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"Jesus wollte diese Kirche nicht"

Theologe Eugen Drewermann über seinen Streit mit den Bischöfen um Jungfrauengeburt, Priesteramt und Abtreibung.

SPIEGEL:

Herr Drewermann, ist Jesus in Bethlehem geboren oder in Nazareth? Am Heiligabend ist in allen Kirchen die Rede von Bethlehem, viele Theologen halten Nazareth für den Geburtsort.

DREWERMANN: Daß Jesus nicht in Bethlehem geboren ist, ist ziemlich sicher. Nazareth wird seine Heimat gewesen sein; ob er dort geboren ist, steht dahin. Ich vermute, daß Jesus weder in dem einen noch in dem anderen Ort geboren ist.

SPIEGEL: Warum nicht in Bethlehem?

DREWERMANN:Dieser Ort wird nur an zwei Stellen des Neuen Testaments genannt. Die Evangelisten Lukas und Matthäus haben die Geburt nach Bethlehem verlegt, um eine Ankündigung des Propheten Micha aus dem Alten Testament auf Jesus zu beziehen: "Du, Bethlehem im Lande Juda! Du bist keineswegs die unbedeutendste Stadt in Judäa, denn aus dir soll der Mann kommen, der mein Volk Israel führen wird."

SPIEGEL: Und warum nehmen Sie an, Jesus sei auch nicht in Nazareth geboren?

DREWERMANN:Auch für Nazareth als Geburtsort gibt es theologische Gründe, die aller Wahrscheinlichkeit nach historisch nicht belegbar sind.

SPIEGEL: Wurde Jesus von einer Jungfrau geboren? Der Paderborner Erzbischof Degenhardt wirft Ihnen vor, diese Frage zu verneinen. Er hat Ihnen unter anderem deshalb die Lehrerlaubnis entzogen und Ihnen angedroht, Sie vom Priesteramt zu suspendieren. Das wäre für die katholische Kirche und ihre Theologie ein Jahrhundertereignis, ein Jahrhundertskandal: Sie würden als erster katholischer Theologe in der Bundesrepublik wegen "falscher Lehre" nicht nur vom Katheder, sondern auch von Kanzel und Altar verbannt.

DREWERMANN:Die Jungfrauengeburt ist nicht als historisches Ereignis aus den Texten des Neuen Testaments zu begründen, sie ist nicht als biologisches Ereignis zu verstehen.

SPIEGEL: Jesus hat also einen leiblichen Vater gehabt?

DREWERMANN: Ja. Jesus ist als Mensch gezeugt und geboren wie jeder andere Mensch auch. Ungewöhnlich war nicht seine Geburt, sondern sein Leben. Um dies zu deuten, haben die ersten Christen die Bilder von der Jungfrauengeburt benutzt, die auf altorientalische Königsvorstellungen zurückgehen. Die Geburtsgeschichten Jesu bei Matthäus und Lukas sind mythennahe Legenden, keine historischen Berichte.

SPIEGEL: Stehen Sie unter den katholischen Theologen mit der Ansicht allein, die Jungfrauengeburt sei kein historisches, kein gynäkologisches Faktum?

DREWERMANN: Es ist umgekehrt. Der Paderborner Erzbischof und die Leute in Rom, die ihn drängen, gegen mich vorzugehen, stehen mit ihren Ansichten ziemlich allein. Was ich sage und schreibe, sagen und schreiben die meisten Theologen, die sich mit dieser Frage befassen. Nur tun sie es nicht vor so großem Publikum, und sie tun es nicht ohne einschränkende Nebensätze, die sie vor der Verfolgung durch ihre Oberhirten schützen sollen.

SPIEGEL: Sind die heutigen Bischöfe, was dieses Thema angeht, so weit hinter der Theologie zurück wie die Bischöfe zur Zeit Galileis hinter der Naturwissenschaft?

DREWERMANN: Zweifellos, und das gilt nicht nur für dieses Thema. Sie wollen den katholischen Christen einen Glauben aufzwingen, der seit mindestens 150 Jahren überholt ist. Sie handeln so, als habe es in dieser Zeit keine historisch-kritische Erforschung der biblischen Texte gegeben.

