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Neujahrsbräuche Strapse statt Böller

Sekt schlürfen, Bleigießen, Raketen zünden – das machen die meisten Deutschen an Silvester. Doch wie wird das neue Jahr anderswo begrüßt? SPIEGEL ONLINE zeigt, welche Rolle rote Reizwäsche, Whisky mit Ei und mit Geld gefülltes Brot in Neujahrsbräuchen anderer Länder spielen.
Von Florian Harms

Hamburg - Ob in Hamburg oder München, in Chemnitz oder Köln - eigentlich ist es jedes Jahr dasselbe Spektakel: Das Sektglas in der einen Hand, Wunderkerze oder Feuerzeug für den nächsten Böller in der anderen, prosten die Bundesbürger einander zu und wünschen sich "ein gutes Neues". Hinterher schenkt man noch mal nach, zündet eine weitere Rakete, schwingt vielleicht das Tanzbein oder zappt sich durch die Fernsehprogramme. Dabei werden weitere Flaschen entkorkt, und spätestens beim Katerfrühstück am Neujahrsnachmittag sind alle guten Vorsätze für das neue Jahr im trägen Gedankenbrei versickert. Alles in allem nicht gerade originell, aber eine irgendwie lieb gewonnene Gewohnheit.

Dabei spielt es für die meisten Menschen keine Rolle, die Ursprünge dieser Silvesterrituale zu kennen. Oder wussten Sie, dass die historischen Wurzeln des Feuerwerks, für das hierzulande Jahr für Jahr über 60 Millionen Euro verpulvert werden, bis in die "Rauhnächte" der Germanen zurückreichen, die mithilfe von Rasseln und Peitschen böse Geister vertrieben? Wussten Sie, dass diese eher klobigen Instrumente im Mittelalter von Trommeln und Trompeten abgelöst und jene wiederum nach der Erfindung des Schwarzpulvers in der Renaissance durch Gewehr- und Kanonenschüsse ersetzt wurden?

Hatten Sie geahnt, dass das bis heute in vielen Familien gepflegte Bleigießen vermutlich auf antike Orakelbräuche zurückgeht, mit denen schon die Menschen des Altertums Vergangenes hinter sich ließen und zugleich einen Blick in die Zukunft erheischen wollten? Wussten Sie, dass die Sitte, einen neuen Lebensabschnitt mit einem oder besser mehreren ordentlichen Schlucken Hochprozentigem zu besiegeln, bereits...

Aber genug der Belehrung, kommen wir zum eigentlichen Anliegen dieses Textes: dem Blick über unsere Grenzen. Gibt es einen besseren Anlass als ein neu beginnendes Jahr, anderen Völkern dieser Welt auf die Finger und in die Gläser zu schauen, ergo: zu erfahren, wie sie denn nun den Jahreswechsel begehen? Bühne auf für einige der originellsten Neujahrsriten Europas!

Rote Strapse in Italien

Rote Strapse in Italien

Die Italiener gehen die Silvesternacht heiß an. Früher warfen die Menschen in Städten wie Neapel oder Florenz ihre alten Kleider auf die Straße - heute werfen sie mit Böllern und Flaschen. Besonders gern in kleinen Altstadtgässchen, in denen der Radau so richtig schön von den Wänden widerhallt. Wer da an der falschen Stelle steht, muss mit Schrammen rechnen. Schöner ist ein anderer Brauch, der ebenfalls mit Kleidern zu tun hat und in Rom entstanden sein soll: Als Glücksbringer und Liebesbotschaften schenkt man einander rote Unterwäsche - ob Schlüpfer, BH oder Boxershorts - und probiert sie in der Nacht der Nächte gleich aus. Bis man sie wieder auszieht. Oder sie einem ausgezogen werden.

Jeder Schlag eine Traube in Spanien

Jeder Schlag eine Traube in Spanien

Ein ausgefeiltes Silvesterritual pflegen auch die Spanier: Kurz vor Mitternacht versammeln sich Tausende auf den Kirch- oder Rathausplätzen - etwa der Puerta del Sol in Madrid. Zeitgleich mit jedem der zwölf Glockenschläge futtern sie dann jeweils eine Weintraube und formulieren dabei im Geiste einen Wunsch nach dem anderen. Wer sich verschluckt, zu langsam mümmelt oder beim Schnellwünschen durcheinander kommt, hat es versiebt: Er wird das ganze nächste Jahr Pech haben. Allen anderen gehen ihre Wünsche selbstverständlich in Erfüllung. So einfach ist das.

