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Erfundene Krankheit Biedermanns schiefe Babys

Dauerschreien, Schlaflosigkeit, asymmetrischer Kopf: Fünf Prozent aller Babys leiden angeblich am Kiss-Syndrom. Schulmediziner halten das Leiden für erfunden.

Gleich nach der Geburt hatte Daniela Reuschel aus Silberhütte im Harz das Gefühl, dass mit ihrer Tochter Lilly Marleen etwas nicht stimmte: "Sie hat fast nur geschrien, war unruhig und hat schlecht getrunken."

Der gestressten Mutter fiel außerdem die schiefe Haltung des Babys auf: "Sie lag immer ganz krumm im Bett, wie ein umgekehrtes C."

Was folgte, war eine Ärzte-Odyssee: Das werde sich schon auswachsen, beruhigte die Kinderärztin; auch vom Schmerztherapeuten fühlte sich die Familie nicht ernst genommen. Erst ein Orthopäde im knapp 150 Kilometer entfernten Weißenfels konnte Lilly Marleen helfen: "Der hat ihren Hals eingerenkt, danach war alles weg", erzählt Reuschel.

Erst später erfuhr sie von einer Osteopathin, dass ihr Kind am Kiss-Syndrom leide: an einer "Kopfgelenk-induzierten Symmetriestörung". Und die Mutter ist überzeugt: "Genau das hatte Lilly Marleen."

Als Entdecker des Leidens gilt der gelernte Chirurg Heiner Biedermann, der heute als sogenannter Manualmediziner arbeitet. Aus ganz Deutschland und sogar aus dem umliegenden Ausland pilgern Eltern in seine Praxis am Kölner Barbarossaplatz. Monatelang warten die Eltern auf einen Termin. Auch viele Osteopathen behandeln mittlerweile das Kiss-Syndrom. Schulmediziner sind entsetzt.

Die betroffenen Kinder, behauptet Biedermann, könnten eine Vielzahl von Symptomen zeigen: Neben der schiefen Haltung und dem asymmetrischen Schädel schrien sie viel, wollten nur auf einer Seite trinken, sie spuckten, sabberten oder rauften sich die Haare, sie schliefen schlecht oder blieben in der motorischen Entwicklung zurück.

Unbehandelt, so der Kiss-Guru, drohe im Schul- und Vorschulalter weiteres Unheil: das Kidd-Syndrom (Kopfgelenkinduzierte Dyspraxie und Dysgnosie). Damit einher gingen Kopfschmerzen, Lern-, Konzentrations- oder Wahrnehmungsstörungen, soziale Probleme oder Hyperaktivität.

All das, glaubt der Manualmediziner, habe einen gemeinsamen Ursprung: die Geburt. Gewaltige Kräfte wirkten auf den zarten Babyhals, wenn er sich auf die Welt winde. Dadurch verschöben sich die Halswirbel, und es komme zu einer Blockade in den komplexen Funktionssystemen, die Kopf und Körper miteinander verbinden.

Seine Therapie ist simpel - sehr zur Freude der Eltern: "Die Blockade muss weg." In der Praxis sieht das so aus: Biedermann legt seine Hände an den Hals des Kindes. Plötzlich läuft der Knirps knallrot an, brüllt - und das war's. Nach etwa zwei Wochen zeigt sich angeblich der Behandlungserfolg.

Seit Biedermann den Begriff in den neunziger Jahren erfand, hat das Kiss-Syndrom einen Siegeszug durch die Kleinkindszene angetreten. Vom ständigen Gebrüll zermürbte oder angesichts der schiefen Kopfform ihres Sprösslings besorgte Mütter tauschen sich in Krabbel- und Gymnastikgruppen über Symptome und Behandlungsmöglichkeiten aus. Hebammen und alternativ geprägte Kinderärzte reichen Adressen von Therapeuten weiter.

Sagenhafte vier bis fünf Prozent aller Kleinkinder leiden laut Biedermann unter dem Kiss-Syndrom. Manche Therapeuten vermuten sogar noch deutlich mehr Betroffene - kein Wunder angesichts der diffusen, weitgestreuten Symptomatik.

Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten der Behandlung nicht. Ein Besuch in Biedermanns Privatpraxis kann deshalb schon mal an die 150 Euro kosten. Und bei den Osteopathen ist wegen der häufigeren Behandlungen insgesamt oft noch weitaus mehr zu berappen.

