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Kindsmord-Prozess gegen Silvio S. "Er hätte nie aufgehört"

Ein Gutachter hält den mutmaßlichen Kindsmörder Silvio S. für voll schuldfähig, die Anklage fordert für die "Bestie in Menschengestalt" die Höchststrafe. Das Motiv? Sexueller Frust und ein guter Zugang zu Minderjährigen.
Silvio S. vor Gericht

Silvio S. vor Gericht

Foto: Ralf Hirschberger/dpa

Silvio S. will nicht hinsehen. Und am besten auch nicht hinhören. Er starrt auf den Boden, die Hände gegen die Ohren gepresst, die Unterarme umschließen seinen Kopf. Er ist angeklagt, die beiden Jungen Elias und Mohamed S. entführt und umgebracht zu haben.

Und nun steht ihm im Landgericht Potsdam Staatsanwalt Peter Petersen gegenüber, der sagt, S. habe "das Schlimmste getan, was man einem Menschen antun kann, ob Sie das hören wollen oder nicht, Herr Angeklagter S."

Gut eine Stunde plädiert Petersen. Er fordert eine lebenslange Haftstrafe und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Silvio S. habe beide Jungen getötet, um den vorherigen schweren sexuellen Missbrauch zu verdecken. Zudem beantragt Petersen, das Gericht solle die Sicherungsverwahrung anordnen. Er ist überzeugt, Silvio S. "wäre ein Serientäter geworden, er hätte nicht aufgehört."

Puppe aus dem Entführerauto

Puppe aus dem Entführerauto

Foto: Ralf Hirschberger/ dpa

Tatsächlich wollen Ermittler anhand eines Bewegungsprofils prüfen, ob S. weitere Taten begangen haben könnte.

Wer ist der Mensch, der auf der Anklagebank sitzt und nichts hören und sehen will? Im Prozess hat Silvio S. bislang geschwiegen. Aber er hat sich über zwei Tage fünf Stunden lang mit dem forensischen Psychiater Matthias Lammel unterhalten. Vor Petersens Plädoyer stellte er sein Gutachten vor.

Demnach wuchs Silvio S. nicht in zerrütteten familiären Verhältnissen auf. Laut Lammel war er nie in psychiatrischer Behandlung, es gab keinen Drogenmissbrauch, keine Suizidversuche, keine Medikamenteneinnahme.

Silvio S. habe auch keine geminderte Intelligenz, wohl aber eine Persönlichkeitsstörung: Er sei ängstlich vermeidend, habe kein Selbstvertrauen, ein negatives Selbstbild, Angst vor Kritik und Ablehnung und sei extrem kontaktscheu. Seine Handlungs- und Steuerungsfähigkeit sei dadurch allerdings nicht eingeschränkt gewesen - Silvo S. demnach voll schuldfähig.

Anders als Petersen konnte Lammel nicht erkennen, dass bei Silvio S. eine Sicherungsverwahrung angebracht wäre: "Den Hang zu gefährlichen Straftaten kann ich nicht bejahen."

Ein Außenseiter, gehänselt, ohne Freunde

Für Lammel ist Silvio S. ein lebenslanger Außenseiter mit dem Bedürfnis nach Nähe und Kontakt, aber nicht willens oder fähig, auf andere zuzugehen. Aus Angst vor Einsamkeit ließ er sich immer wieder breitschlagen, bei Party- oder Discobesuchen den Fahrer für Bekannte zu spielen - selbst wenn er das Gefühl hatte, ausgenutzt oder für dumm gehalten zu werden.

Seit seiner Kindheit stand Silvio S. am Rand, hatte kaum soziale Kontakte. Er habe "die Außenseiterrolle verinnerlicht", sagte Lammel. In der Schule gehänselt, ohne Freunde, zeigte S. keinen schulischen Ehrgeiz, machte 2000 seinen Abschluss mit der Durchschnittsnote 3 - zu schlecht, um den Wunschberuf des Kfz-Mechanikers zu erlernen.

Programmiertes Scheitern

Zwei Ausbildungsversuche als Koch in St. Peter-Ording und im Schwarzwald endeten nach wenigen Tagen. S. wurde für zu langsam, zu schwerfällig, zu dumm befunden. "Das Scheitern war vorprogrammiert", sagt Lammel. Schließlich machte S. eine Ausbildung als Fliesenleger, seinen Gesellenbrief bekam er 2004. Ein Berufseignungstest attestierte ihm fehlende Schnelligkeit; S. könne nicht unter Druck arbeiten.

