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Öffentliche Videoüberwachung Mit Sicherheit weniger Freiheit

Darf die Polizei die Hamburger Reeperbahn mit Kameras überwachen, um die Kriminalität einzudämmen? Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet über die Klage einer Anwohnerin. Das Urteil hat Signalwirkung, denn es geht um nicht weniger als die Frage: Freiheit oder Sicherheit?
Von Simone Utler
Überwachungskamera auf der Reeperbahn: Eine Frage der Sicherheit

Überwachungskamera auf der Reeperbahn: Eine Frage der Sicherheit

Foto: Christian Charisius/ dpa

Hamburg - Alja R. wohnt in der zweiten Etage eines Mietshauses. Ihre Wohnung liegt auf der Vorderseite. Das Treppenhaus ist von der Straße einsehbar, am Eingang ist eine Metallgittertür, im Erdgeschoss sind Räume für Discotheken. Soweit ist die Wohnlage noch nicht ungewöhnlich, doch Alja R. wohnt nach Überzeugung der Hamburger Innenbehörde mitten in einem Kriminalitätsbrennpunkt. Sie lebt auf der Reeperbahn, am westlichen Ende der Amüsiermeile.

Mit der wachsenden Kriminalität auf dem Kiez argumentierte die Innenbehörde, als sie im März 2006 dort zwölf Überwachungskameras installieren ließ. Insgesamt 620.000 Euro gab die Stadt dafür aus. Die Kameras können um 360 Grad geschwenkt und variabel geneigt werden, sie verfügen über eine Zoomfunktion und können Bilder in die Einsatzzentrale liefern, in der Polizisten das Filmmaterial rund um die Uhr kontrollieren können.

Eine der Kameras wurde in unmittelbarer Nähe von Alja R.s Haus aufgestellt, auf dem begrünten Mittelstreifen der Reeperbahn, genau in Höhe von R.s Wohnung. Die Kamera konnte in die Fenster schwenken, sie konnte den Hauseingang filmen, die metallene Eingangstür, die Straße vor dem Haus, und alle Menschen, die dort entlanggingen. Einzige Einschränkung: Eine sogenannte Schwarzschaltung sorgte dafür, dass die Kameras keine Aufnahmen machte, sobald Fenster oder Balkone der Wohnhäuser in den Fokus gerieten.

R. ging das aber nicht weit genug, sie fühlte sich überwacht und verklagte die Freie und Hansestadt Hamburg. R.s Ziel: Die Kameras sollten verschwinden, nicht nur vor ihrer Wohnung, sondern auch im öffentlichen Straßenraum.

"Ihre Entscheidung, wer das zu sehen bekommt"

"Wenn die Polizei eine Wohnumgebung flächendeckend beobachtet, führt das zu einem permanenten Überwachungsgefühl", sagt R.s Anwalt Dirk Audörsch. "Es ist komplett ersichtlich, wie und wann man sich vom Haus wegbewegt oder zurückkehrt, ob man die Einkaufstasche eines Discounters oder einer Boutique trägt." Seine Mandantin wisse auf dem Kiez nie, ob sie nicht doch in die Kameras lächele. "Die Lebensqualität der Anschrift Reeperbahn ist eingeschränkt."

Die Mieterin beruft sich auf ihr Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung. "Ob sie frisiert oder ungeschminkt oder händchenhaltend auf der Straße unterwegs ist - es ist ihre Entscheidung, wer das zu sehen bekommt oder überwacht", erläutert Anwalt Audörsch.

Der Fall kam vor das Hamburger Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht, nun liegt er in Leipzig beim Bundesverwaltungsgericht. An diesem Mittwoch wird verhandelt, eventuell verkünden die Richter noch am Abend ihr Urteil. Es geht um nicht weniger als die Frage, was schwerer wiegt: Freiheit oder Sicherheit?

Wie so oft im Verwaltungsrecht ist der Fall komplex, da es nicht nur um inhaltliche, sondern auch um formelle Fragen geht. Die Richter müssen nicht nur darüber beraten, ob R. in ihren Rechten verletzt wurde. Sie werden auch grundsätzliche Fragen berühren. Hatte Hamburg überhaupt die rechtliche Befugnis, die öffentliche Videoüberwachung zu ergreifen?