SPIEGEL: Lassen Sie uns erörtern, wie historisch oder unhistorisch die anderen biblischen Berichte über Jesus sind. Die Evangelisten, die Jesus nicht kannten und ihre Texte 40 bis 60 Jahre nach dessen Tod schrieben, berichten viele Wundertaten: Er habe Dämonen ausgetrieben, Aussätzige, Blinde und Lahme geheilt, zweimal Brot vermehrt und beim erstenmal 5000 Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen gesättigt, Wasser in Wein verwandelt. Er sei auf dem Wasser gegangen und habe Tote auferweckt. Was davon ist wirklich geschehen?

DREWERMANN: Viele Wunderberichte im Neuen Testament lassen von vornherein daran zweifeln, daß sie im historischen Sinn authentisch sind. Die Zweifel beruhen darauf, daß die Berichte zumeist ein formalisiertes, auch in anderen Religionen übliches Schema verwenden, das zunächst die Hilflosigkeit der Menschen dramatisiert, um dann desto großartiger die Wundertaten des Gottesmannes erscheinen zu lassen.

Wunder der Art, wie sie Jesus vollbracht haben soll, wurden auch über die Hauptfiguren anderer Religionen berichtet. Lange vor Jesus hat Dionysos - der griechische Gott des Weins und der Ekstase - Wasser in Wein verwandelt, lange vor Jesus ist Buddha über Wasser gegangen. Lange vor Jesus hat Asklepios, der griechische Gott der Heilkunst, Krankheiten aller Art geheilt.

Und es gibt zudem die jüdischen Parallelen. Die zweimalige Brotvermehrung Jesu steht nur deshalb im Neuen Testament, weil über Moses im Alten Testament Ähnliches berichtet wurde.

SPIEGEL: Nun machen es sich die katholischen Bischöfe einfach. Sie erklären die Wunderberichte in den anderen Religionen für Legenden, die Wunder Jesu für historisch.

DREWERMANN: Wenn sie das tun, ignorieren sie die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung. Und, schlimmer noch, sie verstellen den Zugang zum Verständnis der Texte. Es sind Bilder, die symbolisch zeigen sollen, welche Kraft Jesus gehabt hat, Menschen zu sich selbst zu führen.

SPIEGEL: Wenn es nur Bilder, also keine historischen Berichte sind, dann hat Jesus demnach keine Wunder vollbracht?

DREWERMANN: Ich bin sicher, daß die Person Jesu faszinierend auf Menschen gewirkt hat, so daß er subjektiv als befreiend, als ermutigend, als Ängste beseitigend und auch als heilend erlebt wurde. Unter suggestivem Einfluß sind Spontanheilungen möglich, weil psychische Leiden physisch krank machen können. Darüber gibt es heute unter Medizinern keinen Streit. Vor zweitausend Jahren hat man von solchen Zusammenhängen nichts gewußt und solche Heilungen für Wunder gehalten.

SPIEGEL: Waren damals, sind heute solche Heilungen auch anderen möglich?

DREWERMANN: Zweifellos. Es gab solche Heilungen in der Antike, es gibt sie heute in einigen Stammeskulturen, etwa bei den Schamanen, es gibt sie in der Psychotherapie. Am Anfang der Psychoanalyse Sigmund Freuds stand die Heilung einer Gelähmten, die ihre Gliedmaßen nur im hypnotisierten, nicht auch im bewußten Zustand bewegen konnte.

SPIEGEL: All die anderen Wunder, die Jesus laut Bibel vollbracht hat, sind Legenden, daran ist nichts Wahres?

DREWERMANN: So kann man nicht sagen. Wenn etwas nicht historisch ist, dann kann es trotzdem wahr sein. Dieser Gedanke ist mir sehr wichtig.

SPIEGEL: Darauf kommen wir noch.

DREWERMANN: Zu Ihrer Frage: Alle Wundererzählungen über Jesus sind, sieht man von den Heilungsberichten ab, symbolischer Natur, obwohl sie von den Evangelisten so verfaßt wurden, daß sie als historische Berichte verstanden werden konnten.

SPIEGEL: In allen vier Evangelien wird behauptet, Jesus habe vor seinem Tode gewußt, daß er am dritten Tage auferstehen werde. Dazu sagte der evangelische Theologe Rudolf Bultmann, der bedeutendste historisch-kritische Forscher: "Wer weiß, daß er nach drei Tagen auferstehen wird, für den will offenbar das Sterben nicht viel besagen."

DREWERMANN: Bultmann hat ganz sicher recht in dem Sinne, daß sich die Art, wie Jesus an die Auferstehung glaubte, nicht von der Art unterscheidet, wie wir Christen daran glauben. Jesus wußte darüber nicht mehr als wir.

