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Griechische Reaktion auf Flüchtlinge Im Ausnahmezustand

Hass und Gewalt auf Lesbos, der griechische Premier setzt das Asylrecht aus: Noch haben es nicht viele Geflüchtete aus der Türkei nach Europa geschafft. Aber Erdogans schamlose Strategie trägt erste Früchte.
Flüchtlingsboot an der Küste vor Lesbos: "Geht zurück in die Türkei"

Flüchtlingsboot an der Küste vor Lesbos: "Geht zurück in die Türkei"

Foto:

ARIS MESSINIS/ AFP

Wütende Schreie schlagen den Geflüchteten entgegen, als ihr kleines Gummiboot den Pier der malerischen Hafenstadt Thermi auf Lesbos erreicht. "Geht zurück in die Türkei", rufen aufgebrachte griechische Männer. "Verlasst die Inseln". Ein Glatzkopf schreit besonders laut.

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Die Männer, Frauen und Kinder auf dem Boot schauen ängstlich Richtung Pier, wo sich Hunderte Bewohner der Insel Lesbos versammelt haben, darunter offensichtlich Rechtsextreme. Irgendwann fangen die Griechen an, die Nationalhymne zu grölen. "Hymne an die Freiheit", heißt sie - die Migranten hingegen sind auf dem kleinen Boot gefangen, dürfen nicht anlegen.

DER SPIEGEL

Erst Stunden später schleppt die Küstenwache das Boot in einen anderen Hafen. Was dann folgt, ist der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung: Die griechischen Männer und Frauen greifen dicke Äste aus Holz, an den Küstenstraßen errichten sie Straßensperren, verhören Menschen, die sie nicht kennen. Ihr Ärger richtet sich gegen die Menschen, die sie so sehr hassen wie Flüchtlinge: die Mitarbeiter von NGOs - oder jeden, den sie dafür halten.

Auseinandersetzung am Pier: Rechtsextreme schlugen Journalisten zusammen und bedrohten NGO-Mitarbeiter

Auseinandersetzung am Pier: Rechtsextreme schlugen Journalisten zusammen und bedrohten NGO-Mitarbeiter

Foto:

STRINGER/ REUTERS

"Wer bist du? NGO?"

Rechtsextreme auf Lesbos

Noch am Pier werden zwei freie Journalisten zusammengeschlagen, ihre Kameras ins Wasser geworfen. Einen SPIEGEL-Reporter stoppen die Männer mit einer Straßensperre. "Wer bist du? NGO?", brüllen sie. An einer weiteren Straßensperre attackieren sie ihn mit Holzknüppeln durch das offene Autofenster. Polizei ist nicht in Sicht, sie hat zu diesem Zeitpunkt längst die Kontrolle über Teile der Insel verloren.

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Etwas mehr als 900 Flüchtlinge und Migranten schafften es am Sonntag und Montagmorgen aus der Türkei auf die ägäischen Inseln Lesbos, Samos und Chios. Das sind deutlich mehr als in den Tagen zuvor, als bei schlechterem Wetter kaum Geflüchtete ankamen, aber nicht viel mehr als an manchen Tagen im September - als an einem einzigen Tag 717 Migranten anlandeten. Zum Vergleich: 2015 kamen im Sommer teilweise mehr als 10.000 Flüchtende täglich. 

Gleichzeitig drängten ungefähr 15.000 Geflüchtete an der türkisch-griechischen Landgrenze gegen den Zaun. 9600 trieben die griechischen Grenzer nach eigenen Angaben mit Tränengas und Warnschüssen zurück. In automatisiert verschickten SMS-Nachrichten wurden Migranten gewarnt, die sich der Grenze näherten: "Versuchen Sie nicht, die Grenze illegal zu überschreiten", hieß es darin auf Englisch. Einige schafften es auch am Sonntag trotzdem wieder auf die europäische Seite.

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"Bitte helft uns"

Foto: BULENT KILIC/ AFP

Noch wichtiger als die realen Zahlen war aber wohl die Drohkulisse, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan aufgebaut hat. "Wir haben die Tore geöffnet", hatte er verkündet und dann Tausende Flüchtlinge und Migranten in Bussen an die Grenze fahren lassen. Sein Innenminister heizte die Stimmung am Sonntagmorgen weiter an. 76.358 Einwanderer hätten die Türkei über den Grenzübergang in Edirne verlassen, schrieb er auf Twitter - eine Übertreibung. 

Mit der schamlosen Strategie will die türkische Regierung offensichtlich europäische Konzessionen erpressen, nachdem sie sich im Syrienkrieg in Idlib in eine Sackgasse manövriert hat.

An der Mauer zur Türkei harren mehr als eine Million Syrerinnen und Syrer aus. Bisher lässt Erdogan sie nicht ins Land. Auch weil bereits 3,6 Millionen Syrer ins Land geflüchtet sind. Sie werden immer häufiger Opfer von rassistischen Attacken der türkischen Bevölkerung. 

