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Ich habe furchtbare Angst davor, meine Eltern umzubringen

Menschen, die unter aggressiven Zwangsgedanken leiden, sind von der Angst besessen, sich selbst nicht vor grauenvollen Taten abhalten zu können.

Bild: tinanwang | Flickr |

CC BY 2.0

Es ist gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass du irgendwann mal neben jemandem gesessen hast und dir plötzlich vor dem inneren Auge aufgeblitzt ist, wie du der anderen Person ein Messer in den Hals rammst. Dieser Mensch war vielleicht ein Freund, dein Partner oder jemand anderes, dem du nicht unbedingt dabei zusehen möchtest, wie er am eigenen Blut ertrinkt. In der Regel ist es aber wirklich nur ein kurzes Aufflackern—ein Gedanke, der sofort wieder verschwindet.

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Derartige Gewaltfantasien können auch mal etwas länger anhalten, wenn du mit einem Haufen Arschlöcher in der U-Bahn festhängst oder der Kollege neben dir lautstark seine Nudelsuppe schlürft. In der Regel vergisst du solche Gedanken aber auch so schnell wieder, wie sie gekommen sind. Und wenn sie sich dann doch etwas hartnäckiger halten sollten, dann ist das auch kein Grund zur Sorge. Du weißt schließlich, dass du niemals wirklich jemanden umbringen würdest.

Aber nicht bei jedem sind diese Visionen so flüchtig. Für Menschen wie mich zum Beispiel. Ich leide seit über sechs Jahren unter aggressiven Zwangsgedanken—oder auch Harm OCD. Aggressive Zwangsgedanken sind eine psychische Störung, die von einer obsessiven Angst charakterisiert sind, etwas zu tun, von dem du weißt, dass es falsch ist—etwas Abscheuliches, Kriminelles oder Grenzüberschreitendes. Du bist von der Angst besessen, pädophil zu werden, einen Mord zu begehen oder jemanden zu vergewaltigen. Du hast Angst, einen unkontrollierbaren brutalen Ausraster zu haben, der dir beweist, dass du tief in deinem Herzen ein Monstrum bist.

Wichtig ist dabei allerdings, dass die Angst davor, sich vor einer grausamen Tat nicht abhalten zu können, nicht gleichbedeutend damit ist, diese wirklich ausüben zu wollen. Menschen mit aggressiven Zwangsgedanken laufen nicht eher als andere Menschen Gefahr, ihren Impulsen nachzugeben. Sie leben nur in der ständigen Angst davor, sie zu begehen.

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Für mich fing alles mit einer Panikattacke an. Ich war 17 und hatte bis dahin ein sorgenfreies und glückliches Leben geführt. Eines Tages drehte ich aber plötzlich durch und dieses Gefühl wollte Tag und Nacht nicht mehr weggehen. Ich spürte diese Angst, die du wahrscheinlich vor dem wichtigsten Bewerbungsgespräch deines Lebens fühlst. In meinem Fall gab es allerdings kein Bewerbungsgespräch. Ich hatte panische Angst und keine Ahnung warum. An diese Zeit erinnere ich mich heute nur noch wie durch einen Schleier. Wenn ich konnte, verbrachte ich den Tag schlafend im Bett. Ich war genervt von meinen Freunden und konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als meine Panik.

Eines Nachts dann, als ich schlafen wollte, kreuzte plötzlich ein Gedanke meinen Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde stellte ich mir vor, in die Küche zu gehen, mir ein großes, scharfes Messer zu holen, mich damit in das Schlafzimmer meiner Eltern zu schleichen und sie brutal im Schlaf zu ermorden. Dieser Gedanke war mein persönlicher Beweis dafür, dass ich jetzt offiziell verrückt geworden war. Meine Panik hatte ihr Ziel gefunden. Von diesem Augenblick an war ich von der Angst besessen, meine Eltern umzubringen.

