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"WAZ"-Neustart im Netz Ganz, ganz tief im Westen

Viele Gerüchte, viel Quatsch: Als die "WAZ"-Gruppe den Aufbau ihres neuen Portals an eine Bloggerin übergab, wähnten manche den Untergang des Lokaljournalismus gekommen. Tatsächlich zeigt "DerWesten", wie Regionalzeitungen im Web bestehen können - ohne ihre Seele zu verlieren.

Essen - Katharina Borchert arbeitet in einem Aquarium an der Friedrichstraße in Essen. So fühlt sich das zumindest an, sitzt man in diesem hell erleuchteten Glaskasten.

Draußen ziehen die Besuchergruppen vorbei: Rentner, Arbeiter, vor allem aber Schüler und Studenten. Sie umstellen die Redaktionstische im nagelneuen Newsroom, in dem Monitore von der Decke hängen und eng gesetzte Teams an der Zukunft der "WAZ" schrauben, am neuen Web-Auftritt, ach was, was soll das Understatement: an der Zukunft der Regionalzeitungen im Internet.

Kaum zu glauben: Seit die Redaktion "DerWesten" funkelnagelneue Räume im Verlagshaus bezogen hat, verfügt dieses über eine Art Touristenattraktion.

Altgediente WAZ'ler spielen Fremdenführer. Nach einigen Minuten ist die Redaktionsshow vorbei, weiter geht es in den War-Room, wo Vermarkter, Produkt-Manager, Techniker und Grafiker in einem scheinbaren Nonstop-Brainstorming am Produkt feilen. Noch geht das, es ist Mittwoch, der 24. Oktober 2007, doch die Uhr tickt: "Montag", sagt Katharina Borchert. Montag ist der große Tag.

Denn am 29. Oktober geht endlich "DerWesten" online.

Für die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" ist das ein großer Tag. Es ist nicht der erste Versuch von Deutschlands mächtigstem Regionalzeitungsverlag, sich online adäquat zu präsentieren. Bisher jedoch war alles halbherzig, weitgehend erfolglos, verschnarcht oder verquer. "In Nordrhein-Westfalen", sagt Borchert, "kennt jeder die 'WAZ' und ihre Zeitungstitel. Im Internet kennt sie niemand."

Kein Wunder. Dass ausgerechnet die in der Region als katholisch-langweilig verschriene "Rheinische Post" zu den Internet-Pionieren in Deutschland zählte, während die "WAZ" dort nur das Gewicht einer nordfriesischen Anzeigenzeitung hatte - es kostete den Verlag Image-Punkte bei den Jungen. 2005 wechselte Ulrich Reitz, damals Chef eben der "RP", auf den Chefsessel der "WAZ". Im Jahr darauf warb er Katharina Borchert alias "Lyssa" an, die sich als auch journalistisch schreibende Bloggerin einen Namen gemacht hatte. Ihre Mission: der "WAZ" einen neuen Online-Auftritt zu konzipieren.

Eine eierlegende Wollmilchsau, ein Projekt ohne Konkurrenz

Dass Reitz fast zeitgleich sieben Lokalredaktionen strich und in einer amorphen Regionalredaktion zusammenfasste, wurde in der Öffentlichkeit mit dem zunächst "WestEins" genannten Borchert-Projekt verbunden. Jetzt streicht die "WAZ" Redakteursstellen und schließt Lokalredaktionen, hieß es, und lässt dafür irgendwelche Blogger schreiben. Borcherts Augen werden kurz kalt, spricht man das an. Sie hat es zu oft gehört, es nervt sie.

Und es könnte kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein. Was die "WAZ" sich mit "DerWesten" leistet, ist Lokalzeitung und Regionalportal, ist Nachrichten- und Community-Seite mit lokaler Verwurzelung in einem. Es ist eine eierlegende Wollmilchsau, wie sie derzeit keine andere Zeitung in Deutschland zu bieten hat. Das Projekt pflügt einen Zeitungsverlag um, dessen Produkten man die fast sechzig Jahre lange Tradition anroch. "WAZ", das stand über Jahrzehnte synonym für verstaubte Regionalzeitung, für business as usual. Möglicherweise ist das am Montag vorbei.

"Eigentlich", sagt Borchert, "machen wir zunächst einmal eine ganz normale Nachrichtenseite."

Hell, zweispaltig und sehr aufgeräumt kommt die daher. Im Vergleich zu den meisten Nachrichtenseiten erscheint sie geradezu reduziert: Eine kleine Auswahl von Artikeln aus verschiedenen Ressorts, zusammengefasst unter "Nachrichten", begrüßt den Leser. Wer mehr will, muss sich auf die Unterseiten einlassen, medientypisch sortiert nach Rubriken wie Sport oder Kultur, nach den Zeitungstiteln, deren Inhalte alle in "DerWesten" einfließen - und natürlich auch nach Regionen. Interessant wird es in der rechten Spalte.

