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So führen uns Politiker und Lobbyisten in die Irre Das Märchen vom Fachkräftemangel

Von Jakob Osman
Foto: DPA

"Wir finden keine Fachkräfte mehr." Ich höre diesen Satz täglich mindestens drei oder vier Mal von Unternehmen und Personalern aus ganz Deutschland. Dabei unterscheidet sich die Interpretation von "Fachkräften" teilweise erheblich. Die wunderbare Geschichte vom Fachkräftemangel wird allerdings nicht in den Betrieben geschrieben. Politiker und Lobbyisten haben sich diese Märchengeschichte ausgedacht.

Und das Beste: Jeder macht mit, denn unter den beschriebenen Symptomen leiden tatsächlich viele Betriebe. Die Grunderkrankung ist nur eben eine ganz andere.

Jakob Osman
Foto: Anja Nier/Agentur Junges Herz

Jakob Osman, geboren 1987, ist Experte für Employer Branding. Seine Agentur Junges Herz  berät Kunden aus allen Branchen im Bereich Personal- und Ausbildungsmarketing.

Um es vorweg zu nehmen: Der Fachkräftemangel ist real. Nur nicht so, wie er gern dargestellt wird. Im Dezember erschien die so genannte Fachkräfteengpassanalyse der Agentur für Arbeit. Gleich auf Seite 4 findet der Leser eine erstaunliche Information, die vielen in Politik und Lobbyverbänden nicht wirklich schmecken dürfte: "Aktuell zeigt sich nach der Analyse der Bundesagentur für Arbeit kein flächendeckender Fachkräftemangel in Deutschland."

Festgestellt wird lediglich, dass es in manchen Regionen und Branchen schwieriger ist gute Arbeitskräfte zu finden als in anderen. Das liegt in der Natur der Sache: Ein IT-Dienstleister im tiefsten Allgäu wird mehr Probleme haben, als sein Konkurrent in München, Köln oder Hamburg. Das aber ist nichts Neues. Bereits vor Jahrzehnten war die Fachkräfteversorgung in bevölkerungsärmeren Regionen schwieriger.

Falsche Prognosen

Immer öfter hört man von verschiedenen Verbänden, Vereinen und aus der Wirtschaft die Klagerufe. Es fehlen Fachkräfte an jeder Ecke. Ein beliebtes Thema sind die Ingenieure. Schenkt man den Äußerungen einiger Verbände Glauben, dann steht Deutschland kurz vor dem Kollaps, da niemand mehr unsere Maschinen und Autos entwickelt und plant.

Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) und der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) haben sich 2015 intensiv mit dem Thema beschäftigt und kommen in einer Studie zu dem Schluss, dass bis 2029 bis zu 390.000 Ingenieure in Deutschland fehlen würden. Sollte dies zutreffen, wäre Deutschland spätestens 2025 ökonomisch nicht mehr voll handlungsfähig. Dass sich dasselbe Institut in seiner Prognose von 2009 um 140.000 fehlende Fachkräfte verrechnet hat, wird gern ignoriert.

Der Fachkräftemangel bei Ingenieuren existiert so nicht. Festhalten darf man, dass die Vakanzen von Unternehmen deutlich länger offen sind - im Schnitt 110 bis 125 Tage. Doch selbst die Agentur für Arbeit sagt, dass auf 100 gemeldete offene Stellen rechnerisch 174 arbeitslose Experten der Maschinen- und Fahrzeugtechnik kommen. Warum also wird sich so viel Mühe gegeben einen Fachkräftemangel zu prognostizieren?

Schauen wir uns die Verbände und Lobbyvereine an. Besonders lohnt sich der Blick auf die Automobilindustrie. Daimler, VW, Audi, Opel - fast alle machen mit. Sie organisieren sich und nehmen direkt oder indirekt Einfluss auf die Politik. Das ist grundsätzlich auch nichts Schlimmes, im Gegenteil: Von einem Austausch profitieren beide Seiten und die Bürger, da wichtiges Wissen und aktuelle Trends aus der Wirtschaft schnell und unkompliziert mit der Politik verzahnt werden können. Wenn aber ein Industriezweig ganz bewusst Studien, Expertengremien und Cheflobbyisten auf ein Thema ansetzt und dieses werblich instrumentalisiert, sollte man hellhörig werden. Gerade beim Thema Ingenieure ist dies oft der Fall. Doch warum eigentlich?

