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Neue Blutdruckgrenzen in den USA 35 Millionen Menschen sind über Nacht krank geworden

Weil ein hoher Blutdruck schwere Krankheiten auslösen kann, haben US-Ärzte jetzt strengere Grenzwerte festgelegt. Das macht viele Gesunde zu Kranken. Deutschland wird wohl nachziehen - wie sinnvoll ist das?

Ab sofort leidet fast die Hälfte der erwachsenen US-Amerikaner unter Bluthochdruck, denn sie alle eint ein Wert: Ihr Blutdruck liegt bei oder oberhalb von 130/80 mmHg (Millimeter Quecksilbersäule). Das ist die neue Grenze, die ein Gremium der American Heart Association und des American College of Cardiology in ihren aktuellen am Montag veröffentlichten Leitlinien  festgelegt hat.

Die Experten reagieren damit auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus den vergangenen Jahren, denen zufolge schon eine leichte Erhöhung des Blutdruckes über den Normalwert von 120/80 mmHg zu Gesundheitsschäden führen kann. Bluthochdruck ist neben Rauchen einer der wichtigsten Risikofaktoren für Herzinfarkte, Herzschwäche und Schlaganfälle. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigste Todesursache in westlichen Ländern.

In Deutschland gelten noch andere Werte: Hierzulande hat ein Patient Bluthochdruck, wenn seine Werte bei 140/90 mmHg und darüber liegen. Wer seit Montag in den USA neu zu den Bluthochdruckkranken zählt, würde in Deutschland als "hochnormal" bezeichnet werden.

Definition und Klassifikation von Praxisblutdruck (mmHg)*

Kategorie Systolisch Diastolisch
Optimal 120 und 80
Normal 120-129 und/oder 80-84
Hochnormal 130-139 und/oder 85-89
Bluthochdruck Grad 1 140-159 und/oder 90-99
Bluthochdruck Grad 2 160-179 und/oder 100-109
Bluthochdruck Grad 3 ≥180 und/oder ≥110

Quelle: Pocket-Leitlinien der European Society of Cardiology

Was allein nach unterschiedlicher Begrifflichkeit klingen mag, hat weitreichende Konsequenzen. Denn während bisher nur 32 Prozent der Bevölkerung in den USA pathologische Werte aufwiesen, betrifft die Krankheit nach den neuen Grenzen 46 Prozent . Diese 14 zusätzlichen Prozent entsprechen knapp 35 Millionen Menschen.

"Ich bin erstaunt, dass mit der neuen Definition plötzlich so viele Menschen in den USA mit der Krankheit Bluthochdruck konfrontiert werden", sagt der Blutdruckexperte Roland Schmieder vom Universitätsklinikum Erlangen. Er wirkt an der Erstellung der Europäischen Leitlinien für Bluthochdruck mit. "Auch in Europa und in Deutschland werden wir die Zielwerte voraussichtlich senken", sagt Schmieder. "Aber wir werden versuchen, stärker zu differenzieren, um eine Übertherapie zu verhindern."

Im Sommer 2018 werden die überarbeiteten Leitlinien veröffentlicht und kurze Zeit später auch für Deutschland angepasst werden. "Die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den vergangenen Jahren haben deutlich gezeigt, dass es sinnvoll ist, niedrigere Zielwerte anzustreben als bislang", so Schmieder. "Ob die Werte auf 135/85 oder 130/80 gesenkt werden, ist aber noch unklar."

Dabei sind einige zugrunde liegende Untersuchungen wie etwa die sogenannte Sprint-Studie umstritten. Diese kam 2015 zu dem Ergebnis, dass Menschen mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen seltener erkranken oder frühzeitig sterben, wenn ihr Blutdruck auf 120 gesenkt wird. Die Kritik an der Untersuchung : Die Messmethode für den Blutdruck unterscheidet sich von den Messungen, die in der ärztlichen Praxis durchgeführt werden und lassen sich daher nicht auf den Alltag von Millionen von Patienten übertragen. In die Leitlinien fließen allerdings noch andere Metaanalysen ein, die ebenfalls für eine strengere Einstellung des Blutdrucks sprechen.

In Schmieders Augen muss aber längst nicht jeder Patient mit erhöhten Blutdruckwerten auch Medikamente bekommen. Doch wo eine Diagnose steht, ist die Therapie oft nicht weit entfernt.

Die Fragen liegen nahe:

  • Wie viele der neuen Hochdruck-Patienten in den USA und bald auch in Deutschland müssen Pillen schlucken?
  • Führen die neuen Grenzwerte dazu, dass eigentlich gesunde Menschen als krank abgestempelt werden?
  • Wiegen die positiven Folgen eines gesenkten Bluthochdrucks tatsächlich die Gefahren und Nebenwirkungen einer medikamentösen Therapie auf, wie etwa Nierenschäden, starke Blutdruckschwankungen, Müdigkeit?
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"Ja, wir etikettieren mehr Menschen als Bluthochdruckpatienten und wir werden mehr Medikamente verschreiben", sagt Kenneth Jamerson, Mitautor der US-Leitlinien und Kardiologe von der University of Michigan. Aber man werde Leben retten und Geld sparen, indem mehr Schlaganfälle und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindert würden. Auf die Frage nach Interessenkonflikten geben fünf der 22 Leitlinienautoren an, von Biotech- oder Pharmaunternehmen Gelder zu empfangen.

Das Ziel ist der Veröffentlichung zufolge aber nicht, alle neu hinzugekommenen Patienten medikamentös zu behandeln: "Etwa einer von fünf wird Medikamente brauchen", sagt der Vorsitzende des Richtlinienkommitees Paul Whelton. Bei den übrigen sollen sich Ärzte durch die neuen Grenzwerte darauf fokussieren, mit ihren Patienten an einem gesünderen Lebensstil zu arbeiten.

Auch Paulus Kirchhof, Direktor des Instituts für Herz-Kreislauf-Wissenschaften an der britischen University of Birmingham, und ebenfalls Autor der europäischen Leitlinien, sieht jetzt sowohl die Ärzte als auch die Patienten in der Pflicht: "Viele Menschen könnten ihren Bluthochdruck senken, indem sie sich mehr bewegen, gesund essen, nicht rauchen, regelmäßig schlafen und wenig Alkohol trinken", sagt Kirchhof. "Ein solches Gespräch müssen Arzt und Patient führen, Medikamente sind nicht immer der richtige Weg." Im individuellen Fall müsse immer abwogen werden, ob das Herz-Kreislauf-Risiko größer sei oder die möglichen Nebenwirkungen einer medikamentösen Therapie.

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Allerdings ist bereits seit Jahrzehnten bekannt, dass Bewegung, gesundes Essen, Rauchverzicht und ein normales Gewicht für eine gute Gesundheit wichtig sind. An der Zahl der Übergewichtigen hat das aber nichts geändert, im Gegenteil. Auch der Verzicht aufs Rauchen ist weniger auf die Erkenntnis der Gesundheitsgefahren als vielmehr auf Rauchverbote in Restaurants und öffentlichen Einrichtungen zurückzuführen.

Wird ein Allgemeinarzt unter diesen Umständen wirklich in der Lage sein, seine Patienten in kurzen Gesprächen davon zu überzeugen, sich mehr zu bewegen und gesünder zu essen? Möglicherweise wird er doch eher zum Rezeptblock greifen und ein Medikament verschreiben.