Ich hatte zwischendurch immer wieder rationale Momente, in denen ich mir einrdete, dass ich das niemals fertigbringen würde. Diese Momente waren allerdings nie weit von der Frage "Aber was ist, wenn?" entfernt. "Was ist, wenn du heute Nacht verrückt wirst, die Kontrolle verlierst und dir wirklich ein Messer schnappst?" Das war alles, woran ich denken konnte. Im Schulunterricht schwitzte ich vor Panik, zu Hause beim familiären Abendessen tat ich alles, um kein scharfes Messer anfassen zu müssen.

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Was war, wenn mein Therapeut Unrecht hatte? Was war, wenn ich wirklich krank war und er es einfach nicht erkannt hatte?

Rückblickend erkenne ich, dass meine Panik so etwas wie eine Autoimmunkrankheit war—also, wenn das Immunsystem, das den Körper eigentlich schützt, ihn plötzlich angreift. Der Teil meines Unterbewusstseins, der eigentlich dafür da ist, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, vereinnahmte meine restlichen Gedanken und wirkte sich damit auf meine geistige Gesundheit und meine Zufriedenheit aus. Damals fehlte mir diese Perspektive. Ich war fest davon überzeugt, langsam aber sicher verrückt zu werden. Nach ein paar Jahren wusste ich einfach nicht mehr weiter und machte einen Termin bei einem Psychologen.

Ich war fest davon überzeugt, dass er mich sofort in eine Zwangsjacke stecken und in eine Anstalt sperren würde. Als Erstes erzählte ich meinem Therapeuten von meiner Befürchtung, schizophren zu sein. Nachdem ich allerdings einen zehnminütigen Monolog runtergerattert hatte, fiel mir auf, dass er noch immer einen extrem gelassenen Eindruck machte. Er versicherte mir, dass ich keinen Termin bei ihm gemacht hätte, wenn ich tatsächlich psychotisch wäre. Das war für mich auf jeden Fall eine große Erleichterung war. Er erklärte mir, was aggressive Zwangsgedanken sind, und dass es sich dabei um eine verhältnismäßig häufig auftretende Störung handelt. Laut einer Studie von 2007 leiden 78 Prozent aller Menschen mit einer Zwangsstörung unter sogenannten "Intrusionen". Und viele Menschen, die unter aggressiven Zwangsgedanken leiden, werden gar nicht erst diagnostiziert, weil sie ihre Gedanken nicht als Zwangsstörung wahrnehmen. 20 Minuten, nachdem mich mein Psychologe etwas beruhigt hatte, hatten wir einen Behandlungsplan für mich konzipiert und den nächsten Sitzungstermin vereinbart.

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Ich hatte also endlich meine Diagnose bekommen. Meine anfängliche Erleichterung sollte allerdings nicht lange anhalten. Ich dachte zwar nie wieder daran, meine Eltern umzubringen, dafür geisterten mir aber andere düstere Gedanken durch den Kopf. Ich hatte Angst, dass ich ein Serienmörder war, dass ich Sex mit Tieren haben werde, dass ich eigentlich pädophil bin. Trotz der Unterstützung durch meinen Psychologen bekam ich meine Gedanken und die damit einhergehenden Ängste nicht in den Griff. Was war, wenn er Unrecht hatte? Was war, wenn ich wirklich krank war und er es einfach nicht korrekt erkannt hatte? Wann immer ich einen Gedanken abschütteln konnte, nahm ein noch erschreckenderer seinen Platz ein.

Momentan habe ich vor allem Angst davor, tief in meinem Inneren eigentlich pädophil zu sein. Wenn ich ein Kind auf der Straße sehe, wird mein Kopf von Fragen geflutet wie: Warum habe ich das gerade angeschaut? Woran denke ich? Schlummert in mir ein unterdrücktes Verlangen? Ich habe eine kleine Schwester und es ist für mich unfassbar anstrengend, sich in ihrer Gegenwart aufzuhalten. Nicht wegen eines unterdrückten Verlangens—das weiß ich—, sondern wegen der Angst, vielleicht doch eins zu haben. Im Zuge der Therapie habe ich ein paar Methoden gelernt, mit dieser Angst umzugehen. So werde ich zumindest nicht komplett von ihr vereinnahmt. Wenn mich ein Gedanke überkommt, dann versuche ich nicht mehr, davon wegzurennen, sondern akzeptiere ihn als das, was er ist. Ich unterdrücke ihn dann nicht, sondern versuche stattdessen, mich davon zu lösen und zu schauen, wohin er mich eigentlich führt. Wenn ich ihn nicht unterdrücke, neutralisiert sich diese Vision in der Regel von selbst. Ich werde mir darüber klar, dass ich ein solches Verlangen gar nicht wirklich besitze, und die Panik ebbt allmählich ab.

