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Radioaktives Pulver: "Zur Hölle mit der Molke"

Foto: Frank M‰chler/ dpa

Tschernobyl und die Folgen Die Reise des verstrahlten Molkepulvers

Belastete Milch war nach der Tschernobyl-Katastrophe schwer zu verkaufen. Also wurde in Bayern Molke draus gemacht und in einem Güterzug eingelagert. Und dann wurde es vollends absurd.

Zum demonstrativen Vernaschen heimischer Landwirtschaftsprodukte sind bayerische Politiker allzeit bereit. 1987 gab sich Umweltminister Alfred Dick furchtlos. Knapp ein Jahr nach dem verheerenden Reaktorunfall von Tschernobyl rührte er vor laufenden Kameras in verstrahltem Molkepulver, tunkte seinen Finger hinein, leckte dran und sprach: "Des tut mir nix."

Ganz harmlos also, die kontaminierte Molke - für dieses Mätzchen erntete Dick viel Spott. Ein Journalist hatte ihn bei der Pressekonferenz gefragt, ob er das Pulver auch essen würde. So sorgenfrei, wie er tat, war Bayerns Umweltminister wohl nicht. Sein früherer Pressesprecher verriet 25 Jahre später: Dick steckte zwar seinen Mittelfinger in die Schüssel. Er schleckte dann aber an seinem Zeigefinger. Tricky Dick.

Aus der Welt futtern ließ sich das Problem ohnehin nicht, das der deutschen Politik jahrelang zu schaffen machte. Nachdem am 26. April 1986 der Reaktor in Block 4 des AKW Tschernobyl explodiert war, zeichneten sich die verheerenden Auswirkungen erst nach und nach ab. Wechselnde Winde verteilten den radioaktiven Fallout in alle Richtungen, auch bis weit nach Westeuropa.

Die rollende Molke nach der Wolke

Die Welt erlebte einen Super-GAU, den schlimmsten Nuklearunfall der Geschichte. Die Direkt- und Spätfolgen waren völlig unklar, Erfahrungswerte gab es keine. In Deutschland brach Panik aus. Kinder durften nicht länger im Sandkasten spielen, Schüler nicht auf den Schulhof, Pilzsammler strichen ihr Hobby. Und Bauern waren ratlos: Cäsium-137, Strontium-90 oder Cäsium-134 legten sich mit dem Regen auf die Felder, auf den Frühlingswiesen graste das Vieh. Fortan strahlte ihre Milch. Wohin mit der radioaktiv belasteten Milch, wenn niemand sie mehr kaufen will?

Das bayerische Landwirtschaftsministerium riet Molkereien dringend: Macht Käse draus! Und tatsächlich wurden große Milchmengen zu Käse verarbeitet. Als Abfallprodukt entstand aus dem Käswasser Molke, eingetrocknet Molkepulver. In großen Mengen. Und das war besonders stark verstrahlt: mit einer Cäsiumbelastung von rund 5800 Becquerel pro Kilogramm, also gut dreimal so hoch wie der zulässige Grenzwert in der Europäischen Gemeinschaft.

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Der Tschernobyl-Schock: Ein AKW explodiert

Foto: Media Office/ dpa

Der größte Batzen lagerte bei der Meggle Milchindustrie GmbH. Der Gigant unter Bayerns Milchproduzenten nahm Käsereien die Strahlenmolke ab und ließ sie zu 5046 Tonnen trocknen. Chef Toni Meggle mietete dann von der Deutschen Bundesbahn 242 leere Bahnwaggons - als rollendes Zwischenlager. Das war nicht umsonst, aber günstig. Pro Waggon und Tag kassierte die Bahn lediglich drei Mark.

Ewig konnte die Ladung nicht in den Zügen bleiben, die Meggle zunächst auf Abstellgleisen bei Rosenheim parken ließ. Es brauchte Pläne, und bald kursierten viele davon - die Molke verfeuern, tief unter der Erde vergraben oder an Vieh verfüttern, sobald sich Strahlkraft einiger Radionuklide nach monatelanger Wartezeit deutlich verringert hat. Ernsthaft diskutiert wurde auch der Export in Länder, die man für weniger zimperlich hielt, etwa zu Molkefabriken in Osteuropa oder gar nach Ägypten, nach Nigeria, in die Mongolei.

"Zur Hölle mit der Molke!"

