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Kontrollen angekündigt Bei Schulassistenzen auf Sparkurs

Schulassistenzen für behinderte Schüler sind aus Sicht von Betroffenen unverzichtbar. Die Mitarbeiter befürchten nun Kürzungen in den Förderklassen des Landkreises; auch Eltern und Lehrer sind alarmiert.
12.04.2022, 06:00 Uhr
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Bei Schulassistenzen auf Sparkurs
Von Bernhard Komesker

Landkreis Osterholz. Renate Sommer bangt um ihren Job. Darum will die Schulassistentin ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Sommer arbeitet in einer Förderschulklasse und befürchtet zum Ende des Schuljahrs eine regelrechte Kürzungswelle. Die Fachstelle für Teilhabe zweifele inzwischen jeden Bedarf bei den Schulassistenzen an und sorge mit unangekündigten Hospitationen für Verunsicherung bei Assistenten und Eltern, Lehr- und Zweitkräften. In den Kooperationsklassen des Kreisgebiets sowie am Hauptstandort Klosterplatz "droht ein Flächenbrand", warnt Sommer. Der Landkreis weist das zurück. Er erhofft sich weniger Stigmatisierung und mehr Inklusion (siehe Einklinker).

Auch Anne Hansen befürchtet, selbst gutachterlich bestätigter Förderbedarf könnte am Ende nicht ausreichen, um die Schulassistenz für ihr schwerst mehrfach behindertes Kind auch im kommenden Schuljahr zu sichern. Ein halbes Jahr lang habe es schon mal ohne Assistenz auskommen müssen; das drohe nun anderen Eltern ebenfalls. "Die ersten Anträge sind abgelehnt worden", hat Hansen erfahren. Ihr Eindruck: Der Landkreis nutze den Lehrermangel an den Förderschulen ohne Rücksicht auf das Kindeswohl für eine Agenda, bei der es mehr um Kostenträgerschaft als um Inklusion gehe.

"Kontinuität ist wichtig"

Ohnmacht und Sorge machen mürbe, sagt Hansen. "Dabei ist Kontinuität in der Begleitung so wichtig." Für behinderte Kinder gelte das besonders. Weil die Mutter Nachteile für ihr Kind und sich selbst befürchtet, wenn sie die Sparpolitik des Landkreises kritisiert, will auch sie ihren richtigen Namen nicht nennen. Anders Lörtz Gerken. Der Kreisstädter hat es zu Beginn des Schuljahrs erlebt, als die Assistenz für seinen Sohn Nils plötzlich wegfiel. Wie berichtet, genügte dessen Wechsel von der Förderklasse der IGS Grasberg in eine Klasse am Klosterplatz und aus war's.

"Nils und seine Assistentin waren gut aufeinander eingespielt", erinnert sich Gerken. Viele Wochen vergingen, bis die Nachfolge geregelt war. Nun geht der Alleinerziehende davon aus, im Sommer erneut zittern zu müssen. Er weiß, wie es sich anfühlt: "Erst kommt man sich veralbert vor, dann fällt man in ein Loch." Nils hat das Down Syndrom und ist 14 Jahre alt. Sein Vater beobachtet eine hohe Fremd- und Eigengefährdung: "Da trifft Pubertät auf Impulsivität."

Umso unverständlicher findet es Renate Sommer, dass die Kreis-Fachstelle Teilhabe den Schulassistenten gegenüber angekündigt habe, auf sie verzichten zu wollen. Die Förderlehrer seien Sache des Landes und gut genug aufgestellt. "Das ist definitiv falsch. Unterricht wird so nicht mehr möglich sein." Die Assistentin hat sich jetzt hilfesuchend ans Kultusministerium gewandt.

Akuter Fachkräftemangel

Auf Anfrage bestätigt Schulleiterin Christiane Aping, der akute Lehrermangel vor allem im Förderschulbereich sei ja kein Geheimnis; er betreffe auch den Klosterplatz. "Der Fachkräftemarkt ist eben leergefegt." Es fehlt der sonderpädagogische Nachwuchs. Die Stadtstaaten Bremen und Hamburg schnappen dem Land Niedersachsen viele Pädagogen weg. Aping betont, die persönlichen Assistenten seien aus ihrer Sicht keine Lückenbüßer, die das Kollegium auffüllen. Vielmehr gehe es darum, jedem Kind die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen, also Teilhabe und sogenannte Förderpflege. "Das ist wertvoll und unverzichtbar."

Zum Sparkurs des Landkreises, der zugleich ihr Schulträger ist, möchte sich Aping nicht äußern. Sie will nicht im Verdacht stehen, Eltern oder Schulassistenten zu manipulieren. Das schulische Angebot soll für sich sprechen: kleine Gruppen, individuelle Zuwendung, spezielle Ausstattung. Nur so viel: "Ich weiß, dass andere Landkreise in der Frage der Assistenzen anders vorgehen."

