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Sibylle Berg

Selbstüberschätzung Ein Wort und jeder weiß Bescheid

Warum tragen manche Leute ihre Kämpfe 3600 Kilometer vor der eigenen Haustüre aus? Weil inkompetente Menschen die Tendenz haben, sich selbst für unglaublich klug zu halten. Ein weitverbreitetes Problem.
Kate Tempest

Kate Tempest

Foto: Robert Altman/ Robert Altman/Invision/AP

Die Welt hält den Atem an. Bald beginnt die erste Spielzeit des neuen Volksbühnenintendanten in Berlin. Das Theater, zu dem fast jeder, der irgendwann mal im Theater war, eine Meinung hat, vollkommen egal, ob er oder sie in Berlin wohnt oder jemals in einer Volksbühnenaufführung war. Da darf ich nicht fehlen.

Am Anfang der Spielzeit findet ein Konzert oder eine Performance der angesagten englischen Spoken-Word-Künstlerin Kate Tempest statt. Eine aufrechte, wütende Kapitalismuskritikerin. Und glühende Israel-Boykottiererin. Wann immer es eine Petition des BDS  zu unterzeichnen gilt, Großbritanniens Künstler sind dabei .

Beherzt kämpfen sie von der Insel aus gegen Produkte von Juden, gegen Künstler, die aus Israel kommen oder dort arbeiten wollen, was besonders sinnvoll ist, gegen die Besatzung, gegen all das Unrecht, das so angenehm weit entfernt von zu Hause stattfindet. Vermutlich ist es gerade den englischen Kunst- und Geistesschaffenden sehr wichtig, sich einzubringen. Ein bisschen Frieden auf der Welt, die weit entfernte und nähere Geschichte des eigenen Landes vergessen , die Vergessenen in Sozialsiedlungen verdrängen, den Brexit-legitimierten Rassismus, weg damit. Lasst uns unseren Klassenkampf 3600 Kilometer von zu Hause austragen.

Die Vehemenz, mit der eher linkspolitische Menschen auf aller Welt ihr schlechtes Gewissen auf ein winziges Land in weiter Entfernung auslagern, hat pathologische Züge. Ob Amerikas Nazis  oder einige Linke der westlichen Welt - der Feind steht fest.

Dabei gäbe es so vieles, was man boykottieren könnte. Als Erstes fallen mir alle Unternehmen und Produkte der Familie Trump ein. Dann folgt der Rest der Welt. Ist aber nicht so cool, nicht so akzeptiert, da entsteht doch kein We-Feeling, wenn man mit seinem Plakat vor dem Supermarkt steht und Datteln aus Burkina Faso boykottiert, das macht doch keine klare und hippe Aussage.

Die krankhafte Gewissheit, alles besser zu wissen

Juden. Ein Wort und jeder weiß Bescheid. Da kommen wir zum nächsten Problem. Das Bescheidwissen. Ich danke den Wissenschaftlern Dunning und Kruger aufrichtig dafür, einen Namen zur Krankheit unserer Zeit gefunden zu haben. Der Dunning-Kruger-Effekt . Kurz: die krankhafte Gewissheit, alles besser zu wissen, weil man irgendwie irgendwo was gelesen hat.

Die Menschheit, noch nie die hellste, hat sich durch Führer, die die Sehnsucht nach einfachen Antworten für sich nutzen, zu einer einzigartigen Weltgemeinschaft der Auskenner gemausert. Der Hubert von Nebenan weiß alles über Impfungen, die Beschaffenheit der Erde, über Atomspaltungen, Einsturzqualitäten von Hochhäusern. Der neue Trend wird zur Eigenoperation gehen, zur kellergemachten Arznei und zum Eigenautobau. BDS ist die Bewegung der Superauskenner.

Aber vermutlich sind wir alle ein wenig Dunning-Kruger, denn wer ist nicht überzeugt, meistens recht zu haben. Vielleicht könnte Frau Tempest mir sogar erklären, warum sie sich gegen Menschen engagiert, die mit ihrem Lebensalltag nichts zu tun haben. Aber leider weiß ich es besser .

Überdies boykottiere ich Israel-Boykottierer. Und so ist wieder ein kleines Manifest zum Nichtmiteinanderreden entstanden. Gern geschehen. Eine friedliche Woche Ihnen.