kleinbus gedrückt, der beinahe seinen Kopf überrollte. Der Aktivist wirft den Beamten "Hass und Gewalt vor". Die Polizei windet sich um eine Erklärung.

Anselm Schindler, 28, wohnhaft in München, ist nach Wien gereist, um von der Klimademonstration zu berichten, an der auch Greta Thunberg teilgenommen hat. Umwelt ist sein Thema, er engagiert sich für ein grüneres Kurdistan in der Organisation "Make Rojava Green Again". Hin und wieder berichtet er als freier Journalist.

In Wien möchte er am vergangenen Freitag Fotos und Videoaufnahmen machen, von Menschen, die für eine Verkehrswende demonstrieren, "für mehr und billigeren, am besten kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und mehr Fahrrad", wie Schindler sagt. Die Forderungen, daraus macht er kein Geheimnis, teilt er.

Als er auf dem Bürgersteig steht und eine Sitzblockade fotografiert, sprechen ihn Polizisten an. "Sie forderten mich und ein Dutzend anderer Leute auf, den Bürgersteig zu verlassen. Wir fragten warum und nach der rechtlichen Grundlage, aber sie brüllten nur." Schindler sagt, er sei zwei, drei Schritte weggegangen. Als die Polizisten weiter Druck machen, will er weggehen. "Ich war zwar nicht einverstanden mit den Forderungen der Beamten, aber ich leistete keinen Widerstand."

Ist das eine "Scheinhinrichtung"?

Umso verwunderter sei er gewesen, dass er plötzlich festgenommen wurde. Videoaufnahmen, die seit Montag im Netz kursieren und die Wiener Polizei in Erklärungsnot gebracht haben, zeigen, wie zwei Beamte Schindler zu Boden drücken und ihn mit dem Kopf unter einen Polizeibus legen. Ein Polizist gibt dem Fahrer ein Zeichen, der fährt daraufhin an - und im letzten Moment reißen die zwei Beamten Schindler vom Bus weg und verhindern somit, dass sein Kopf überrollt wird. Auf dem Video ist zu hören, wie die umstehende Menge aufschreit.

Seither steht der Vorwurf der Polizeigewalt im Raum, es finden deshalb Demos statt, Politiker mehrerer Parteien fordern Aufklärung, zumal am Wochenende ein anderes Video aufgetaucht war, das zeigt, wie ein Polizist einem am Boden liegenden Mann mehrfach in den Unterleib boxt und herumstehende Beamte demonstrativ wegschauen.

Im Internet ist von "Folter" die Rede, weil Schindler Angst eingejagt werden sollte. Der Begriff "Scheinhinrichtung" fällt, auch in mehreren Fernsehsendern. Schindler sagt, er sei verwundert gewesen, dass man ihn überhaupt festnehmen wollte und zu Boden drückte. "Ich habe ja überhaupt nichts gesagt oder getan." Dann sei alles ganz schnell gegangen. "Von einer Scheinhinrichtung mag ich nicht reden, dazu habe ich zu wenig mitbekommen. Ich lag ja auf dem Boden, jemand drückte mir sein Knie in den Rücken, und ich versuchte, Luft zu bekommen."

Klima-Demo: Eine Polizistin durchsucht einen Rucksack

Klima-Demo: Eine Polizistin durchsucht einen Rucksack

Foto: Herbert P. Oczeret/ apa/ DPA

Er habe aber sehr wohl bemerkt, wie der Wagen anrollte und er dann plötzlich weggerissen wurde. "Die Polizisten vermittelten uns die ganze Zeit, dass sie uns hassen und dass sie mir die Leviten lesen wollten." Er könne nachvollziehen, dass Polizisten ihre Arbeit machen müssten. "Aber sie nahmen überhaupt keine Rücksicht auf die körperliche Unversehrtheit der Menschen. Das war völlig unverhältnismäßig."