Eine Stelle fand er nicht. Es folgten Praktika, Kurzzeitjobs und Phasen der Arbeitslosigkeit. 2008 schulte S. zum Wachmann um und begann bei einer Firma in Teltow zu arbeiten. Die Stelle passte zu S.: Nachtdienst, Objektschutz, kaum Kontakt zu Menschen. Er verdiente 1000 Euro netto.

Bis zu seiner Festnahme wohnte S. in einem Haus mit seinen Eltern im brandenburgischen Niedergörsdorf, Ortsteil Kaltenborn, 85 Einwohner. Zur Mutter hatte S. ein gutes Verhältnis; die Beziehung zum Vater war distanzierter. Ein Streitpunkt: Der Vater habe nicht gewollt, dass S. seine beiden Zimmer im Obergeschoss abschließe - angeblich, um Gefahren etwa bei einem Brand abzuwehren.

Tatsächlich war Silvio S. laut Lammel überzeugt, dass sein Vater die Zimmer kontrollierte. "Das wurde grollend hingenommen", sagt Lammel. Silvio S. wollte sich einen Rückzugsraum schaffen, indem er sich einen Kleingarten in Luckenwalde mietete. Dort wurde später Elias' vergrabene Leiche gefunden.

Sexueller Frust und der Umstand, "gut mit Kindern zu können"

Silvio S. wurde nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft zum Mörder, weil zwei Faktoren zusammenkamen: sexueller Frust und der Umstand, "gut mit Kindern zu können". S. war laut Staatsanwalt Petersen eine "tickende Zeitbombe, die durch Niedergörsdorf und Kaltenborn läuft". Es sei nur noch eine Frage der Zeit gewesen, wann sie explodiere.

Sex kannte Silvio S. nur aus Pornofilmen. Gutachter Lammel zufolge lieh er sich welche aus oder bestellte sie, etwa 20 Stück hatte er zu Hause. S. hatte nach eigenen Angaben nie eine sexuelle Beziehung mit einer Frau. Den Besuch bei einer Prostituierten lehnte er ab, man müsse sich doch erst kennenlernen.

Hinweise, er solle sich ordentlicher anziehen, dann finde er auch eine Freundin, beantwortete S. mit dem Satz: "Die kriege ich sowieso nicht." Es sei ihm schleierhaft, wie man eine Beziehung zustande bringen solle. Sein Sexualleben bestand aus Selbstbefriedigung.

Irgendwann muss der sexuelle Drang in Silvio S. übermächtig geworden sein. "Ich will Sexualität, bekomme sie aber mit Frau und Männern nicht zustande", beschrieb Lammel die Gefühlslage des Angeklagten. Es blieben Kinder, ganz gleich ob Junge oder Mädchen, die leichteren Opfer, einfacher zu beherrschen. "Kinder stellen Herrn S. nicht in Frage, sind offenherzig, geben Zuwendung, man muss keine Angst vor Zurückweisung haben", sagte Lammel. Bei Silvio S. gebe es keine Hinweise auf Pädophilie.

"Ich bin an das Böse geraten"

Wenn Silvio S. Sexualkontakte mit "Menschen aus Fleisch und Blut" wollte, sei bei Kindern der geringste Widerstand zu erwarten gewesen. Um jeden Widerstand zu brechen, besorgte sich der Mann Handfesseln, ein Stiffneck zur Fixierung des Kopfes, Mundknebel und eine Maske - letztere war im Gerichtssaal an einer lebensgroßen Puppe ausgestellt. Silvio S. sah sie nicht an.

Laut Lammel stellte er moralische Erwägungen zurück. Nachdem er Mohamed bei sich zu Hause missbraucht hatte, musste S. zur Arbeit. Es bestand die Gefahr, dass sein Vater den Jungen entdeckt hätte. Also musste Mohamed sterben.

Und Elias? Der Sechsjährige hätte nach dem laut Gutachten anzunehmenden Missbrauch leicht den vermeintlichen "netten Onkel", dessen Auto beschreiben können. Also habe Silvio S. ihn erstickt, sagt Staatsanwalt Petersen. Elias müsse das Gefühl gehabt haben: "Ich bin an das Böse geraten", an eine "Bestie in Menschengestalt".