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Als Transgender im Internet "Die Angriffsfläche ist mein Leben"

Linus Giese erzählt online von seinem Alltag als Transmann. Jetzt bekommt er jeden Tag Hassnachrichten. Seine Identität zu verstecken, kommt für ihn trotzdem nicht infrage.
Linus Giese

Linus Giese

Foto: Matthias Kreienbrink

Seit gut sieben Wochen nimmt Linus Giese nun schon Testosteron. Seitdem wacht er jede Nacht um fünf Uhr auf. Meistens bleibt er dann wach, bis der Wecker klingelt. Schlafstörungen sind eine bekannte Nebenwirkung der Behandlung. Um acht Uhr dann steht er üblicherweise auf und macht sich bereit für den Arbeitstag als Buchhändler.

Während Giese, 32 Jahre, auf das Klingeln seines Weckers wartet, vertreibt er sich die Zeit oft mit dem Smartphone. Es liegt meistens direkt neben dem Bett, frühmorgens schaut Giese nach, was so über die Nacht passiert ist. Öffnet Twitter, wo er täglich Beiträge postet und liest. "Meistens habe ich da dann 99 plus Mitteilungen."

Viele davon sind Benachrichtigungen darüber, wer seine Tweets geteilt oder mit einem Herz versehen hat. Doch seit Dezember 2017 sind auch immer mehr hasserfüllte Nachrichten darunter. "Scheidenbub" steht da dann. "Du bist eine Frau und wirst immer eine bleiben." Linus Giese ist ein Transmann.

Tagelange Online-Belästigungen

"Je nachdem, was ich so poste, ist die Menge und Intensität des Hasses unterschiedlich", sagt der Buchhändler. LGBTIQ-Menschen sind im Internet besonders oft Feindseligkeiten ausgesetzt . Die Abkürzung steht für lesbische, schwule, trans- und intersexuelle sowie queere Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation definiert Transsexualität als "den Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden".

Durch Gieses Behandlung verändert sich sein Haarwachstum, das Hautbild, die Stimme - ein wenig wie eine zweite Pubertät. Damit die Veränderungen Bestand haben, muss das Hormon ein Leben lang eingenommen werden. Im Netz stößt Giese mit seinem Lebensweg aber auf Unverständnis.

In vielen Fällen reicht schon ein Foto mit zwei sich küssenden Männern, ein Urlaubsfoto eines lesbischen Paares, oder, wie in Gieses Fall, ein Outing als Transmann. Dann folgen online tagelang Belästigungen. "Ich hatte vorher keine Ahnung, dass "Trans" so ein Buzzword sein würde", erzählt Giese. Heute vergeht kein Tag, an dem ihn nicht irgendein Mensch absichtlich mit dem falschen Pronomen anschreibt.

Trolle veröffentlichen seine Arbeitsadresse im Netz

Begonnen haben die Bosheiten im Dezember, da fand der Chaos Communication Congress, die Messe des Chaos Computer Clubs (CCC), statt. Auf Twitter hatten einige User den Hashtag der Veranstaltung gekapert und unter diesem Tweets wie "Mein Trans-Sohn darf hier nicht auf die Toilette gehen" abgeschickt. Sie wollten sich damit über das Thema lustig machen, auf dem Kongress gibt es Unisex-Toiletten. Giese wusste das jedoch nicht. Er verbreitete die Tweets und fragte besorgt nach, wie das denn sein könne.

Mit seiner Reaktion machte er eine Heerschar von boshaften Kommentatoren und Online-Trollen auf sich aufmerksam. Sie fanden heraus, wo er arbeitet, veröffentlichten die Adresse im Internet.

Eine Anzeige läuft ins Leere

Es ist Mittagspause, Linus Giese sitzt im Lagerraum der Buchhandlung. Hier stehen Kisten, Bücher, Wasserflaschen. Aber auch eine Spüle, ein Wasserkocher, eine Kiste mit Tee. Und ein kleiner Tisch mit zwei Sesseln. Giese öffnet wieder Twitter. Wieder hat er viele Mitteilungen bekommen. "Wie würde wohl ein Männer-Vergewaltiger reagieren, wenn er dich erwischen würde?"

Als im Dezember die ersten feindseligen Nachrichten kommen, reagiert Giese noch empfindlich. Kann für Tage an nichts anderes mehr denken. Inzwischen sei er jedoch etwas abgestumpfter, sagt er. Damals hatte er mehrere Twitter-User anzeigen wollen. Eine Polizistin hat sich daraufhin an Twitter gewandt. Doch das Unternehmen hat nichts unternommen, keine Daten herausgegeben.

