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Neue Vorsitzende der SPD in Syke Die Politik-Stürmerin

Sie ist erst 20 und hat noch viel vor, aber auch einiges hinter sich und vielleicht mehr Lebenserfahrung als manch Langzeitpolitiker im Bundestag. Nilüfer Türkmen erzählt von ihrem besonderen Weg.
07.05.2018, 18:42 Uhr
Lesedauer: 3 Min
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Von Lieselotte Scheewe

Syke. Das ist die ungewöhnliche Geschichte von Nilüfer Türkmen. Sie ist seit März die neue Vorsitzende der Syker SPD. Besonders sind an ihrer Geschichte mehrere Dinge, unter anderem ihre Ziele und ihre Motivation, etwas zu bewegen.

Taff. Dieses Wort ist das erste, das nach dem Gespräch mit Nilüfer Türkmen in den Sinn kommt. Weitere folgen: mutig, jung, engagiert und schlau. Tatsächlich fällt es ihr nicht schwer, über soziale Themen zu sprechen, weil sie selbst im Heim aufgewachsen ist. Über Integration hat sie mehr zu sagen, als manch anderer, denn sie wurde als Kind türkischer Eltern in Deutschland geboren. Sie kann locker über die Belange der jungen Generation reden, schließlich ist sie erst Anfang 20. Zu Chancengleichheit und Bildungspolitik hat Nilüfer Türkmen eine Meinung, hat sie doch nach der Realschule das Fachabi und schließlich das Abitur gemacht und studiert heute.

Türkmen ist der Gegenentwurf zu Politikern, die sich in ihren Bildungswegen allein in eher behüteten Sphären wie Gymnasien, Eliteuniversitäten und politischen Sitzungssälen aufhielten. Ihre Motivation zum politischen Engagement schöpft sie aus ihren Überzeugungen. Leere Worthülsen und Floskeln finden sich nicht in Türkmens Aussagen. Sie meint, was sie sagt. Zumindest nimmt man ihr das ab.

Die 20-Jährige sitzt auf dem dunklen Ecksofa in ihrer Wohnung in einer ruhigen Wohnstraße in Syke. Ein Mehrfamilienhaus mit gepflegtem Vorgarten, dritter Stock, vor der Wohnung ein Regal mit Turnschuhen, ein selbst gebasteltes Türschild. „Ich habe auch Kaffee gekocht“, sagt die junge Frau, lange braune Haare, wache Augen, zurückhaltendes Lachen.

Ihr Interesse an der Politik hat vor etwa zwei Jahren begonnen. Als Türkmen sich in einem Schulprojekt an ihrem Gymnasium in Bremen-Walle für die Integration von Geflüchteten engagierte, fiel ihr eine deutliche Diskrepanz auf: Ihre positiven Erfahrungen mit den geflüchteten Menschen standen unreflektierten Vorurteilen und rechter Hetze kontrovers gegenüber. Daraufhin habe sie angefangen, Zeitung zu lesen und sich mit politischen Debatten über Rechtspopulismus und die AfD zu beschäftigen. Zuerst schrieb sie selbst Artikel, engagierte sich in der Gruppe Menschlichkeit ist die einzige Alternative (Midea), die sich zum Ziel gesetzt hat, den braunen Kern der AfD zu entlarven.

„Danach habe ich mich entschlossen, ich will mehr, ich will mehr bewegen“, sagt sie. Der Entschluss, sich in einer größeren Partei zu engagieren, war nahe liegend. Als neue Vorsitzende im Syker Ortsverein möchte sie sich vor allem auf die Ortspolitik fokussieren, denn hier habe sie die größtmögliche Chance, sich zu engagieren und Wandel zu bewirken. „All Politics are local“, zitiert sie den amerikanischen Politiker Thomas Phillip „Tip“ O‘Neill.

Als erstes großes Thema hat Türkmen sich Inklusion und Barrierefreiheit auf die Agenda geschrieben. In nächster Zeit plant sie mit ihrem Ortsverein eine Tour in Rollstühlen durch die Syker Innenstadt, um Bedarfe in dem Bereich aufzuspüren. Auch das Thema Jugendpflege ist ihr ein Anliegen, geprägt durch ihre Kindheit im Heim. Die Studentin erzählt von einem alkoholisierten und unfairen Heimleiter, von Problemen mit dem Jugendamt und sagt trotzdem, „die Zeit im Heim war eine gute Zeit“, während sie in ihrer hellen, neu eingerichteten Wohnung sitzt, durch die offene Balkontür Vogelzwitschern dringt und die warme Maisonne lacht. Als sie vier Jahre alt war, starb ihr Vater. Ihre Mutter leidet unter Schizophrenie. Zehn Jahre hat sie im Heim gelebt – von acht bis 18. „Ich musste schon schnell erwachsen werden“, sagt die 20-Jährige. Sie hat die Beine überschlagen, sitzt aufrecht, ihre helle Bluse in die enge Jeans gesteckt. Wie hat sie es geschafft, sich durchzuboxen? Mit 20 SPD-Ortsvereins-Vorsitzende zu sein, mit eigener Wohnung und Studienplatz unter den, sagen wir mal, nicht gerade einfachsten Startbedingungen? Sie hatte immer viel Unterstützung, sagt sie, von ihren Betreuern im Heim, von bestimmten Lehrerinnen in der Schule, jetzt von einer Dozentin an der Uni und von ihren Stellvertretern und Mitgliedern im SPD-Ortsverein, in den sie erst im vergangenen Jahr eintrat. Auch ihre Freundin, mit der sie gemeinsam in Syke wohnt, unterstützt sie. „Ohne sie hätte ich es nicht gewuppt“, sagt Türkmen.

Dazu kam ihr eiserner Wille. Mit dem ehemaligen Heimleiter habe sie sich nicht gut verstanden. „Vielleicht wollte ich es ihm dann irgendwie zeigen und beweisen, dass ich es schaffen kann.“ Dass sie lange als Stürmerin Fußball gespielt hat, wundert nicht. Vielleicht eher, dass sie in Fischerhude im katholischen Kirchenchor singt. Aber irgendwie passt auch das, genau wie ihre Verbundenheit zur Natur. „Ich bin ein Landmensch“, sagt sie. Aus dem Grund landete sie in Syke, um weiter auf dem Land mit guter Zuganbindung zur Stadt und zur Uni zu leben, an der sie momentan noch Mathematik und Kunst auf Gymnasiallehramt und nach einem Fachwechsel im kommenden Semester Politik- und Rechtswissenschaften studiert.

Denn das ist ihr Berufsziel. Sie will in die Politik. „Richtig etwas bewegen.“ Der Vorsitz im Ortsverein ist dafür nur der Anfang. Warum nicht Lehrerin werden? „Ich bin zu politisch. Ich muss das machen.“

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