Er überlege nun, Anzeige gegen die Beamten zu erstatten. Für ihn sei klar, dass diese Gewalt ein "Symptom eines politischen Rechtsrucks" sei. Es gebe inzwischen "ein strukturelles Problem mit Willkür und Gewalt durch Behörden". Auf keinen Fall dürften Demonstranten sich davon einschüchtern lassen.

Kritik kommt auch von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Heinz Patzelt, Geschäftsführer von Amnesty Österreich, sagt, Österreich falle jetzt "offensichtlich in polizeiliche Steinzeiten zurück". Er macht nicht nur die betroffenen Beamten, sondern auch die Führungsebene dafür verantwortlich. Es gebe viele weniger gewaltsame Techniken, Leute festzunehmen, die Widerstand leisteten.

Klima-Demo in Wien am 31. Mai.

Klima-Demo in Wien am 31. Mai.

Foto:

Leonhard Foeger/ REUTERS

Schindler beispielsweise sei weder Terrorist noch Geiselnehmer gewesen, auch habe er keine Waffe gehabt. Daher sei das Verhalten der Polizei "überzogen, unangemessen und unverhältnismäßig". Zudem sei es ein "horrendes Signal an all die Schülerinnen und Schüler und alle anderen, die für den Klimaschutz demonstrieren", so Patzelt. "Ihnen wird jetzt vermittelt: Wenn ihr demonstriert, kann das gefährlich für euch werden."

Die Wiener Polizei windet sich derweil um eine Erklärung der Vorfälle. Weil ihr auch vorgeworfen wurde, ein Beamter habe einem Demonstranten die Hand gebrochen, was im Nachhinein nicht bestätigt wurde, schreibt sie auf Twitter, sie weise "die teils absurden Anschuldigungen aufs Schärfste zurück". Doch die durchaus nachvollziehbaren Fragen bleiben unbeantwortet: Warum wurde auf einen am Boden fixierten Demonstranten eingeprügelt? Und warum zerrte man Schindler unter einen Bus?

Die Polizei überprüft sich selbst

Auf mehrfache Nachfrage mehrerer Medien, darunter des SPIEGEL, teilt die Polizei jetzt mit: "Mittlerweile ist ein weiteres Video von dieser Szene veröffentlicht worden. Diese Videoperspektive zeigt tatsächlich eine gefährliche Situation. Unabhängig von der bereits eingeleiteten strafrechtlichen Überprüfung, wird dieser Vorfall im Zuge einer Evaluierung in die Einsatztaktik und das Einsatztraining einfließen." Die "absurden Anschuldigungen" würden sich auf die Wörter "Scheinhinrichtung" und "Folter" beziehen.

Über Konsequenzen für die beteiligten Polizisten schweigt der Polizeisprecher. Nur, dass ein Polizist sich "im Innendienst" befinde - derjenige, der auf den Demonstranten eingeschlagen hat -, teilt sie mit. Für "weitere dienstrechtliche Maßnahmen" sehe man derzeit keine Veranlassung. Die Staatsanwaltschaft Wien ermittele in den Fällen, man stehe "in engem Kontakt" mit ihr. Auf breite öffentliche Kritik, dass die Polizei Wien in diesen Fällen als Beschuldigte nicht selbst ermitteln könne, geht sie nicht ein.

Der Vizepräsident der Wiener Polizei, Michael Lepuschitz, sagte im ORF, er gehe bei dem, was Schindler widerfahren sei, davon aus, "dass das niemand absichtlich gemacht" habe: "Ich gehe davon aus, dass die Polizisten hier die Verpflichtung hatten, den Mann mal zu fixieren, zu Boden zu bringen. Und dass das zwei sehr unglücklich zusammenkommende Umstände sind, dass der Einsatzfahrer hier mit dem Dienstkraftfahrzeug wegfährt." Es sei ja niemand zu Schaden gekommen. Aber ja, "die Dramatik schaut verheerend aus".

Verurteilen würde Lepuschitz die beteiligten Beamten aber nicht. Er sei selbst viele Jahre Polizist auf der Straße gewesen und wisse, wie schwierig es sei, jemanden festzunehmen, der sich der Festnahme widersetze.