Die ist hier Teil der Navigation. Sie schafft Querverbindungen ins Angebot, die auf Tagging-Mechanismen beruhen: Die meistzitierten Personen oder Firmen sieht man da, regionale oder lokale Kontexte. Ein Klick auf diese Links führt zu dynamisch generierten Übersichtsseiten, auf denen diese Schwerpunktthemen gesammelt stehen. Interessanter noch ist, dass sich diese Funktionalitäten durch das gesamte Angebot ziehen.

So ist Angela Merkel auf der überregional orientierten Hauptseite natürlich eine wichtige Person, auf der Seite von Hattingen, Dinslaken oder Unna ist sie es dagegen nicht: Dort nimmt dann logischerweise der örtliche Bürgermeister, ein gerade in der Diskussion stehender Stadtabgeordneter oder der Metzger, der das Gesundheitsamt am Hals hat, diese Rolle ein. Den Mittelpunkt der Welt, den Ort der Perspektive, gibt der Leser vor. Denn der sucht sich selbst aus, von wo aus er die Welt betrachtet.

Die Gnade des Spätstarts: Wo andere Web 2.0 erst integrieren müssen, ist es hier Teil des Konzepts

Das zweite "Web 2.0"-Element im Angebot ist Geo-Tagging. Die Nachrichten sind mit Orten verknüpft, und wo das nicht so ist, kann der Leser dafür sorgen. Er kann sie kommentieren, wenn er will. Er kann in seinem Blog - im optisch vom Hauptangebot abgesetzten, aber voll integrierten Community-Bereich - selbst darüber schreiben. Den angemeldeten Leser begleitet eine Karte des Ruhrgebiets durch das Angebot, die nicht nur ihn selbst geografisch verortet, sondern ihm auch zeigt, wer in seinem Umfeld noch so alles aktiv ist - und vor allem, was dort los ist.

So wird das Klicken in der Karte zur alternativen Navigation: Im Idealfall entdeckt man so, dass vier Straßen entfernt am Dienstagabend ein interessantes Konzert steigt. Oder, dass der Stadtrat gerade beschlossen hat, vor der Haustür den Kanal aufzureißen. Nachrichten, Service und Kontakte werden zu Assets einer ganz persönlichen Umgebung.

Das ist das genaue Gegenteil einer Entfernung vom lokalen Kontext, die man dem "Westen" vorab unterstellt hatte. Viel tiefer kann man sich online in einer Region kaum verwurzeln. Beeindruckend geschickt führt "DerWesten" dabei Zeitungsinhalte, Beiträge der Online-Redaktion und Community-Beiträge zusammen, ohne sie über Gebühr zu vermengen.

Zumindest in der Theorie, denn wo soll all der wertvolle Content denn herkommen?

Borchert ist sich sicher, dass es klappt. "Wir haben in den letzten Wochen fast 900 Redakteure geschult", sagt sie. Einmal quer durch alle Hierarchien, alle Lokalredaktionen. Denn alle WAZ'ler sind am "Westen" beteiligt.

Das Ziel: Online völlig neue Leser

"Fünf Artikel", erklärt Borchert, "sollte jede Lokalredaktion am Tag beisteuern." Das ist eine Unmenge Holz, denn die "WAZ"-Gruppe hat allein 94 Lokalredaktionen, die 140 Städteseiten bestücken. Dazu kommen noch vier Mantelredaktionen, mittelfristig sollen auch die Radiosender zum Angebot beitragen. Damit das alles klappt, sitzt in jeder Redaktionskonferenz, in jedem Newsroom ein Redakteur, der die Verbindung zur Online-Redaktion hält.

Die produziert letztlich eine Art Mantelseite, auf der die tagesaktuell wichtigen Nachrichten abgebildet werden - und mehr. Denn Borchert will mit dem 20 Köpfe starken Team, in dem tatsächlich die Frauen überwiegen, vor allem auch "die schönen Geschichten" machen, "die auch eine etwas längere Halbwertszeit haben".

Inwieweit das gelingt, wird man abwarten müssen: Bisher macht das Angebot vor allem in den Tiefen, in den Regionen und in der Community einen sehr starken Eindruck, während sich das auf der sehr reduzierten Hauptseite nicht unbedingt erschließt. Aber die "WAZ" ist auch nicht CNN, sondern eine Regionalzeitung: Auch "DerWesten" wuchert mit diesem Pfund - konsequenter hat das online noch niemand versucht.

Genau da liegt auch Borcherts Ehrgeiz. Sie will "die meistgelesene Webseite in der Region" produzieren. Dass das Nachrichten-Frontend den Print-Redaktionen der Gruppe Konkurrenz macht, lässt sie nicht gelten: "Wer online Nachrichten lesen will, kriegt die überall. Er fängt ja nicht wieder an, Zeitung zu lesen, nur weil wir nichts tun."

Aber vielleicht, weil "DerWesten" die Zeitung erst bekannt macht. Derzeit, sagt Borchert, seien "rund 50 Prozent" aller Online-Leser der "WAZ"-Gruppe Abonnenten der Blätter. Da will sie weg: "Fünf bis zehn Prozent wären gut, denn das würde heißen, dass wir online völlig neue Lesergruppen erschlossen hätten."

Montag geht's los.