Mehr Miteinander gefordert

Damit sei vor allem "einvernehmlich" gemeint, erklären die seit Februar amtierende Konrektorin Sabine Vornweg sowie Ute Rohdenburg, Großmutter eines schwerst mehrfach behinderten Klosterplatz-Schülers. Während Rohdenburg an einer Förderschule in NRW tätig war, hat Vornweg zuletzt in Buchholz gearbeitet. Apings Stellvertreterin findet es erstaunlich, dass die Osterholzer Behörde offenbar so absolut gar nichts von der Möglichkeit halte, sogenannte Peer Groups nach deren individuellen Bedürfnissen zu beschulen.

"Ich kenne es so, dass neben Inklusion und Kooperation auch die Förderschule eine gleichberechtigte Säule darstellt", sagt Vornweg. Diese drei Säulen sollten miteinander für das Wohl der Kinder und Jugendlichen arbeiten und nicht gegeneinander ausgespielt werden, findet die Pädagogin. "Es gibt eben Schüler, die brauchen vom Tag der Einschulung an eine Eins-zu-Eins-Betreuung, damit ihre Teilhabe am Unterricht möglich wird." Bei den Förderplangesprächen im Kreis Harburg gehöre die Assistenz natürlich mit an den Tisch eines multiprofessionellen Teams.

"Assistenz ist Individualrecht"

Momentan gibt es aus Sicht von Eltern und Lehrern besonderen Nachholbedarf: Corona habe die Kooperation arg erschwert. Mit Rücksicht auf die vulnerablen Schüler blieben diese an den Regelschulen allzu oft unter sich, wenn sie nicht gleich ganz zu Hause blieben. Auch außerschulische Inklusionsprojekte des Hauptstandorts mit den BBS, im Schulcafé oder als Arbeitsgemeinschaft ruhten pandemiebedingt. Ute Rohdenburg äußert Unverständnis: "Ausgerechnet in dieser Situation droht der Landkreis Kürzungen an." Zu glauben, eine persönliche Assistenz schade einer guten Entwicklung des Kindes oder auch der Inklusion, sei weltfremd und unprofessionell.

Unterdessen betont die Konrektorin: Eine Unterrichtshospitation ersetze nicht ein über Tage und Woche erstelltes Fachgutachten. "Eltern sind keine Bittsteller", sagt Vornweg. Persönliche Assistenz sei ein Individualrecht. Ein Lernziel des Unterrichts könne durchaus darin bestehen, "in Begleitung Bus fahren zu lernen". Selbstständigkeit könne bedeuten, gemeinsam den Blick auf etwas zu richten. Die Vielfalt innerhalb der Förderschulklassen sei immens. Auch deswegen brauche es Personal.

Zur Sache

Förderschule (k)ein Auslaufmodell

Die Schule am Klosterplatz ist die letzte verbliebene Förderschule im Osterholzer Kreisgebiet. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf der geistigen Entwicklung; zu den geistigen und seelischen Handicaps kommen nicht selten Körperbehinderungen hinzu. Zurzeit zählt die Schule 120 Kinder und Jugendliche. Am Hauptsitz gibt es sechs Klassen, die mit bis zu acht Schülern voll besetzt sind; eigentlich liegt die Obergrenze bei sieben. Die Mehrzahl der Förderschüler wird in sogenannten Kooperationsklassen im Kreisgebiet unterrichtet.

Die Zahl dieser Koop-Standorte ist inzwischen auf neun gewachsen, denn parallel sind seit 2015 kreisweit drei Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen geschlossen worden - um Kosten zu senken und die Inklusion an den Regelschulen zu beschleunigen: die Dammschule Schwanewede (2015), die Christoph-Tornée-Schule Lilienthal (2016) und die Pestalozzischule Osterholz-Scharmbeck (2018, mit dem zweiten Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung).

Trotz der Schließung dieser drei Schulen und eines leichten Anstiegs der Geburtenzahlen hat der Klosterplatz kaum 30 Schüler mehr als 2016. Das bedeutet: Immer mehr Kinder mit Förderbedarf besuchen inzwischen eine Regelschule. Die Nachfrage nach den Förderklassen leidet darunter nicht; etliche Eltern bezweifeln, ob ein inklusives Angebot das Beste für ihr behindertes Kind ist. Üblicherweise wird eine Förderschulklasse von einer Lehrkraft und einer zweiten Fachkraft unterrichtet, meist Erzieher oder Heilerziehungspfleger.

Die Assistenz kommt (auf Antrag der Eltern beim Landkreis) je nach Behinderung hinzu. Etliche Schüler brauchen Hilfe beim Toilettengang und beim Essen, manche werden per Sonde ernährt, einige müssen gewickelt werden. Manche laufen unvermittelt weg, andere sitzen scheinbar teilnahmslos da, wirken fast zerbrechlich. Es gibt Kinder, die stecken sich Gegenstände in Nase, Mund und Ohren, reißen Fenster auf oder sich die Kleider vom Leib. Für viele Schüler, ob mit oder ohne autistische Erkrankung, ist wiederum die Reizüberflutung ein Problem. Einige neigen zu Krampfanfällen oder Epilepsie.

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