Schulmediziner halten sowohl das Kiss- als auch das Kidd-Syndrom für groben Unfug. Kollege Biedermann habe die Krankheit nicht entdeckt, sondern schlicht erfunden.

"Es gibt kein Kiss-Syndrom", sagt etwa der Kinderneurologe Florian Heinen von der Ludwig-Maximilians-Universität München, der auch Präsident der Gesellschaft für Neuropädiatrie ist.

In der Tat ist das, was Biedermann als Therapieerfolg feiert, noch nie nach gültigen Standards wissenschaftlich überprüft worden. Entlarvend verläuft etwa die Nachuntersuchung bei einem Fünfjährigen, den der Doktor unter anderem wegen Hyperaktivität manualmedizinisch behandelt hatte. "Manchmal denke ich schon, es ist besser geworden", berichtet die Mutter, "aber ich bin mir nicht sicher."

Biedermann hingegen hat keine Zweifel an seinem Behandlungserfolg: "Der Junge ist immer noch unruhig, ganz klar, das ist sein Naturell. Aber er ist doch jetzt viel offener!" Vielleicht, empfiehlt der Arzt, sollte der Junge noch ein Musikinstrument erlernen. Als sich der Kleine schwungvoll auf die Untersuchungsliege legt, bricht Biedermann geradezu in Jubel aus: "Erinnern Sie sich an das letzte Mal?", fragt er die Mutter. "Da war er so ängstlich. Und jetzt legt er sich von ganz allein hin. Jetzt hat er eine viel positivere Situation!"

Die Mutter strahlt.

"Das macht saumäßig Spaß!", frohlockt Biedermann nach der Untersuchung. Freude am Beruf, sagt er, sei für den Heilungserfolg ungeheuer wichtig. "Aus einem traurigen Arzt", zitiert er seine Lieblingslebensweisheit, "kommt kein fröhlicher Furz." Studienergebnisse sind für ihn weniger wichtig.

Doch woran leiden all die Kinder wirklich, die mit dem Verdacht auf Kiss in die Praxen strömen? Die Wahrheit ist meist deutlich vielschichtiger, als es Biedermann suggeriert. "Wenn nach der Geburt auffällig viel schreien, hat das nichts mit einer Blockade von Halswirbeln zu tun", sagt der Orthopäde Ralf Stücker vom Kinderkrankenhaus in Hamburg-Altona.

Die tatsächliche Erklärung: Wenn es gegen Ende der Schwangerschaft eng wird in der Gebärmutter, bleibt vielen Kindern nichts anderes übrig, als immer zur selben Seite zu schauen. Diese Haltung behalten sie oft auch nach der Geburt bei. "Das fühlt sich an wie ein steifer Hals", erläutert Stücker, "das ist natürlich nicht angenehm."

Verstärkt werde die Fehlhaltung dadurch, so der Orthopäde, "dass den Eltern heute richtig eingebimst wird, die Kinder bloß immer auf den Rücken zu legen". Aus Angst vor einem plötzlichen Kindstod wagen es viele Eltern kaum noch, ihr Kind auf den Bauch zu lagern. So entsteht laut Stücker tatsächlich der für das angebliche Kiss-Syndrom typische einseitig abgeflachte Schädel.

Meist kann den Kindern aber einfach geholfen werden, indem man sie hin und wieder auf den Bauch oder auf die Seite legt. Sobald die Kinder älter und mobiler würden, so Stücker, wachse sich das Problem oft von selbst aus - so ist es wenig überraschend, dass die Kiss-Therapien tatsächlich Heilerfolge zu zeigen scheinen.

Besonders verwerflich findet der Orthopäde, dass zu einer Kiss-Diagnose meist auch ein Röntgenbild gehört. "In so frühem Kindesalter sieht man fast nichts auf den Bildern, da die Halswirbelsäule vor allem aus Knorpel besteht", sagt Stücker. "Dafür werden die Kinder unnötigerweise einer Strahlenbelastung ausgesetzt."

Eine weitere Gefahr: Steht die Mode-Diagnose Kiss erst einmal fest, werden schwerwiegende Krankheiten leicht übersehen. Dauerkopfschmerzen etwa können in seltenen Fällen auch auf einen Hirntumor hinweisen. Und hinter einer verzögerten Entwicklung steckt womöglich eine Stoffwechselstörung oder Behinderung.

"Wenn eine Differenzierung aufgegeben wird zugunsten einer einfachen Diagnose", warnt Kinderneurologe Heinen, "dann liegt das nicht im Interesse der Kinder."