SPIEGEL: War das Grab Jesu leer, ist Jesus am dritten Tag nach seinem Tode leiblich auferstanden? Das wird ja Ostern gefeiert.

DREWERMANN: Wenn ich sage, die Ostergeschichten seien Legenden, wird mancher sagen, also stimme auch das nicht. Doch das ist zu simpel gedacht, auch Legenden haben ihren eigenen Wert. Aber man kommt um die Erkenntnis der Exegese, also der neutestamentlichen Forschung, nicht herum: Die Ostergeschichten haben den Glauben an die Auferstehung nicht begründen, sondern ihn nur auslegen wollen. Sie sollen in Bildern verkünden: Die Geschichte Jesu ist mit seinem Tod am Kreuz nicht zu Ende.

SPIEGEL: Also fromme Dichtung statt historischer Wahrheit?

DREWERMANN: Dichtung statt historischer Berichte, nicht statt Wahrheit.

SPIEGEL: Welche Wahrheit steckt denn in diesen Legenden von der Auferstehung? Bultmann hat in einem SPIEGEL-Gespräch gesagt, an die Auferstehung zu glauben, heiße "sich von der Verkündigung treffen zu lassen und ihr glaubend zu antworten". Können Sie es auch so kurz machen?

DREWERMANN: Ich sage, an die Auferstehung glauben, heißt auf Gott vertrauen, daß seine Liebe den Tod überdauert. Aber mit solchen Sätzen ist es nicht getan. Die Bibel lebt von Bildern, und nur wer die Sprache dieser Bilder versteht, kann sich den Glauben bewahren. Auch das leere Grab ist ein Bild für eine Wahrheit des Glaubens.

SPIEGEL: Nur ein Bild, kein Bericht, also geben Sie Bultmann recht: "Ein Leichnam kann nicht wieder lebendig werden und aus dem Grabe steigen."

DREWERMANN: So ist es, das gilt für das Grab Jesu, und es gilt für alle anderen Gräber, in Verdun und in Vietnam, in Paderborn und in Hamburg. Die Auferstehung ist dort genauso wenig sichtbar wie drei Tage nach Ostern in Jerusalem.

SPIEGEL: Nach der Himmelfahrt würden wir Sie nicht fragen, hätte Ihr Erzbischof sie nicht zum Gegenstand des Glaubensverfahrens gegen Sie gemacht. Dabei haben doch klammheimlich sogar die rückständigsten Dorfpfarrer die Himmelfahrt aus der Liste der historischen Ereignisse gestrichen. Sie fürchten, sich lächerlich zu machen, schickten sie Jesus auf denselben Weg, den die Raketen nehmen.

DREWERMANN: Der für mich zuständige Bischof beharrt darauf, die Himmelfahrt müsse möglich gewesen sein und habe sich 40 Tage nach Ostern ereignet.

SPIEGEL: Wenn es damals das Fernsehen gegeben hätte, hätte es nach Erzbischof Degenhardts Meinung darüber berichten können?

DREWERMANN: Jedenfalls hat der Erzbischof mir geschrieben, er verstehe die Himmelfahrt als raumzeitlich datierbares Ereignis. Ich halte das für ein Mißverstehen der biblischen Texte. 40 Tage sind ein häufig zu findendes biblisches Schema**. Himmelfahrt kann man nur so verstehen, daß man sich erheben kann über Menschenangst, Vergänglichkeit und Zerstörung. Das lehrt dieses Bild. Wer etwas anderes sieht, lehrt nicht Glauben, sondern Aberglauben.

SPIEGEL: Ähnlich wie Ihr Erzbischof äußerte sich Gerhard Bergmann, ein Prediger der protestantischen "Bekenntnisbewegung ,Kein anderes Evangelium'". Er sagte: "Ein Akt der Wahrnehmung ist die Himmelfahrt gewesen. Aber ob Jesus nun drei Meter brauchte, um zu verschwinden, oder ob er gleich im Augenblick entschwand, das ist nicht entscheidend."

DREWERMANN: Jeder sollte das Recht haben, in der Form zu glauben, die ihm hilft, sein Leben zu leben, mit seinen Ängsten fertig zu werden. Mir liegt nicht an Verketzerungen. Das möchte ich bei aller Kritik an Fundamentalisten wie Bergmann doch sagen.