"Schaut, wie euer Mitarbeiter nackt aussieht", steht in einer E-Mail

Nach der Pause steht Giese wieder im Laden. Verkauft Bücher an Menschen, die "etwas für einen 30-jährigen Mann suchen". Wenn die Kommentare im Internet besonders schlimm sind, beschäftigt ihn das auch während der Arbeit. Nimmt einen Teil seiner Gedanken ein. Zumal sich die Boshaftigkeit aus dem Internet auch schon bis in den Laden erstreckt hat. "Vor einigen Tagen habe ich ein Oben-ohne-Bild ins Internet gestellt."

Er habe zeigen wollen, wie ein Transmann aussehe, der noch nicht operiert worden sei. Dieses Bild hat jemand heruntergeladen und als E-Mail-Anhang an das Geschäft geschickt. "Schaut, wie euer Mitarbeiter nackt aussieht", stand da. In diesem Fall hat Twitter reagiert - und Giese selbst sanktioniert. Seit diesem Zeitpunkt werden seine Bilder als sensibles Material eingestuft. Sie werden nicht mehr an alle User ausgespielt. "Das hat sicherlich damit zu tun, dass ich ein Transmann bin", glaubt er.

Ignorieren oder sich zurückziehen? Für Giese keine Option

Neben der Abscheu und den Versuchen, ihn mental zu verletzen, sind es aber auch oft die gut gemeinten Ratschläge, die Giese ärgern. Es sei ja kein Wunder, dass das passiere, wenn er sich so offen zeige. Dass er doch nicht so viel Angriffsfläche bieten solle. Wenn er dann Hasskommentare retweetet, reagieren einige mit Unverständnis. Er solle das doch einfach ignorieren. "Immer wieder bekomme ich zu hören, dass ich mein Privatleben doch nicht so zur Schau stellen solle. Aber es ist nicht privat, es geht um meine Identität, nicht meine Sexualität. Die Angriffsfläche ist mein Leben."

Jeden Tag ist da auch die Angst im Hinterkopf, dass irgendwann doch so ein Kommentator im Geschäft stehen könnte. Die Gewalt nicht mehr nur über die Tastatur zum Ausdruck kommt. "Ich werde aber trotzdem weiterhin über mich und mein Leben schreiben", betont Linus Giese. Es gehe ihm um Sichtbarkeit, nicht um Narzissmus. Sichtbarkeit im Netz ist für ihn auch Aufklärung, der alltägliche Umgang mit etwas vermeintlich Fremden.

Er dokumentiert seine Erfahrungen mit Testosteron ebenso wie die Tage, an denen er sich über neue Kleidung freut oder gerade ein schönes Buch durchgelesen hat. Doch die Ressentiments ziehen sich inzwischen durch all diese Konversationen. "Ich kann kaum mehr etwas im Internet diskutieren, ohne dass jemand kommt und mir sagt, dass ich kein Mann bin."

"Einige Leute tun so, als hätte ich einen Gehirntumor"

Ebenso wie über sein Leben schreiben, wird Giese aber wohl auch weiterhin diese Kommentare lesen - auch, wenn er jeden Tag mehrmals darüber nachdenke, seine Accounts zu löschen. Inzwischen hat er einem Freund sein Passwort zu Twitter gegeben. Der schaut ab und zu mal in die Mitteilungen, filtert die schlimmsten Kommentare raus, damit Giese sie nicht sehen muss.

Unterstützung bekommt Giese auch von seiner Mitbewohnerin, die mit ihm über die problematischen Nachrichten spricht. Auch online konnte er ein Netzwerk aufbauen, das ihn immer wieder mit positiven Kommentaren aufmuntert.

Was er sowohl seinen Followern in den sozialen Medien als auch den Menschen außerhalb des Internets sagen möchte: "Einige Leute tun so, als hätte ich einen Gehirntumor. Sie nehmen Anteil, sprechen ihr Mitleid aus. Aber ich mag mein Leben doch, finde mich selbst okay." Er hat die Entscheidung getroffen, sich zu outen. Offen damit umzugehen in den sozialen Medien.

Das ist ohnehin kein einfacher Weg. Doch wird er ungemein schwerer durch die Menschen, die ihre gesamte Energie darauf zu verwenden scheinen, online zu hassen. Jetzt ist Feierabend.

Video: Leben als Transgender

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