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Numerus clausus vor Verfassungsgericht 7,5 Jahre Warten auf den Studienplatz - ist das legal?

Sind 15 Wartesemester für ein Medizinstudium in Ordnung? Darüber entscheidet jetzt das Bundesverfassungsgericht. Das System der Studienplatzvergabe könnte sich ändern - für Unis und Studenten.

Viele Träume beginnen oder enden in der Dortmunder Sonnenstraße - oder sie werden lange aufgeschoben. Dort sitzt die Stiftung für Hochschulzulassung (SfH), bis 2008 hieß sie ZVS. Wer ein Studium beginnen möchte, für das es ein zentrales Vergabeverfahren gibt, muss sich dort melden. Dann wird entschieden, wer im nächsten Semester studieren darf, und wer noch länger auf einen freien Platz warten muss.

Das gilt derzeit für die Fächer Medizin, Pharmazie, Tiermedizin und Zahnmedizin. Und zwar nach einem festgelegten Schlüssel. Doch genau der könnte sich demnächst ändern: Diese Woche setzte das Bundesverfassungsgericht einen Verhandlungstermin zu dem Thema an: Am 4. Oktober wird darüber entschieden, wie künftig jedes Jahr Zehntausende von Bewerbern an ihr Studium kommen - oder auch nicht.

Die wichtigsten Fragen und Antworten zu der Klage.

Was wird nun eigentlich verhandelt?

Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ist bereits 2012 zu dem Schluss gekommen, dass das Vergabeverfahren heutzutage nicht mehr der Verfassung entspricht. Diese Einschätzung soll das Bundesverfassungsgericht prüfen. Sieht man die Lage dort ähnlich, muss der Gesetzgeber die Regeln der SfH neu gestalten.

Worum geht es genau?

Es geht um die Klagen zweier Studienplatzbewerber, die wegen ihrer Noten fürs Medizinstudium abgelehnt wurden. Offenbar wurde dabei aber nur die Abiturnote berücksichtigt. Und das, obwohl der eine Kläger, ein 26-jähriger Hamburger, ausgebildeter Rettungssanitäter ist und den Medizinertest überdurchschnittlich gut bestanden hat. Die andere Klägerin kommt aus Schleswig-Holstein, ist 27 Jahre alt und ausgebildete Krankenpflegerin. Auch ihre Ablehnung wurde mit dem Numerus clausus und der Wartezeit begründet.

Das Bundesverfassungsgericht wird nun den Vergabeschlüssel der SfH unter die Lupe nehmen: 20 Prozent der Plätze bekommen bislang die Abiturienten mit den besten Noten, 20 Prozent die Bewerber, die lange genug gewartet haben. Die übrigen 60 Prozent vergeben die Hochschulen nach eigenen Kriterien - doch das ist meist auch nur die Note.

Warum soll das gegen die Verfassung verstoßen?

Hier geht es um das Grundrecht der freien Wahl des Berufs und der Ausbildungsstätte. Das kollidiert jedoch mit den begrenzten Kapazitäten der Hochschulen, deshalb gibt es immer wieder Streit um die Platzvergabe. Wie so ein System verfassungsgemäß geregelt sein muss, hat das Gericht zuletzt 1977 festgelegt: Zu den Anforderungen gehört unter anderem, dass die Wartezeit nicht länger als das Studium sein darf. Dies ist im Medizinstudium jedoch nicht mehr der Fall: Hier beträgt die Wartezeit inzwischen 15 Semester, die Regelstudienzeit jedoch 12 Semester.

Warum soll heute nicht mehr verfassungsgemäß sein, was jahrelang in Ordnung war?

