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Europa > Corona-Zahlen in Schweden sind im Sinkflug: Schweden ein Vorbild für Deutschland?

Die Anti-Lockdown-Strategie von Anders Tegnell hat sich bewährt

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Viel gescholten wurde Schweden und sein Staatsepidemiologe Anders Tegnell, weil das nördliche EU-Land innerhalb der Hochphase der Corona-Epidemie einen anderen Weg als der Rest Europas ging. Doch inmitten einer zweiten Welle, wie sie vom Marburger Bund für Deutschland vorausgesagt ist, haben die Schweden die Krise besser gemeistert und stehen, im Augenblick, zumindest als die eigentlichen Gewinner dar.

Anders Tegnell, Nur für redaktionelle Verwendung, picture alliance / TT NYHETSBYR?N | Naina Hel?n J?ma/TT
Anders Tegnell, Nur für redaktionelle Verwendung, picture alliance / TT NYHETSBYR?N | Naina Hel?n J?ma/TT

Die Welt ist in der zweiten Coronawelle gefangen

Die USA sind im Corona-Ausnahmezustand. Die Zahlen steigen und setzen Donald Trump massiv unter Druck. Australien hat den zweiten Lockdown ausgerufen und Brasilien bleibt in den todbringenden Fängen des Virus. Die Weltwirtschaft liegt nach Covid-19 in Trümmern und bricht dramatisch um zehn Prozent ein – das schwerste konjunkturelle Desaster seit der Finanzkrise 2009 und der Nachkriegszeit. Viele Strände in Europa sind wie leergefegt. Venedig, das Symbol des Overtourism, wirkt plötzlich wie ausgestorben. Die Jugend ist ihrer Abend- und Freizeitkultur beraubt, Festivals und Festspiele abgesagt. Fußballfans sind nur noch Geisterseher.

Deutschland konnte – samt seinen Ausgangsperren, Kontaktbeschränkungen, Masken- und Abstandsregeln, mit seinen Coronastrategen Markus Söder, Armin Laschet, Jens Spahn und Helge Braun – trotz rigider Ausnahmepolitik und staatlicher Eingriffe in die Freiheitsrechte die zweite Welle nicht verhindern. Die Fallzahlen steigen und damit auch die Todesfälle.

Anders Tegnells Strategie hat sich bewährt

Während die Bundesrepublik mit einer zweiten Coronawelle kämpft, die das Land wie einst die Flüchtlingskrise 2015 immer weiter spaltet, scheint die Strategie des schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell aufzugehen. Der 64-jährige Tegnell ist das nordische Gesicht an der Coronafront, aber eben nicht im Stil des smarten deutschen Virologen Christian Drosten, sondern eher wie ein römischer Gladiator, der seinem tödlichen Gegenüber nicht ausweicht, sich nicht versteckt, sondern ihm kampfesmutig die Stirn bietet, klar und kantig argumentierend. Für diese Taktik wurde Schwedens Staatsepidemiologe lange Zeit wie ein Aussätziger behandelt, für den ethische Aspekte keine Rolle im Kampf gegen das Coronavirus spielten. Er habe fahrlässig agiert, Menschenleben aufs Spiel gesetzt, eine Art Poker um die besonders vom Coronavirus betroffenen Altersgruppen gespielt, so die Vorwürfe. Sicherlich, Tegnell ist mehr Friedrich Nietzsche als Arthur Schopenhauer, ein Utilitarist, der abwägt, dem Triage nicht unbedingt einem ethischen Manko gleichkommt. Er ist einer, der auf Selbstverantwortung statt auf Bevormundung setzt, einer, der auf den gesunden Menschenverstand vertraut, anstatt wie in Deutschland auf eine Straf- und Verbotskultur. Von staatlichen Einschränkungen der Privatsphäre hält er wenig, auch von der  Maskenpflicht, die es in Schweden nach wie vor nicht gibt, während sich Deutschland wieder vermummt und Länder wie Nordrhein-Westfahen Masken-Muffeln in den öffentlichen Verkehrsmitteln mit 150 Euro Strafe bei Missachtung den Kampf ansagen, ist der studierte Arzt nicht überzeugt.