SPIEGEL: Die einen halten es für Aberglauben, die Himmelfahrt nach Metern zu messen, die anderen halten es für Unglauben, das Ereignis zu bestreiten. Ist für beides in der Kirche Platz?

DREWERMANN: Dagegen habe ich nichts. Ich wehre mich nur dagegen, daß Fundamentalisten im Bischofsamt wie Erzbischof Degenhardt nicht Toleranz üben, sondern zum Aberglauben verpflichten wollen.

SPIEGEL: Es hat sich, wenn wir resümieren, was wir bislang besprochen haben, nach Ihrer Ansicht im Leben und nach dem Tode Jesu nichts ereignet, was nicht mit den Naturgesetzen übereinstimmte?

DREWERMANN: Die Auffassung, Gott könne die Naturgesetze für die Zeit und die Person Jesu außer Kraft gesetzt und Wunder bewirkt haben, halte ich für falsch und gefährlich. Sie hilft nicht, den christlichen Glauben zu begründen, sondern führt zum Atheismus. Denn was wäre das für ein Gott, der zwar in seinem Sohn Jesus seine Allmacht demonstriert, ansonsten aber angesichts eines Meeres von Menschenleid untätig bleibt? Das wäre ein Gott ohne Menschlichkeit.

Der Sinn der Wundergeschichten ist nicht, von Gott Mirakel zu erwarten, sondern sich durch ihre Bilder zu eigenem Handeln anregen zu lassen, also zu geben, ohne zu rechnen - der Sinn der Brotvermehrung; über die eigene Angst hinwegzugehen - der Sinn des Seewandels.

SPIEGEL: Nach katholischer Lehre hat Jesus alle sieben Sakramente der Kirche eingesetzt: Taufe, Eucharistie oder Abendmahl, Firmung, Priesterweihe, Krankensalbung, Beichte und Ehe.

DREWERMANN: Jesus hat mit Sicherheit kein einziges Sakrament eingesetzt, wie heute ziemlich alle Theologen wissen.

SPIEGEL: Wirklich ziemlich alle?

DREWERMANN: Es mag noch irgendwo Fundamentaltheologen geben, die Fundamente dort suchen, wo keine zu finden sind. Aber das sind nur wenige.

SPIEGEL: Warum wissen es nur die Theologen, nicht auch die Gläubigen?

DREWERMANN: Da liegt das Problem. Unsere Kirchengläubigen wurden lange Zeit vom Wissen der Theologen ausgeschlossen, größtenteils sind sie es noch immer. Die Theologen ihrerseits haben nicht den Mut, über all diese Fragen offen zu sprechen.

SPIEGEL: Nun beruft sich Ihre Kirche darauf, daß Jesus laut Bibel aufgefordert habe, das Abendmahl zu seinem Gedächtnis zu halten, und zu den berühmtesten Stellen des Neuen Testaments gehört auch sein Taufbefehl: "Geht nun zu allen Völkern der Welt und macht die Menschen zu meinen Jüngern. Tauft sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes."

DREWERMANN: Was Jesus über Taufe und Abendmahl gesagt haben soll, ist ihm lange nach seinem Tode zugeschrieben worden. Taufen in aller Welt kann er schon deshalb nicht befohlen haben, weil er an das nahe Weltende glaubte und sein Wirken auf Israel beschränkte.

SPIEGEL: Das Abendmahl, die Eucharistie . . .

DREWERMANN: . . . kann man auch nicht auf Jesus zurückführen. Er war Jude, und es ist völlig ausgeschlossen, daß der Jude Jesus beim letzten Abendmahl seinen Jüngern Brot gab und dabei die Worte sprach: "Das ist mein Leib, der für euch geopfert wird." Und daß er den Jüngern den Kelch mit den Worten gab: "Das ist mein Blut."

SPIEGEL: Diese Worte stehen fast gleichlautend in den ersten drei Evangelien und bei Paulus. Und so wird es katholischen Christen bis heute in jeder Messe mit den sogenannten Wandlungsworten verkündet. Warum ist es ausgeschlossen, daß Jesus dies gesagt hat?

DREWERMANN: Weil diese Vorstellung, das Fleisch eines Menschen zu essen und das Blut eines Menschen zu trinken, für einen Juden, und nicht nur für den, etwas Gräßliches ist. Jesus wäre nie auf die Idee gekommen, das Fest-Essen des jüdischen Passahfestes, das die Juden an den Auszug ihrer Vorfahren aus Ägypten erinnert, umzuwandeln in eine Mahlzeit, bei der die Gläubigen sakramental teilhaben am Leben eines Gottes, der sich im Tod opfert.

