Porträt von Yvan Sagnet; junger Schwarzer Mann in blauem Anzug vor weißer Wand
Alle Fotos: Valeria Scrilatti

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The Power and Privilege Issue

Dieser junge Kameruner entfachte einen Aufstand gegen die Ausbeutung von Migranten

Als Feldarbeiter in Italien erlebte Yvan Sagnet moderne Sklaverei am eigenen Leib. Und ging in die Geschichte ein, weil er sich damit nicht abfand.
Leonardo Bianchi
Rome, IT

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Als Kind träumte Yvan Sagnet von Italien. 1985 in Kamerun geboren, wurde er früh zum Fan des Turiner Fußballclubs Juventus, der Stürmer Roberto Baggio war sein Held. 2007 wurde Sagnets Traum von Italien wahr: Er bekam ein Studienvisum fürs Polytechnikum Turin.

Das Studium war allerdings härter, als er es sich vorgestellt hatte. Er fiel bei zwei Prüfungen durch, die Universität kündigte sein Stipendium. Sagnet brauchte Geld für die Studiengebühren, und zwar schnell. Da erzählte ihm ein Freund von der Saisonarbeit als Tomatenpflücker in Süditalien.

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Sagnet überlegte nicht lange und reiste in die Kleinstadt Nardò in Apulien. Die Zustände dort schockierten ihn: In der Region lebten etwa 800 Tagelöhner in behelfsmäßigen Lagern. Die meisten waren Migrantinnen und Migranten, viele hatten keine Papiere. Aufseher, sogenannte Caporali, vermittelten die Arbeitskräfte an die Landwirte – und strichen nicht nur einen Teil der Löhne ein, sondern verlangten zusätzlich Geld für essenzielle Dinge wie Fahrten, Essen und Wasser.


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Auf den Feldern arbeiteten die Menschen bis zu 14 Stunden täglich in extremer Hitze und erhielten dafür weit weniger als den Mindestlohn. Arbeitsverträge gab es kaum. "Ich sah die dunkle Seite Italiens", sagt Sagnet. "Sie bestand aus Ghettos mit unmenschlichen Lebensbedingungen." Oft hätten die Bewohnerinnen und Bewohner auf dem Boden, in Zelten oder in wackligen Hütten geschlafen. "Das war nicht nur Ausbeutung, es war moderne Sklaverei", sagt Sagnet. "Die Caporali missbrauchten uns verbal und physisch. Wir mussten uns einfach wehren."

Sagnet sah nur eine vernünftige Antwort auf diesen Missbrauch: Streik. Im Sommer 2011 organisierte der damals 26-Jährige den "Aufstand von Nardò" mit. Es war der erste große Streik migrantischer Arbeitskräfte in Italien; zuvor hatte niemand gewagt, die Caporali und korrupten Bauern herauszufordern. Zwei Monate lang weigerten sich die Migrantinnen und Migranten zu arbeiten, um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erzwingen.

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Der Streik begann, als ein Caporal den Arbeitern befahl, die Tomaten nicht länger im Bündel zu pflücken, sondern einzeln. So mussten sie für denselben Lohn länger arbeiten – dabei verdienten sie ohnehin kaum etwas. Der Aufseher ließ nicht mit sich reden, da traten Sagnet und seine Mitstreiterinnen den Streik los.

Sie standen vor der Aufgabe, fast 1.000 Arbeiterinnen und Arbeiter verschiedener Sprachen, Kulturen und Herkunftsländer zu mobilisieren. "Viele Leute waren diese Zustände seit Jahren gewohnt ", sagt Sagnet. "Anfangs hielten die meisten einen Streik für sinnlos."

Um mehr Tagelöhner zu überzeugen, starteten Sagnet und die anderen eine Infokampagne." Wir mussten das Vertrauen der Leute gewinnen. Also hielten wir Treffen ab und erklärten unsere Ziele", sagt er. "Außerdem hatten wir eine ganz konkrete orientierte Strategie, um mit Außenstehenden ins Gespräch zu kommen."

Am ersten Streiktag organisierte Sagnet eine Straßensperre auf einer der Hauptverkehrsadern zwischen Nardò und der Stadt Lecce. So sollten die Lokalbehörden und die Bevölkerung von der Ausbeutung erfahren.