Das Limo-Beispiel

Nehmen wir an, ich stelle mich morgen auf den Alexanderplatz und verkaufe dort Limonade. Die Limonade ist lecker, gern auch vegan oder bio und wird preisgünstig angeboten. Die Menschen kaufen meine Limo und ich verdiene sehr viel Geld. Nun ist das Herstellungsverfahren dieser Limonade recht kompliziert und ich alleine kann die Nachfrage nicht mehr befriedigen. Also stelle ich studierte Limonadenhersteller m/w ein und produziere in meinen Werken tausende Liter Limonade. Als guter Kaufmann überprüfe ich regelmäßig meinen Wirtschaftsplan und sehe, dass die studierten Limonadenhersteller m/w meinen Gewinn schmälern. Klar, ich verdiene immer noch sehr viel, aber es wurmt mich, dass ich so viel an diese Leute abgeben muss. In den Universtäten sehe ich außerdem, dass immer weniger junge Menschen studierte Limonadenhersteller m/w werden möchten, da der Studiengang sehr schwierig und lang ist.

Gemeinsam mit meinem Team aus Werbeexperten und Arbeitsmarktforschern überlege ich mir, wie ich das Problem lösen kann. Dabei komme ich auf zwei großartige Ideen:

1.) Ich unterstütze die Universitäten, die Jugendlichen und die Schulen bei der Ausbildung und investiere in den Markt, um auch in Zukunft gut ausgebildete Fachkräfte zu haben. Das kostet zwar Geld, zahlt sich aber auf lange Sicht aus, da ich qualifizierte Arbeitskräfte bekomme und sie an mein Unternehmen binde. Außerdem engagiere ich mich gesellschaftlich und unterstütze die Limo-Branche.

2.) Ich entwickele Studien, halte Vorträge und klage gegenüber der Politik, dass wir in zehn Jahren niemanden mehr haben, der sich um das Limo-Geschäft kümmern kann. Ich prognostiziere mit zweifelhaften Daten, dass Deutschland in zehn Jahren mehr als 100.000 Limo-Fachkräfte fehlen. Ich rufe Kampagnen, Vereine und Maßnahmen ins Leben, die mich in meiner Meinung unterstützen. Um es nicht zu auffällig zu machen gebe ich diesen Vereinen Namen wie "Verband deutscher Limonadenhersteller" oder "Verband der studierten Limonadenmacher". Ein schöner Nebeneffekt: Je mehr Fachkräfte auf den Markt strömen, desto niedriger kann ich das Lohnniveau halten. Zusätzlich übe ich - dank meiner starken wirtschaftlichen Position - massiven Druck auf die Politik aus und drohe mit Arbeitsplatzverlegung ins Ausland, Kündigungswellen oder gleich der kompletten Aufgabe meines Geschäfts.

Der wahre Fachkräftemangel

Das Beispiel zeigt, wie leicht ein Fachkräftemangel konstruiert werden kann. Und dass es von verschiedenen Seiten ein großes Interesse daran gibt. In der Realität läuft dieser Kampf noch viel schmutziger und kalkulierter ab. Dies trifft nicht nur auf die Ingenieure zu, sondern auch auf viele andere Studienrichtungen. Das neueste Spielzeug der Wirtschaft sind die IT-Studiengänge.

Wie eingangs erwähnt, gibt es durchaus auch einen realen Fachkräftemangel. Nur betrifft dieser meist nicht irgendwelche Studiengänge, sondern Berufe, die keine große Lobby hinter sich haben: Erzieher, Pflegekräfte, Maschinenbauer, Handwerker und viele mehr. Hier hat es die Politik versäumt zu reagieren. Gerade am Beispiel der Pflegebranche sieht man, wie verzweifelt die Lage ist. Unsere Gesellschaft wird immer älter, die Menschen werden pflegebedürftiger und der Job für die Pfleger wird immer härter. Aufgrund des Kostendrucks wird am Gehalt der Fachkräfte gespart. Laut aktuellen Studien verdienen Pflegefachkräfte im Schnitt 2000 bis 2200 Euro brutto. Wie soll man davon in Düsseldorf, München oder Köln eine Familie gründen und vernünftig leben können?

Auch auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich eine dramatische Entwicklung. Das Bundeministerium für Gesundheit hat ermittelt, dass offene Stellen in der Pflegebranche im Durchschnitt erst nach 138 Tagen besetzt werden - das ist eine um 62 Prozent längere Zeit als im Durchschnitt aller Berufe. Auch stehen 100 offenen Stellen nur 80 Bewerber gegenüber. Das ist Fachkräftemangel. Und er wird noch sich noch verschlimmern. Solange Politik und Wirtschaft es versäumen diese Menschen respektvoll und leistungsgerecht zu bezahlen, werden immer weniger Jugendliche eine Ausbildung in Pflegeberufen wählen. Da helfen auch keine bunten Kampagnen, kein tolles Employer Branding oder moderne Arbeitszeitmodelle. Ähnliches gilt für viele gewerbliche Berufe.

Es muss dringend ein Umdenken in unserer Gesellschaft stattfinden. Wir müssen es schaffen, dass wir auch Menschen ohne jahrelanges Studium fair bezahlen. Wir müssen es schaffen, dass wir die Lobbyisten eindämmen und den Fachkräftemangel so darstellen, wie er ist: als ein Mangel an Praktikern- nicht an Studierenden.