SPIEGEL: Nun ist offizielle katholischkirchliche Lesart, Jesus habe sich aus der jüdischen Religion gelöst und sei einen großen Schritt weitergegangen.

DREWERMANN: Sicher nicht in diese Richtung. Was Jesus wollte, war - nach dem Wenigen, was wir über ihn historisch wissen - eine Belebung, eine Erneuerung der Religion seines Volkes, mit prophetischem Anspruch und ohne Aufschub. Seine revolutionäre Tat war es, daß er Zöllner und öffentliche Sünder zur Gemeinschaft mit Gott einlud. Insofern ist es aberwitzig, daß die katholische Kirche das Sakrament der Eucharistie, also die Kommunion in der Messe, allen Nichtkatholiken und sogar vielen Katholiken verweigert, Geschiedenen zum Beispiel. Jesus hat niemanden aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen, die katholische Kirche schließt jeden aus, der nicht das glaubt und tut, was sie vorschreibt.

SPIEGEL: Handeln Sie als Priester da anders, als Ihre Kirche es befiehlt?

DREWERMANN: Ich schließe niemanden aus. Bei mir können auch Protestanten und Geschiedene die Kommunion empfangen, haben also Zugang zum Sakrament.

SPIEGEL: Es ist für Sie kein Problem, mit den Sakramenten umzugehen, die Jesus nicht eingesetzt und eigentlich nicht mal gewollt hat?

DREWERMANN: Ich gehe davon aus, daß die Sakramente aufgrund der Bedürfnisse entstanden sind, die im Menschen angelegt sind. Ihre Berechtigung muß vom Menschen her, sie kann nicht historisch aus der Botschaft Jesu abgeleitet werden.

SPIEGEL: Herr Drewermann, in Ihren Büchern vergleichen Sie häufig das Christentum mit anderen Religionen. Warum ist Ihnen das so wichtig?

DREWERMANN: Wenn ich zum Beispiel zeige, daß es schon in der altägyptischen oder in der aztekischen Religion den Glauben an jungfräuliche Geburten, an Himmelfahrten, an Gottessohnschaften gab, dann weise ich nach, daß die Menschen unabhängig von ihrem jeweiligen speziellen Glauben solche Vorstellungen brauchten.

Ich glaube sogar, daß im alten Ägypten eine Bilderwelt existiert hat, die uns Christen heute helfen kann, besser zu verstehen, was es bedeutet, wenn wir sagen, Jesus sei Gottes Sohn. Denn wir haben uns in der christlichen Überlieferung gar zu sehr daran gewöhnt, in verkürzten Begriffen zu reden, die zur Meditation, zur lebendigen Aneignung des Glaubens nicht mehr taugen.

Und es gibt noch einen weiteren Grund: Die Welt wächst zusammen, die Religionen, die in verschiedenen Kulturen entstanden sind, können und müssen voneinander lernen; sie können sich ergänzen. Und der Einzelne kann sich leichter als früher für die eine oder die andere entscheiden. Es kann sein, daß er als Buddhist besser zu sich selbst findet, als wenn er sich dem Christentum zuwendet. Religionen sind so etwas wie Medikamente für spezielle Krankheiten, und nicht für jede Krankheit ist jedes Medikament geeignet.

SPIEGEL: Das Christentum ist nicht, wie die Bischöfe lehren, den anderen Religionen prinzipiell überlegen, sondern ihnen gleichwertig?

DREWERMANN: Es führt nicht weiter, diese Frage zu bejahen oder zu verneinen. Das Christentum hat auf viele wichtige Fragen überhaupt keine Antwort. Zur Macht hat es bis heute trotz des Ohnmächtigen am Kreuz ein sehr ambivalentes Verhältnis. Auf die Frage nach Krieg und Frieden äußert sich die katholische Kirche verwirrend statt klärend. Da sind mir die Buddhisten lieber. Die haben weniger Kriege geführt, haben die Macht nicht verherrlicht, leben sogar nach ziemlich demokratischen Regeln. Also müssen wir von ihnen lernen.

SPIEGEL: Bultmann und andere Theologen, die festgestellt haben, wie unhistorisch die meisten Berichte über Jesus sind, wollen die Bibel zugleich "entmythologisieren", den Mythos zerstören. Da denken Sie völlig anders. Sie wollen umgekehrt den Mythos erhalten. Warum?