Gruselpunsch in Schottland

Gruselpunsch in Schottland

Dass die Schotten Menschen aus echtem Schrot und Korn sind, wussten wir schon länger. Aber jener Punsch, den sie sich sowie jedem Fremden, der an ihre Tür klopft, zum Neujahrsfest "Hogmanay" auftischen, lässt uns dann doch staunen: Der "Hot Pint" besteht aus Starkbier (lecker), Whisky (auch lecker) und - Eiern (lecker?). Dazu schmausen die Schotten "Black Bun", eine Art überbackenen Früchtekuchen, und "Haggis", gefüllte Schafsmägen. Wer so ins neue Jahr startet, den kann eigentlich nichts mehr schrecken, oder?

Essend reich werden in Griechenland

Essend reich werden in Griechenland

Die Griechen haben eine geheimnisvolle Silvestersitte: Punkt Mitternacht wird in den Familien das nach einem Heiligen benannte "Basiliusbrot" angeschnitten. In jedem Laib ist eine Gold- oder Silbermünze versteckt. Wer sie findet, ist ein Glückskind. Und ein kleines bisschen reich(er).

Maximales Getöse in der Schweiz

Maximales Getöse in der Schweiz

Sie hören es zwar nicht immer gern, aber sie sind den Deutschen doch recht ähnlich, die Schweizer. Auch an Silvester. Denn da kommt es von Graubünden bis zum Jura vor allem auf eines an: ordentlich Krach machen. Böller jeder erdenklichen Art helfen dabei. Im Kanton Appenzell stromern als Kobolde und Dämonen verkleidete Jugendliche umher und vertreiben die bösen Geister mit Glocken und Jodelgesängen. Eine herrliche Kakophonie!

In Russland kommt es auf die Füllung an

In Russland kommt es auf die Füllung an

Die Russen pflegen eine Tradition, die vor allem Kinderherzen höher schlagen lässt. Die Legende: Väterchen Frost gleitet auf seinem Pferdeschlitten durchs Land und verteilt gute Gaben. Die Realität: Eltern stopfen ihren Lieblingen nachts bergeweise Lebkuchen und Geschenke unter die Kopfkissen oder häufeln sie neben die Betten. Am Neujahrsmorgen gibt es dann ein großes Hallo.

Auf die Teller kommen anschließend "Pelmeni" genannte Teigtaschen. Dabei entscheidet die Füllung: Eine Münze bedeutet Wohlstand, ein Püppchen kündigt Nachwuchs an, und gewöhnliches Hackfleisch steht für - gewöhnliches Hackfleisch. Schmeckt zwar gut, hat aber nichts zu bedeuten. Schön, wenn alles so einfach ist.

Deutschland vor 200 Jahren

Deutschland vor 200 Jahren

Zu guter Letzt werfen wir einen Blick zurück: Gibt es in Deutschland wirklich keine anderen Silvesterbräuche als Böllern, Picheln, Bleigießen und seit einigen Jahren "Dinner for one" gucken? Natürlich gibt es sie, nur sind sie in den meisten Gegenden aus der Mode gekommen.

Vor 200 Jahren war das noch ganz anders. Damals verbrannte man beispielsweise in Berlin in der Neujahrsnacht alte Kleider, um Schlechtes zu vergessen und einen neuen Anfang zu symbolisieren. Gleichzeitig war der Aberglaube verbreitet, dass Wäschewaschen zwischen Weihnachten und Neujahr Unglück bringe.

Im Wendland wiederum bohrten die Hausfrauen in ihr erstes Neujahrsbrot stellvertretend für jedes Familienmitglied ein Loch, rieselten Salz hinein und buken es dann. Wessen Loch danach aufgebrochen war, musste mit einer Erkrankung rechnen. Wessen Loch verbrannt war, sogar mit dem Tod.

Daran gemessen, sind Sekt und Raketen zwar vielleicht nicht so originelle, aber doch ganz heitere Rituale. Also stoßen wir auch an diesem Silvester wieder wie gewohnt an: Prosit Neujahr!

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