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Erdbevölkerung Das Ende des Wachstums

Forscher legen eine Hochrechnung zur Entwicklung der Erdbevölkerung vor: Die Zeit des endlosen Wachstums ist vorbei. Auch Deutschland muss sich auf Veränderungen einstellen.
In 183 von 195 Ländern wird die Geburtenrate niedriger ausfallen, glauben Forscher

In 183 von 195 Ländern wird die Geburtenrate niedriger ausfallen, glauben Forscher

Foto: gulfu photography/ Getty Images

Auf der Welt wird es immer enger, weil die Bevölkerung wächst und wächst und wächst - so lautet ein weit verbreiteter Irrtum. Zumindest langfristig wird die Bevölkerungszahl sinken, sagen Forscher. In einer neuen Prognose werden sie konkreter und kündigen für die Zukunft massive Umwälzungen an.

Demnach erreicht die Erdbevölkerung um das Jahr 2064 mit 9,7 Milliarden Menschen ihren Höchststand. Danach wird sie deutlich schrumpfen. Am Ende des Jahrhunderts leben rund 8,8 Milliarden Menschen auf dem Planeten. Das sind etwa zwei Milliarden weniger als voriges Jahr von den Vereinten Nationen vorhergesagt. Die Zahlen stammen vom Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington in Seattle und wurden im Fachblatt "The Lancet"  veröffentlicht. Derzeit leben etwa 7,8 Milliarden Menschen auf der Erde.

Laut der Hochrechnung sinkt die Geburtenrate zum Ende des Jahrhunderts in 183 von 195 Ländern so stark, dass ihre Bevölkerungszahl nur durch Einwanderung stabil bleibt. In 23 Ländern - insbesondere in Europa und Asien - werden die Populationen im Vergleich zur Gegenwart um mehr als die Hälfte schrumpfen. Zu diesen Ländern zählen der Prognose zufolge Polen, die Ukraine, Italien, Spanien, Portugal, Japan und Thailand. Selbst die Bevölkerung Chinas wird den Berechnungen zufolge ähnlich stark zurückgehen - von 1,4 Milliarden im Jahr 2017 auf 732 Millionen im Jahr 2100.

Als Gründe für diese weltweite Entwicklung nennen die Forscher um IHME-Direktor Christopher Murray besseren Zugang zu Verhütungsmitteln und vor allem bessere Bildung für Mädchen und Frauen. Als Grundlage der Prognose verwendet das Team die Daten des Berichts "Global Burden of Disease" von 2017, der grundlegende Trends unter anderem zu Sterblichkeit und Gesundheit aufzeigt. Daraus leiten die Forscher Prognosen zu Sterblichkeit, Geburtenraten und Migration für das laufende Jahrhundert ab.

Hochrechnung für die bevölkerungsreichsten Länder 2100

Hochrechnung für die bevölkerungsreichsten Länder 2100

Foto: The Lancet

Die globale Geburtenrate von etwa 2,37 Kindern pro Frau im Jahr 2017 wird demnach bis 2100 auf einen Wert von 1,66 sinken - und damit deutlich unter die für eine stabile Bevölkerung erforderliche Marke von 2,1. Selbst in Afrika südlich der Sahara, wo der Wert derzeit bei 4,6 liegt, wird er dann bei 1,7 liegen.

Diese Trends verändern die demografische Struktur massiv: Auf der Erde des Jahres 2100 werden demnach 2,37 Milliarden Menschen im Alter über 65 Jahren leben - im Vergleich zu nur 1,7 Milliarden unter 20. "Ein dauerhafter globaler Bevölkerungsanstieg ist nicht mehr länger die wahrscheinlichste Entwicklung der Weltpopulation", wird Murray in einer Mitteilung zitiert. "Diese Studie bietet Regierungen aller Länder eine Gelegenheit, ihre jeweilige Politik in Bezug auf Einwanderung, Arbeitskräfte und wirtschaftliche Entwicklung zu überdenken, um die Herausforderungen durch den demografischen Wandel anzugehen."

Die demografischen Umwälzungen werden der Prognose zufolge an der globalen Wirtschaftsordnung rütteln: China wird die USA im Jahr 2035 als Land mit dem größten Bruttoinlandsprodukt (GDP) ablösen, dann allerdings unter seinem Bevölkerungsrückgang leiden. Die USA, die Ende des Jahrhunderts mit 336 Millionen mehr Einwohner haben als zurzeit (325 Millionen), könnten der Prognose zufolge jedoch 2098 wieder das weltweit größte GDP erreichen. Auch die indische Bevölkerung dürfte erst anwachsen, bis 2100 aber schrumpfen - von derzeit knapp 1,4 Milliarden über 1,6 Milliarden im Jahr 2048 auf knapp 1,1 Milliarden am Ende des Jahrhunderts.

85 Millionen Menschen in Deutschland

Deutschland, Frankreich und Großbritannien könnten den Kalkulationen zufolge ihre führenden Rollen unter den Top 10 der Wirtschaftsnationen beibehalten, während Italien und Spanien deutlich abfallen. In Deutschland erreicht die Bevölkerung im Jahr 2035 mit 85 Millionen ihren Höchststand und sinkt bis zum Jahr 2100 auf etwa 66,4 Millionen ab. Die Geburtenrate wird bis dahin im Vergleich zur Gegenwart (1,39) nur leicht auf 1,35 sinken.

"Für Länder mit hohem Einkommen und niedrigen Geburtenraten sind die besten Lösungen, um die derzeitige Population, Wirtschaftswachstum und geopolitische Sicherheit zu erhalten, offene Einwanderungsregelungen und eine Sozialpolitik, die Familien darin unterstützt, ihre gewünschte Kinderzahl zu haben", erläutert Murray. Zudem sollten Frauenrechte auf der Agenda jeder Regierung oberste Priorität haben.

Nur zwei Erdregionen haben den Forschern zufolge im Jahr 2100 eine größere Bevölkerung als derzeit. In Afrika südlich der Sahara leben dann mit gut drei Milliarden fast dreimal mehr Menschen als heute. Und in der Region Nordafrika und Vorderasien gibt es demnach statt heute 600 Millionen dann 978 Millionen Menschen.

"Falls die Vorhersagen von Murray und Kollegen nur halbwegs zutreffen, wird Zuwanderung für alle Nationen nicht nur eine Option werden, sondern eine Notwendigkeit."

Die Forscher räumen ein, dass ihre Prognosen unter anderem von der Qualität der ausgewerteten Daten abhängen. Die derzeitige Covid-19-Pandemie wird die Bevölkerungsentwicklung demnach nicht direkt verändern, könnte sich aber sehr wohl auf nationale Gesundheitssysteme weltweit auswirken.

"Falls die Vorhersagen von Murray und Kollegen nur halbwegs zutreffen, wird Zuwanderung für alle Nationen nicht nur eine Option werden, sondern eine Notwendigkeit", schreibt Ibrahim Abubakar vom University College London in einem "Lancet"-Kommentar .

Wolfgang Lutz, Direktor des Wiener Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, hält die Vorhersagen der Forscher zur Bevölkerungsentwicklung für belastbar. "Bevölkerungsprognosen sind tendenziell längerfristig valide als etwa Wirtschaftsprognosen", sagt der Demograf. "Geburtenraten und der Anstieg der Lebenserwartung sind langsame Prozesse über Jahrzehnte, die keine plötzlichen Sprünge machen." Migration allerdings unterliege auch kurzfristigen politischen Einflüssen, wie etwa die Entwicklung in Syrien gezeigt habe.

joe/dpa