DREWERMANN: Nicht bei unwichtigen, sondern gerade bei den wichtigsten Passagen des Neuen Testaments müssen wir feststellen, daß es sich um Legenden, um Symbole, um Mythen handelt. Das gilt insbesondere für die Darstellung von Jesu Geburt, Tod, Auferstehung, Himmelfahrt. All dies können wir nicht als unmodernes Beiwerk beiseite schieben, wie es die Entmythologisierer versuchen.

Die Vergleiche mit anderen Religionen zeigen, daß bestimmte Sehnsüchte, Verhaltensformen, Riten sich gleichen. Daraus schließe ich, daß es offensichtlich eine gemeinsame, allen Menschen verständliche Sprache im Unbewußten gibt. Ich nenne es eine Sprache der Bilder. Diese Sprache darf nicht dadurch abgeschafft werden, daß man die Bibel "entmythologisiert". Man muß in Bildern denken können, um die Botschaft Jesu zu begreifen. Wer die Bilder der Religion nicht mehr versteht, der versteht die Religion nicht mehr.

Hinzu kommt: Menschen, die Mythen nicht mehr verstehen, kommen auch mit ihren eigenen Träumen, mit ihren eigenen Sehnsüchten nicht mehr zurecht.

SPIEGEL: Wie paßt es zusammen, daß Geschichten im historischen Sinn falsch, aber trotzdem wahr sind?

DREWERMANN: Ich will eine Antwort geben, die mit Theologie nichts zu tun hat. Picasso wurde mal gefragt, warum er Menschen so eigentümlich male, daß sie ganz anders aussehen als in Wirklichkeit. Seine Antwort war: Kein Mensch könne behaupten, daß Kunst Wahrheit sei. Die Kunst sei Lüge. Aber es sei eine Art von Lüge, die uns helfe, die Wahrheit zu verstehen.

SPIEGEL: Soll heißen, die Religion . . .

DREWERMANN: . . . erschließt dem Menschen mit Hilfe ihrer Bilder eine Welt, die sich mit Worten allein nicht öffnen läßt.

SPIEGEL: Ihr Erzbischof wirft Ihnen vor, daß Sie ein ganz anderes Priestertum wünschen, als es die Kirche heute besitzt. Das ist für ihn neben der Jungfrauengeburt und der Abtreibung der wichtigste Punkt in der Auseinandersetzung mit Ihnen.

Der Kern scheint uns zu sein, ob die Priester ihren Beruf als Opfer betrachten müssen, ob sie ihr Leben der Kirche opfern, wie Jesus sein Leben am Kreuz geopfert hat. So wird es ja feierlich immer wieder verlangt und versprochen.

DREWERMANN: Darum geht es in der Tat. Der Erzbischof und ich sind schon verschiedener Meinung darüber, ob diese Opfertheologie auf Jesus zurückgeführt werden kann.

SPIEGEL: Bultmann hat es für eine primitive Mythologie erklärt zu glauben, "daß ein Mensch gewordenes Gotteswesen durch sein Blut die Sünden der Menschen sühnt".

DREWERMANN: Diese Opfer- und Sühnetheologie war Jesus völlig fremd. Die Geschichten von den Zöllnern, den Pharisäern und den Sündern zeigen, daß Jesus die Vergebung der Sünden nicht von einer Vorleistung oder gar von einem Opfer abhängig gemacht hat. Diesen Gedanken - Vergebung ohne Vorleistung - hat er verkörpert und verkündigt.

Das paßt überhaupt nicht zu der Lehre, Opfer seien zur Versöhnung Gottes notwendig. Solche masochistischen Implikationen gehören zur Begründung des Kreuzesopfers und des Opferpriestertums in der katholischen Kirche, aber sie stehen erkennbar dem Anliegen Jesu entgegen.

SPIEGEL: Welchen Sinn sah Jesus in seinem Tod, wenn nicht den eines Opfers?

DREWERMANN: Er sah in seinem Tod überhaupt keinen Sinn. Er wollte nicht sterben. Als sich die Auseinandersetzung verschärfte, wird er sich gesagt haben: Laßt sie machen, was sie wollen, sie werden nur beweisen, daß sie nichts über den Tod hinaus können. Angst läßt sich überwinden durch Vertrauen auf Gott, komme, was da wolle. So und nur so, durch sein Gottvertrauen, hat sein Sterben einen Sinn gehabt.