Zunächst wollten die Meggle-Werke das Problem dringend loswerden. Im Februar 1987 kaufte das Bundesumweltministerium unter Leitung von Walter Wallmann ("Marschall Molke") ihnen den Sondermüll für 3,8 Millionen Mark ab und übergab ihn an die Bundeswehr. Toni Meggle war raus aus der Nummer und hatte noch ein Geschäft gemacht.

Nun lagerte das Pulver, verpackt in je 25 Kilogramm schweren Säcken, bei der Bundeswehr, in einem insgesamt 2,7 Kilometer langen Güterzug. 92 Waggons wurden auf ein Militärgelände ins bayerische Feldkirchen gebracht, 150 Waggons zur "Erprobungsstelle" der Bundeswehr in Meppen, verplombt und von Soldaten bewacht.

Willkommen war die gefährliche Fracht nirgendwo, nicht in Deponien, nicht in Müllverbrennungsanlagen, auch nicht in Meppen. Unter dem Motto "Zur Hölle mit der Molke!" blockierten 300 Demonstranten dort etwa zehn Stunden lang die Gleise, als der Molkezug in der Nacht vom 11. auf den 12. Februar 1987 durch die Kleinstadt rollen sollte. Erst am nächsten Morgen ging es weiter, die letzten 15 Aktivisten konnten das nicht verhindern.

Die größte Hoffnung war fortan die Molkewäsche. Das "Dekontaminierungszentrum der Bundesrepublik" entstand in einer gut geschützten Halle des Kernkraftwerks Lingen, das 1977 stillgelegt worden war. Geschätzte Reinigungskosten: etwa 13 Millionen Mark, später wurden daraus gut 40 Millionen Mark.

Das passende Verfahren lieferte der Hannoveraner Professor Franz Roiner, ein ausgewiesener Milchfachmann. Es hieß Ionenaustausch, war bis dato nur im Labor getestet worden und funktionierte so: Auf einer Strecke von 60 Metern vermengte man die Molke wieder mit Wasser und entfernte dann das enthaltene Eiweiß per ultrafeinem Filter. Im nächsten Schritt kam die stinkende Brühe in einen Ionentauscher, der sie vom Radionuklid Cäsium-137 befreite.

Ab damit in die Waschanlage

Es gelang - und die Anlage lief "drei Monate im Dauerbetrieb", wie sich Roiner erinnert. Er ist heute 84 Jahre alt und äußert wenig Verständnis für die "damalige Panik, die Angst war sehr groß. Eigentlich sollte das Pulver in einer Molkerei gereinigt werden", so Roiner, "doch schwangere Frauen baten mich sogar auf Knien, dies nicht zu tun. Sie hatten Angst vor den Spätfolgen für ihre Kinder."

In Lingen sei dann "alles, was Molke und mit Cäsium-137 belastet war, also nur ein Großteil in dieser Anlage dekontaminiert" worden. Weiter sagt Roiner: "Ich weiß nicht, was mit dem anderen Teil passiert ist." Auch Greenpeace hat dazu keine näheren Erkenntnisse. "Falls das stimmt, ist das ein Unding", so Atomexperte Tobias Münchmeyer. "Wohin ging der andere Teil? Und wer wurde davon geschädigt?" Lingens Oberbürgermeister Dieter Krone muss ebenfalls passen, er war damals Referendar und noch längst kein Politiker. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Teil der Molke noch hier ist, denn heute wird das Kernkraftwerk Lingen komplett abgebaut", sagt Krone.

Einige große Fragezeichen bleiben, überwiegend endete die lästige Fuhre in Lingen. Die letzten Säcke wurden am 7. Dezember 1990 entsorgt. Bundesumweltminister Klaus Töpfer ließ die Molkewaschanlage vollständig abbauen und in Teilen verkaufen. Den zunächst geplanten Komplettverkauf in die Ukraine lehnten die Grünen und andere Kernkraftgegner damals unisono ab. Die vom Cäsium-137 verseuchten Ionentauscher kamen nach Angaben von Franz Roiner in den Salzstock von Gorleben. Und die nunmehr fast saubere Molke verfütterte man später ans liebe Milchvieh: Endstation Stall.

Foto: Matthias Lauerer

einestages-Autor Matthias Lauerer (Jahrgang 1975) ist freier Journalist. Er hat nach dem Volontariat bei der "Neuen Westfälischen" unter anderem für den "Stern" gearbeitet und interessiert sich besonders für seltsame Geschichten.