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Europa und Viktor Orbán Hilflos gegen den Westentaschen-Diktator

EU-Länder, EVP-Mitgliedsparteien und Europaparlamentarier positionieren sich gegen Viktor Orbán. Doch viel zu befürchten hat Ungarns Regierungschef nicht. Warum ist das so?
Von Markus Becker und Peter Müller, Brüssel
Ungarns Regierungschef Orbán: Im Windschatten der Coronakrise in Richtung Autokratie

Ungarns Regierungschef Orbán: Im Windschatten der Coronakrise in Richtung Autokratie

Foto: Tamas Kovacs/ MTI/ AP/ DPA

Das passiert, wenn man sich davor drückt, Verantwortliche zu benennen: Man wird von einem Autokraten bloßgestellt. Mittlerweile 17 EU-Mitgliedsländer fordern in einem gemeinsamen Aufruf, die EU-Länder sollten bei ihren Notfallmaßnahmen im Zuge der Coronakrise die Verhältnismäßigkeit wahren. "Wir sind besorgt angesichts des Risikos von Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und fundamentaler Grundrechte", schreiben die Regierungen, unter anderem Deutschland. Was sie nicht tun: Ungarn - oder gar Regierungschef Viktor Orbán - zu erwähnen.

Die Quittung bekamen sie prompt: Orbán ließ über sein Justizministerium verkünden, dass Ungarn den Aufruf voll und ganz unterstütze. "Notfallmaßnahmen sollen auf das begrenzt sein, was unbedingt nötig ist." Orbáns dreiste Volte zeigt, wie er die EU verhöhnt. Die Gemeinschaft, die Mitgliedstaaten, die anderen Mitglieder der Europäischen Volkspartei (EVP), die Europaabgeordneten: Sie können fluchen und schimpfen, fordern und drohen – am Ende macht Orbán, was er will, und kommt damit durch.

EU-Parlamentspräsident David Sassoli bereitet derzeit einen Brief vor. Er soll an Ursula von der Leyen gehen und die Kommission auffordern, im Rahmen des Rechtsstaatsverfahrens die neuen ungarischen Gesetze zu prüfen, die Orbán das Regieren per Dekret ermöglichen. Andere, wie Bundesaußenminister Heiko Maas oder Ex-SPD-Chef Martin Schulz fordern, Orbán das Geld aus den EU-Töpfen zu kürzen. Das klingt schneidig, aber ist es auch realistisch?

Ein Strafmechanismus im EU-Haushalt

Einige Staaten, darunter Deutschland, fordern einen neuen Mechanismus im Haushalt: Die Auszahlung von EU-Geldern soll an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards geknüpft werden. Auf Orbán könnte das durchaus Eindruck machen, zumindest theoretisch. Denn sollte der EU-Etat für die Jahre 2021 bis 2027 nicht bis Ende Dezember stehen, laufen unter anderem die Strukturförderungen aus. Sie machen in Ungarn fast vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Je länger der Streit um den Haushalt dauert, so das Kalkül der Orbán-Gegner, desto ungemütlicher wird es für ihn.

Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, dass sie selbst über eine Einschränkung der Zahlungen befindet und die Mitgliedsländer dies dann nur noch mit qualifizierter Mehrheit stoppen können. Dafür müssten Ungarn oder Polen 15 Mitgliedsländer auf ihre Seite ziehen, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung stellen – ein schwieriges Unterfangen.

Deshalb will vor allem Orbán das Verfahren umkehren: Mittelkürzungen sollen nur möglich sein, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Länder sie beschließt. Dieser Linie ist EU-Ratspräsident Charles Michel in seinem jüngsten Kompromissvorschlag gefolgt. Ein "schwerer taktischer Fehler" sei das gewesen, sagt ein EU-Diplomat. Michel habe damit "viel zu früh und ohne Not" den Rechtsstaatsmechanismus preisgegeben. Denn: Eine qualifizierte Mehrheit für einen Geldentzug gilt in Brüssel als nahezu ausgeschlossen.

In Berlin hält man es nun für schwierig, den Rechtsstaatsvorbehalt in seiner ursprünglichen Form wieder in den Haushalt zu bekommen. Dabei sei er die vielleicht letzte Chance, Ungarns Weg in die Autokratie noch aufzuhalten. Deshalb hofft man in Deutschland, den Niederlanden und einigen anderen Ländern nun aufs Europaparlament. Die Abgeordneten dort müssen dem Haushaltskompromiss der Mitgliedsländer mehrheitlich zustimmen.

Das könnte durchaus schiefgehen - diesen Eindruck zumindest erwecken die wütenden Reaktionen auf Orbáns Ermächtigungsgesetz. "Ungarn wird zur ersten Diktatur in der EU, und das werden wird nicht hinnehmen", sagte Iratxe Garcia, Chefin der Sozialdemokraten im EU-Parlament. Keine Regierung dürfe gegen die Grundwerte der EU verstoßen, "ohne Konsequenzen zu spüren".