Schweden setzte von Anfang an auf Eigenverantwortlichkeit und Herdenimmunität

In der Frühphase des Coronaausbruchs setzte der schwedische Wissenschaftler, wie der britische Premier Boris Johnson, auf Herdenimmunität. Das Virus sei nicht aufzuhalten, es gelte aber die Kurve flach zu halten, um Krankenhäuser nicht zu überlasten, lautete die Maxime damals aus Schweden. Aber auch die sozialen Folgen hatte Tegnell stets im Blick: Die Einschränkungen sollten nicht zu streng sein, damit die Menschen auch bereit sind, diese über Monate hin zu akzeptieren. Und während Deutschland im März und April auf drakonische Maßnahmen pochte, plädierte Tegnell auf die je eigene Verantwortlichkeit des mündigen Bürgers, auf seine Einsicht zum Selbstschutz. „Das Wichtigste, was wir jetzt machen können, ist zuhause zu bleiben, wenn wir uns krank fühlen. Das sagen wir jeden Tag und werden das weiter tun, solange die Epidemie anhält, denn das ist die Grundlage für alles, was wir tun.“

Niedrige Fallzahlen, kaum Sterblichkeit

Die Schweden hatten auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie das öffentliche Leben nicht heruntergefahren, Schulen, Kindertagesstätten und Restaurants blieben geöffnet. Der Preis dafür war bitter. Das Land mit 10 Millionen Einwohnern hat fast 82.000 Corona-Infektionen und mehr als 5.700 Todesfälle zu beklagen. Ende Juni erreichte die Zahl der Neuinfektionen mit über 1800 einen Höchststand. Doch seit dem 9. Juli ist die Anzahl der mit dem Coronavirus-Infizierten nicht mehr über 500 gestiegen. Derzeit liegt die tägliche Zunahme der Corona-Fälle bei rund 300. Tendenz sinkend. Auch die Zahl der Corona-Todesfälle sank pro Tag bereits seit Mitte April kontinuierlich. Die Intensivpatienten in den Spitälern werden immer weniger. All dies geschieht in Schweden zu einer Zeit, in der die ganze Welt vor einer zweiten Welle zittert.

Schweden kommt besser durch die Coronakrise als andere Länder mit Lockdown

Wie es derzeit aussieht, kommt Schweden besser aus der Coronafalle als andere Länder, die einen strengen Lockdown verordneten. Und das ist auch der liberalen Strategie des krisenerprobten Spezialisten für Infektionskrankheiten zu verdanken, der sich seine Meriten an den Infektionsherden dieser Welt buchstäblich im Schweiße seines Angesichts verdiente. „Mr. Corona“, wie Tegnell in seiner Heimat auch genannt wird, wird derzeit wie ein Volksheld gefeiert. Der Mann, der hemdsärmlig im T-Shirt und verstrubbelt und unprätentiös daherkommt, ist kein Pharisäer mit Elitebewusstsein, der am unbedingten Buchstaben festklebt, kein Apokalyptiker mit Weltuntergangsstimmung, sondern ein handfester Pragmatiker, der auch den Mut hat, Fehler einzugestehen. Noch Anfang Juni hatte Schwedens Chef-Epidemiologe Verbesserungspotenzial  beim vergleichsweise lockeren Corona-Kurs der Regierung eingeräumt. Und selbst Mitte Juni bereute er in einem Interview einen Teil seiner Strategie im Umgang mit dem Coronavirus. Der Schutz vor einer Ansteckung der Älteren in schwedischen Senioreneinrichtungen sei gescheitert und die Todesrate „schrecklich“. „Wir dachten vermutlich, dass unsere alters-segregierte Gesellschaft uns erlauben würde, eine Situation zu vermeiden wie in Italien, wo verschiedene Generationen häufiger zusammenleben. Das erwies sich aber als falsch.“