Wirksamkeit als Präventionsmaßnahme ist umstritten

Für öffentliche Kameraüberwachung gibt es keine bundesweit einheitliche Regelung. 1996 nahm Leipzig das erste von der Polizei kontrollierte System in Betrieb. In Hamburg ließ der damalige Innensenator Udo Nagel, CDU, im März 2006 auf der Reeperbahn und ein Jahr später im nahe dem Bahnhof gelegenen Viertel St. Georg Kameras installieren - nach mehreren Fällen von Körperverletzung auf dem Kiez. Grundlage war ein neues Landespolizeigesetz, das die öffentliche Videoüberwachung an sogenannten Kriminalitätsschwerpunkten erlaubte.

Nagel und andere Verfechter von Überwachungskameras führten vor allem ein Argument ins Feld: Mit Hilfe der Kameras könnte die Zahl von Gewalttaten und anderen Verbrechen reduziert werden.

Doch die Wirksamkeit von Überwachungskameras ist durchaus umstritten. Nach Ansicht des Hamburger Datenschutzbeauftragten Johannes Caspar konnte in der Hansestadt die präventive Wirkung nicht bewiesen werden. "Im Bereich der Reeperbahn war nicht etwa ein Rückgang, sondern eine Steigerung der Straftaten gegen die körperliche Integrität im Überwachungszeitraum zu verzeichnen", führt Caspar aus. Die Hamburger Innenbehörde argumentierte, in der Kriminalitätsstatistik seien nur deswegen mehr Straftaten erschienen, weil sie mit Hilfe der Kameras bekannt geworden waren.

Caspar räumt ein, dass durch die Videoüberwachung die Aufklärung von begangenen Straftaten erleichtert werde. Die Maßnahme stelle aber einen "Eingriff mit großer Streubreite" dar, der häufig in keiner Beziehung zu einem konkreten Fehlverhalten der betroffenen Personen stehe. Mit anderen Worten: Die Freiheit wird unverhältnismäßig stark eingeschränkt.

Das aufgezeichnete Bildmaterial könne zudem in vielfältiger Weise ausgewertet, bearbeitet und mit anderen Informationen verknüpft werden. "Im Extremfall können die Informationen zu einem Bewegungs- und Verhaltensprofil des Einzelnen verdichtet werden", so der Datenschutzbeauftragte. Laut Bundesverfassungsgericht stellt die Videoüberwachung Unbeteiligter einen schweren Eingriff in das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung dar.

R. bekam in der zweiten Instanz in Teilen Recht. Das Hamburger Oberverwaltungsgericht entschied im Juni 2010, die Stadt müsse die Videoüberwachung des Eingangsbereichs von R.s Haus unterlassen.

Als Folge stellte die Stadt im Juli 2011 alle zwölf Kameras auf der Reeperbahn ab. Es mussten so viele Bereiche geschwärzt werden, dass die Überwachung keinen Sinn mehr gemacht habe, hieß es. "Aufwand und Nutzen hielten sich nicht mehr die Waage", sagte Polizeisprecherin Ulrike Sweden damals.

Heute hängen auf dem Kiez zwar immer noch die eckigen gelben Schilder mit dem schwarzen Symbol einer Kamera - allerdings ist dieses durchgestrichen. Die grauen Kameras sind für jeden sichtbar nach unten geschwenkt worden, "anlassbezogen" können sie laut Polizei jedoch jederzeit wieder angeschaltet werden. Die Hamburger Innenbehörde will das letztinstanzliche Urteil aus Leipzig abwarten.

Sollte das Bundesverwaltungsgericht entscheiden, dass die Videoüberwachung öffentlicher Räume auf Grundlage eines Landespolizeigesetzes nicht rechtens ist, würde das auch andere Städte betreffen. Sie müssten schnell ihre Kameras abschalten, um eine Klagewelle und damit verbundene Kosten zu vermeiden.

Anwalt Audörsch hofft auf eine grundsätzliche Entscheidung. "Ich bin ein Verfechter von Freiheit statt Angst", sagt der Hamburger Anwalt. Die Angst vor Straftätern und der Wunsch Täter zu überführen, dienten als Argument zu einer Beschneidung der Freiheitsrechte.

Dabei gebe es wirksamere Methoden: "Ein vernünftiges Sozialrecht ist das beste Gefahrenabwehrrecht." Die Stadt Hamburg hätte die 620.000 Euro statt in Kameras lieber in Sozialmaßnahmen wie Straßensozialarbeiter investieren sollen. Schon zu Zeiten Bismarcks, als das Sozialrecht aus dem Polizeirecht gelöst wurde, sei klar gewesen: "Wir müssen den Menschen etwas zu essen geben, dann müssen sie nicht kriminell werden."

mit Material von dpa