Im nächsten Stadium schnitten die Streikenden den Zugang zu den Tomatenfarmen ab. "Am Tag nach der Blockade zeichnete sich unser Erfolg schon ab", erklärt Sagnet. "Wir hatten die Produktion auf den Farmen zum Erliegen gebracht. Da wusste ich: Wir gewinnen."

Der Streik hatte einen großen Nachteil: Die Arbeiterinnen und Arbeiter bekamen kein Geld. "Ich war für sie so was wie ein Vermittler. Sie fragten mich, was ich tun würde, um Essen zu beschaffen", sagt Sagnet. "Die meisten Migrantinnen und Migranten hatten ja keine Angehörigen vor Ort, die sie versorgen konnten."

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Es durfte nicht zur Hungerkrise kommen. Also wandte sich Sagnet mit anderen Freiwilligen an die Öffentlichkeit. "Die Reaktion der Menschen in Nardò und ganz Italien war überwältigend", erinnert er sich. Vor dem Streik hätten die meisten keine Ahnung gehabt, wie groß das Unrecht in Italien war. "Die Spenden kamen aus dem ganzen Land. Jeden Abend brachten Menschen Reis, Milch, Brot. Das hat uns vor dem Verhungern gerettet."

Die Aktivistinnen bauten einen direkten Draht zu den Medien auf, um sich weitere Unterstützung zu sichern. Dabei betonte Sagnet, wie viel gerade Ausländerinnen und Ausländer riskierten, um gemeinsam mit Einheimischen das italienische Arbeitsrecht zu reformieren. "Unser Kampf zeigte Immigranten in einem positiven Licht", sagt er. "Dieses Anliegen betraf alle."

Sagnets Plan ging auf. Der Aufstand von Nardò setzte die Politik unter Druck. Nur eine Woche nach Streikende, im September 2011, verabschiedete das italienische Parlament das erste Gesetz gegen Caporali: Die Vermittler durften nicht länger einen Teil der Löhne einstreichen. Einige Bauern in Nardò führten freiwillig Arbeitsverträge ein, so stiegen für viele Menschen die Löhne. "Endlich hatte die Polizei die Grundlage, um gegen die Caporali vorzugehen" erklärt Sagnet. "Und am Ende der Erntesaison 2011 hatten 60 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter einen Vertrag – zuvor waren es drei Prozent."

"Die Menschen in den Ghettos haben noch nie von Gewerkschaften gehört."

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Der Staat ging tatsächlich gegen die ausbeuterischen Bauern und Caporali vor: 2017 verurteilten die Behörden zwölf Personen wegen Sklaverei und Menschenhandels.

Für Yvan Sagnet war der Streik erst der Anfang. 2012 schrieb er mit "Liebe deinen Traum" ein Buch über den Aufstand von Nardò und schloss sich der CGIL an, der größten Gewerkschaft Italiens. Mithilfe der CGIL untersuchte er die Arbeitsbedingungen im ganzen Land.

"Ich bat sie, einen neuen Ansatz zu versuchen: in die Felder gehen und die Ausbeutung mit eigenen Augen sehen." So sei deutlich geworden, dass Nardò kein Einzelfall war – dasselbe ausbeuterische System existierte landesweit.

Heute ist Sagnet der Vorsitzende von No Cap (No Caporalato), die Organisation kämpft gegen die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte. Nach seinen Schätzungen machen sie drei Fünftel der saisonalen Arbeiter aus. "Die Menschen in den Ghettos haben noch nie von Gewerkschaften gehört", sagt er. "Sie sprechen kein Italienisch, haben keinen Zugang zu Informationen. Für sie ist dieses Dasein normal." Werden sie nicht unterstützt, könne es keine Ermittlungen und Anzeigen geben.

Sagnet ist überzeugt, dass nur die Arbeiterinnen und Arbeiter etwas ändern können. Wenn sie sich nicht beteiligten, würden die Ausbeuter jedes Mal gewinnen. "Die Behörden arbeiten langsam, oder sie sind korrupt. Das hier ist ein Klassenkampf – und bisher hat nur die mächtige Seite gekämpft."

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