„Wir haben nicht so viel falsch gemacht“

Im August sind Zweifel und die berechtigte Selbstkritik verblasst. Tegnells Strategie ist aufgegangen und vielleicht wegweisend für andere Länder in der Coronakrise. Die Isolation alter und kranker Menschen, den Risikogruppen, war eines seiner Primärziele, sonst sollte Normalität den Alltag bestimmen. Distanz zu wahren und auf die Hygienemaßnahmen zu achten, waren Tegnells Credos von Beginn der Pandemie an, eine gezielte passive Immunisierung das Ziel. So ist er Anfang August, und die Zahlen geben ihm derzeit recht, überzeugt, dass Schweden nicht viel falsch gemacht hat. „Ich denke, es war ein großer Erfolg“, sagt Tegnell in einem Interview des Portals „unherd.com“ über seine Strategie. „Wir sehen jetzt schnell sinkende Fälle, wir hatten kontinuierlich funktionierende Gesundheitsversorgung, es gab zu jeder Zeit freie Betten, nie Gedränge in den Krankenhäusern, wir konnten Schulen offen halten, was wir für äußerst wichtig halten.“

Der Lockdown ist nicht die Patentlösung

Besorgt hingegen ist Tegnell derzeit über den weltweiten Infektionsanstieg. Doch den kritischen Stimmen zu seiner eigenen Coronastrategie hat er vorerst den Wind aus den Segeln genommen. Während in den Lockdown-Staaten große Nervosität im Angesicht der weiten Welle ausbricht, sind die Schweden weitgehend durchimmunisiert. Setzte man in Europa auf massenhafte Kontaktsperren zeigt der Fall von Schweden, dass es auch anders geht. Und während der Lockdown in Deutschland die Wirtschaft in den Keller schickte, die häusliche Gewalt proportional zur Quarantäne anstieg, die verordnete Einsamkeit buchstäblich die Seelen zerfraß, kam es in Schweden nicht zur dramatischen Eskalation von psychischem Leid. Selbst die schwedische Wirtschaft hatte mit dem Verzicht auf einen Total-Lockdown nur eine kleine Delle abbekommen. Das Land muss nur mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um nur 1,5 Prozent rechnen. Deutschlands Wirtschaft hingegen brach um über 10 Prozent ein. Es ist ein eiskalter Konjunktureinbruch und zugleich die schwerste Krise der Nachkriegszeit.

Kein Wunder also, dass so mancher Schwede stolz auf seinen Staatsepidemiologen Anders Tegnell ist und sich das Konterfei des Coronakämpfers gern auf den Arm tätowieren lässt.

Die Fakten:

  1. Juli 2020 war der Stand für Schweden:

5.370 Tote

  1. August 2020 ist der Stand für Schweden:

5.743 Tote

Also um 373 oder etwa 7% mehr.

Weiterhin etwa 0,056% der Gesamtbevölkerung oder einer in 1.800.

Die Todesfälle nach Altersgruppen:

  • 00-29 Jahre: 10 ... 0,2%
  • 30-59 Jahre: 220 ... 3,8%
  • 60-69 Jahre: 395 ... 6,9%
  • 70-79 Jahre: 1.237 ... 21,5%
  • 80-89 Jahre: 2.386 ... 41,6%
  • Über 90 Jahre: 1.496 ... 26%

Die Behandlung in Intensivstationen nach Altersgruppen (Gesamt 2.520):

  • 00-29 Jahre: 115 ... 4,5%
  • 30-59 Jahre: 1.042 ... 41,3%
  • 60-69 Jahre: 759 ... 30,1%
  • 70-79 Jahre: 498 ... 19,8%
  • 80-89 Jahre: 102 ... 4,1%
  • Über 90 Jahre: 4 ... 0,2%

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