Die Lage hat sich seit den Siebzigerjahren dramatisch verändert. Im Wintersemester 2014/15 haben sich 43.000 Menschen für 9000 Studienplätze beworben, heißt es in der Vorlage des Gelsenkirchener Gerichts. Mit gewichtigen Folgen:

  • 1999 genügte es, einen Abiturschnitt von 1,6 bis 2,2 zu haben, um einen Platz zu ergattern. Heute muss es die Note 1,0 bis 1,2 sein.
  • Die Wartezeit betrug damals vier Semester. Aktuell sind es 15 Semester.
  • Das Abitur ist in den Bundesländern unterschiedlich schwierig, in einigen ist es leichter, eine sehr gute Note zu bekommen.

Der erforderliche Notenschnitt ist damit nicht nur unangemessen hoch, sagt Wilhelm Achelpöhler, einer der Anwälte, die die Klage vorangetrieben haben: "Er ist in sehr vielen Fällen das einzige wirklich entscheidende Kriterium." Denn bei den Plätzen, welche die Hochschulen nach eigenen Kriterien vergeben, wird fast immer auch auf die Abiturnote abgestellt - laut einer Studie des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) ist das in 80 Prozent der Fälle so. Viele, die in der Warteschleife sind, überbrücken die Zeit mit Jobs, zum Beispiel als Rettungssanitäter. So ein Engagement spielt aber für die Studienplatzvergabe keine Rolle.

Was soll nach Meinung der Kläger geändert werden?

"Das Grundproblem ist die Zahl der angebotenen Studienplätze", sagt Achelpöhler. "Die Klage ist für uns auch ein politisches Signal - wir brauchen mehr Plätze für Mediziner." Doch auch ohne neue Plätze seien Verbesserungen möglich: Der Numerus clausus darf eigentlich nur bei tatsächlichen Kapazitätsengpässen zum Einsatz kommen - und wie die definiert werden, ist eine große Streitfrage. Erhöhe man beispielsweise die Lehrverpflichtungen bei wissenschaftlichen Mitarbeitern, könnten mehr Studenten bei ihnen Seminare und Vorlesungen besuchen - ohne dass an den Hochschulen neues Personal eingestellt werden müsste.

Außerdem würde laut Achelpöhler beispielsweise ein qualifiziertes Losverfahren für mehr Gerechtigkeit sorgen als die Wartezeitregelung in ihrer jetzigen Form. Die Gelsenkirchener Richter fordern zudem Landesquoten, um die unterschiedlich anspruchsvollen Länderabis auszugleichen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die Verfassungsrichter Änderungen am System fordern?

Die Entscheidung kann man selbstverständlich nicht vorhersagen. Allerdings spricht viel dafür, dass die Richter das Anliegen sehr ernst nehmen. Sie haben Anhörungen mit Vertretern der Landesregierungen, der Bundesregierungen und mit Gewerkschaftern durchgeführt. Einige Beobachter werten das als Zeichen, dass die Richter zu einer Fortentwicklung ihrer Rechtsprechung bereit sind.

Kann man auf schnelle Änderungen hoffen?

Nein. Der Verhandlungstermin liegt im Oktober, auf das kommende Wintersemester wirkt sich das auf keinen Fall aus. Auch danach wird es nicht schnell gehen. Nehmen wir einmal an, die Verfassungsrichter geben ihren Gelsenkirchener Kollegen recht. Dann ist nicht automatisch das ganze Vergabeverfahren der SfH obsolet, sondern die Politik bekommt den Auftrag, es zu ändern. Das kann dauern, schließlich müssen sich dann der Bund und 16 Länder einigen, und die Neuregelung muss ein komplettes Gesetzgebungsverfahren durchlaufen.

Was bedeutet die Entscheidung für die Kläger?

Das Verfahren liegt seit rund drei Jahren beim Verfassungsgericht. Ursprünglich waren mehr Mandanten beteiligt, sagt Achelpöhler, einige haben inzwischen einen Studienplatz. Für die Krankenpflegerin aus Schleswig-Holstein und den Hamburger Rettungssanitäter geht es jedoch nach wie vor um ihre Zukunft: Können sie sich ins Studium einklagen, das sie zu Ärzten macht?

Wettbewerb für Medizinstudenten