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Mit anderen Menschen darüber zu reden, hilft auch. In einem Online-Forum über aggressive Zwangsgedanken habe ich die 27-jährige Lola kennengelernt, die mir von ihrer Störung erzählt hat. Genau wie ich leidet sie vor allem unter der Angst, pädophil zu werden. In ihrem Fall ist das aber besonders hart, da sie ein zweijähriges Kind hat. Während sie sich um ihren Sohn kümmert, lebt sie in ständiger Furcht davor, ihm wehzutun und nicht aufhören zu können. "Es ist unglaublich schwer, damit zu leben, aber ich weiß, dass es nicht passieren wird. Ich versuche Tag für Tag, damit umzugehen. In den letzten Monaten werde ich aber von einem weiteren Schreckensgedanken heimgesucht. Ich habe unglaubliche Angst davor, meinen Mann nicht mehr zu lieben. Ich beobachte ständig seine Handlungen und analysiere, wie ich darüber denke. Damit will ich feststellen, ob ich ihn noch liebe oder nicht. Den ganzen Tag über spiele ich unsere letzte Begegnung in Gedenken durch und seziere jeden einzelnen Augenblick davon. Warum habe ich nicht gelacht, als er diesen Witz gemacht hat? Warum habe ich mit ihm letzte Nacht nicht geschlafen? Ich weiß, dass ich ihn von tiefstem Herzen liebe, aber ich kann einfach nicht aufhören, das in Frage zu stellen."

Ich erkannte mich in ihren Ängsten wieder. Auch ich hatte mir in Beziehungen die gleiche Frage gestellt und es hat mich in den Wahnsinn getrieben. Ich bin weder verheiratet, noch habe ich Kinder. Meine Zwangsgedanken haben also bislang keine Familie ruiniert. Mit Lola über ihr Martyrium zu sprechen, hat mir dabei geholfen, meine eigene Situation besser zu verstehen.

Nachdem ich eine ganze Reihe von Therapeuten besucht hatte, hatte ich mehr oder minder mit dem Gedanken abgeschlossen, meine Zwangsstörung jemals wirklich loswerden zu können. Ich bin immer schon sehr skeptisch gegenüber Psychotherapien gewesen und habe mich stets geweigert, irgendwelche Medizin zu nehmen. Dementsprechend fühlte ich mich aber auch in meiner Krankheit gefangen. Vor Kurzem hat mir ein neuer Therapeut eine kognitive Verhaltenstherapie zur Behandlung von Zwangsstörungen und Panikattacken vorgeschlagen.

Teil dieser Therapie ist es, sich langsam und phasenweise den Ursachen der eigenen Ängste zu stellen. Gleichzeitig macht man Entspannungsübungen, um die körperlichen Auswirkungen der Panikattacken unter Kontrolle zu bringen. Zwischen den Sitzungen macht man außerdem Übungen zu Hausen, in denen man sich mit den Objekten der eigenen Angst auseinandersetzt. Man hält zum Beispiel ein scharfes Messer in der Hand oder hängt mit der kleinen Schwester ab, anstatt ihr panisch aus dem Weg zu gehen. Ich befinde mich momentan noch in einem Frühstadium dieser Therapie.

Die eine Sache, die ich gelernt habe, ist, dass deine dunklen Gedanken dich regelmäßiger heimsuchen und gewalttätiger werden, je mehr du gegen sie ankämpfst. Ich weiß, dass der erste Schritt darin besteht, einmal tief durchzuatmen und die Gedanken, die sich in meinem Kopf formen, zu akzeptieren. Meine Angst und meine Abscheu, die ich dabei verspüre, sind der Beweis dafür, dass mit meinem moralischen Kompass alles in Ordnung ist.