"Wir sind kampfbereit", sagt der Grünen-Haushaltspolitiker Rasmus Andresen. Der von Ratspräsident Michel vorgelegte Budgetentwurf werde vom Parlament "auf jeden Fall abgelehnt". Sogar aus Orbáns eigener Parteienfamilie, der EVP, kommt diese Forderung. "Wir lassen uns nicht unter Zeitdruck setzen", sagt der rumänische Christdemokrat Siegfried Muresan. Ein Haushalt mit verwässertem Rechtsstaatsmechanismus sei unzureichend. "Und einem unzureichenden Haushalt werden wir nicht zustimmen."

"Das Europaparlament kann es nicht alleine richten, während die Mitgliedsländer mit dem Westentaschen-Diktator zusammenarbeiten, als sei nichts geschehen", sagt dagegen der Grünenpolitiker Bütikofer. Stattdessen müssen jetzt "alle EU-Entscheidungsträger gemeinsam eine Grenze ziehen" – am besten auf einem Sondergipfel zur Rechtsstaatsfrage.

Auschluss aus der EVP?

Ähnlich wie die EU-Regierungen verfassten am Donnerstag auch 13 Parteichefs vor allem aus Nordeuropa und den Benelux-Ländern einen Brief an den EVP-Vorsitzenden Donald Tusk. Ihre Botschaft ist klar: Orbán muss die EVP verlassen. Immerhin: Neben den kleineren Mitgliedsparteien hat auch Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis den Brief unterschrieben, ein EVP-Schwergewicht. Ob das etwas ändert?

Bislang ist Orbáns Fidesz-Partei nur suspendiert. Damit ist sie weiterhin Mitglied, nimmt aber keinen Einfluss auf die Geschicke der Partei. Ob es darüber hinaus zu einem Ausschluss kommt, ist nicht gewiss. Das liegt an zwei Faktoren.

  • Zum einen halten die großen EVP-Mitgliedsparteien wenig von einem Rauswurf. Dazu zählen die Konservativen in Spanien, Italien und Frankreich genauso wie CDU und CSU aus Deutschland. Auch wenn der einflussreiche CSU-Finanzpolitiker Markus Ferber zuletzt im SPIEGEL erstmals dafür plädierte, ein Ende der Mitgliedschaft von Fidesz zu prüfen, ist die Linie der Parteiführungen weiter abwartend. Angesichts der Coronakrise und der Folgen sei es geradezu absurd, jetzt viel Energie auf einen Rauswurf Orbáns zu verschwenden, heißt es in Berlin und München. "Die Leute denken doch, wir sind verrückt."

  • Zudem hilft es Orbán, dass die EVP nach den vergangenen Wahlen eine stark aus Osteuropa dominierte Parteienfamilie ist. EVP-Mitglieder regieren nicht mehr in Spanien, nicht in Frankreich, ihre Mitgliedspartei hat die Wahl in Irland verloren. Die neuen starken Männer in der EVP bewundern Orbán eher, mehr oder weniger offen. Der Bulgare Bojko Borissow hält immer mal wieder zu Orbán, dazu kommt Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, der selbsternannte Brückenbauer zwischen Ost und West. Mehrheiten gegen Orbán sind so nicht zu finden.

Was ist mit der EVP-Fraktion?

In der EVP-Fraktion im Europaparlament ist ein seltsames Schauspiel zu sehen: Obwohl die Fidesz-Partei in der EVP suspendiert ist, nehmen ihre Europaabgeordneten weiter an den Fraktionssitzungen teil. Kommissionschefin von der Leyen verdankt die Mehrheit bei ihrer Wahl auch den Stimmen von Orbáns Parlamentariern. Immerhin sind die Ungarn eine der größten nationalen Gruppen in der Fraktion.

Doch nun kommt auch in der Fraktion eine Debatte über einen Ausschluss in Gang. "Es ist höchste Zeit, dass wir das Vorgehen der Partei kopieren und die Fidesz-Abgeordneten in der Fraktion zumindest suspendieren", sagt die CDU-Europaparlamentarierin Sabine Verheyen. "Wenn die Coronakrise überstanden ist, müssen wir uns der Frage widmen, ob die Fidesz-Kollegen Mitglied unser Fraktion bleiben können", sagt auch ihr Kollege Dennis Radtke.

Für den stellvertretenden EVP-Fraktionschef Esteban González Pons, der Fraktionschef Manfred Weber derzeit vertritt, ist die Lage allerdings klar: "Solange Fidesz zur EVP gehört, werden die Fidesz-Abgeordneten auch Teil der EVP-Fraktion sein."

Was Orbán von der Diskussion in der EVP hält, machte er am Freitag gegenüber EVP-Generalsekretär Antonio López-Istúriz White klar. Er sei gerade damit beschäftigt, das Leben und die Gesundheit der Ungarn zu retten und nach der Krise die Wirtschaft wieder anzukurbeln, schrieb Orbán. Bedenken gegen sein Ermächtigungsgesetz wischte er beiseite:  "Bei allem Respekt: Ich habe keine Zeit dafür!"