Zumindest teilweise ging die türkische Taktik am Sonntag auf: Sie erzeugt Panik in Europa.

Lesbos gleicht ohnehin seit Wochen einem Pulverfass

Die Drohkulisse reichte aus, um Lesbos im Chaos versinken zu lassen. Die Insel gleicht ohnehin seit Wochen einem Pulverfass. Zuletzt hatte demonstrierende Inselbewohner griechische Polizisten von der Insel gejagt. Im siebenfach überfüllten Lager Moria leben 20.000 Geflüchtete unter unmenschlichen Bedingungen. 

Die zusätzlichen Boote am Sonntag ließen zumindest einen Teil der Bewohner die Kontrolle verlieren. Am Morgen blockierten sie zeitweise die Busse, die die Flüchtlinge ins Lager bringen sollten. Helferinnen trauten sich nicht mehr aus dem Haus. Journalisten konnten sich nicht mehr frei bewegen.

Auch der griechische Premier reagierte mit extremen Maßnahmen. Für 18 Uhr berief Kyriakos Mitsotakis eine Sitzung des nationalen Sicherheitsrates ein. Im Pullover leitet er die Sitzung in der Villa Maximos, seinem Amtssitz in der exklusivsten Gegend Athens. Zwei Stunden und vier Minuten später twittert er das Ergebnis: Die Abschreckung an den Grenzen werde maximiert. Griechenland wird ab sofort für einen Monat keine Asylanträge mehr akzeptieren.

Jeder Migrant, der illegal ins Land komme und sich nicht registriere, werde wenn möglich zurück ins Herkunftsland gebracht. Außerdem forderte Mitsotakis die schnelle Eingreiftruppe der EU-Grenzschutzagentur Frontex an. Der griechische Regierungssprecher Stelios Petsas sprach von einer "asymmetrischen Bedrohung der Sicherheit unseres Landes". Er kritisierte die Türkei, die mit der Öffnung ihrer Grenzen diplomatischen Druck ausüben wolle. Ankara sei damit "selbst zum Schlepper" geworden.

De facto schafft Mitsotakis damit für einen Monat das Recht auf Asyl ab, Griechenland gewährt keine individuellen Verfahren mehr. "Die Regierung untergräbt einen Eckpfeiler des Flüchtlingsgesetzes, der die Rückführung von Menschen verbietet, ohne ihnen ein faires Asylverfahren zu gewähren", sagt der griechische Asylexperte Spyros Apergis. Die Politik formalisiert die Praxis der illegalen Pushbacks, die in Griechenland schon länger stattfinden.

Recht auf Asyl ausgesetzt: Grenzübergang Kastanies

Recht auf Asyl ausgesetzt: Grenzübergang Kastanies

Foto: Giannis Papanikos/ AP

In einem Statement beruft sich die griechische Regierung auf den Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU. Er sieht eine Ausnahme vor für Ausnahmesituationen, wie sie Griechenland gerade erlebt. Allerdings muss laut dem Vertrag der Europäische Rat in Absprache mit der Kommission und dem Parlament Maßnahmen ergreifen.

Mitsotakis hingegen prescht nun ohne größere Umstände vor. Er setzt damit einen gefährlichen Präzedenzfall, der die Zukunft des Flüchtlingsschutzes insgesamt infrage stellt. Unweigerlich untergräbt er auch die Werte, die europäische Politiker gern in Festtagsreden verteidigen.

"Ohne die türkische Küstenwache können wir die Boote nicht aufhalten"

Griechischer Beamter

An der Landgrenze hält die griechische Festung bisher, auch weil die Griechen sie mit immer mehr Polizisten verstärken. Auf den Inseln in der Ägäis lassen sich die Flüchtlinge jedoch nicht einfach so zurückschlagen. Ob Erdogan mit seiner Drohung Erfolg hat, dürfte sich in den nächsten Tagen und Wochen wohl vor allem dort zeigen.

Die türkische Küstenwache reagiert einem griechischen Beamten zufolge nicht mehr auf Anrufe aus Griechenland. Stattdessen begleite sie die Flüchtlingsboote nur. "Ohne sie können wir die Boote nicht aufhalten", sagte der griechische Beamte. Zurückbringen kann die griechische Küstenwache die Geflüchteten ohne türkische Kooperation erst recht nicht. Sie darf nicht in türkische Gewässer eindringen. 

Die Radikalen unter den Inselbewohnern dürfte Mitsotakis extreme Maßnahme unterdessen ermutigt haben. Am Abend brannte auf Lesbos ein ehemaliges Erstaufnahmelager für Flüchtlinge. Meterhoch schlugen die Flammen. Sie wirkten wie ein Fanal. 

Mitarbeit: Antonis Repanas

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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