SPIEGEL: Auf das Wort Jesu, es gebe zur Ehe Unfähige um des Himmelreichs willen, führt die katholische Kirche den Zölibat, die Ehelosigkeit ihrer Priester zurück*.

DREWERMANN: Es ist ein schwer zu deutendes Wort, aber zur Begründung des Zölibats gibt es nichts her. Jesus hat keine Priester eingesetzt, schon gar keine ehelosen Priester.

SPIEGEL: Sondern?

DREWERMANN: Er verlangte von denen, die ihm folgten, daß sie seine Sache zu ihrer Sache machten. Es gab sicher keine Vorschriften, die seine Jünger zu einer Kaste, zu einem Orden hätten machen sollen. Jesus und seine Jünger - das war eine herrschaftsfreie, von Vertrauen geleitete Gemeinschaft. Wie wenig Jesus von Priestern hielt, steht an mehreren Stellen im Neuen Testament.

SPIEGEL: Erklärt sich die Hartnäckigkeit, mit der Ihre Kirche Sie verfolgt, damit, daß Sie mit mehr Resonanz als andere den Zölibat bekämpfen?

DREWERMANN: Das wäre zu einseitig gesehen. Aber wer den Zölibat bekämpft, der bekämpft die Macht der Kirche, und das ist ziemlich das einzige, was Sie nicht tun können, ohne bestraft zu werden.

Sie dürfen theologischen Unsinn jeder Art erzählen. Sie dürfen als Priester mit einer Frau zusammenleben, solange es keinen "Skandal" macht. Sie dürfen Ihren Priesterdienst so pedantisch, so seelenlos versehen, wie Sie nur wollen. Sie dürfen Menschen aus der Kirche vertreiben, statt sie in die Kirche hineinzuholen. All dies und noch viel mehr dürfen Sie. Aber Sie dürfen nie versuchen, die Macht der Kirche zu gefährden. Dann geht es Ihnen an den Priesterkragen.

Insofern wird auch die Diskussion über den Zölibat vermutlich unter dem falschen Stichwort der Sexualfeindlichkeit geführt. In Wirklichkeit geht es um die Unterdrückung der Person. Wem verboten wird zu lieben, der lebt nur noch im Amt.

SPIEGEL: Ihr Buch "Kleriker" ist die schärfste, umfassendste und kenntnisreichste Kritik an der katholischen Kirche, die es in den letzten Jahrzehnten gegeben hat. Ist Ihre Kirche in einem so desolaten Zustand wie zur Zeit Luthers?

DREWERMANN: In gewissem Sinn ist sie in einem schlimmeren Zustand, und so, wie sie heute ist, hat Jesus sie nicht gewollt. Sie hat 450 Jahre lang versucht, Luther und die Reformation zu widerlegen, und ist dabei immer einseitiger, immer enger, immer starrer geworden. Seit dem Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts hat sie Zuflucht genommen zu der Behauptung, ihre Bischöfe könnten objektive Wahrheiten garantieren und kraft Amtes weiterreichen durch die Jahrhunderte. Daß ich dies in Frage stelle, hat die Bischöfe gegen mich aufgebracht.

SPIEGEL: Weil es um den Glauben geht?

DREWERMANN: Nein, weil es um die Macht geht. Ich hatte ursprünglich nur dazu beitragen wollen, daß der einzelne Mensch von innen heraus seinen Glauben, sein Denken und Fühlen in Einklang bringen kann. Da gibt es ja manche Kluft, manchen Bruch. Aber es stellte sich heraus, daß ein Mensch, der mit sich selbst ins reine kommt, keine Außenleitung durch eine kirchliche Autorität mehr braucht. Sie wird überflüssig, lästig und schädlich.

SPIEGEL: Sie entziehen den Bischöfen die Macht, über den Glauben zu wachen und die Menschen in Recht- und Falschgläubige zu teilen?

DREWERMANN: So ist es. Die Bischöfe glauben doch allen Ernstes, ihr Amt und nur ihr Amt sei geeignet, die Wahrheit des Glaubens zu formulieren und zu sichern. Das halte ich für eine widergöttliche Anmaßung. Religiöse Wahrheit lebt im Menschen und teilt sich ihm persönlich mit. Sie ergibt sich nicht aus überlieferten und außengeleiteten Doktrinen.

SPIEGEL: Ist diese Auffassung katholisch?

DREWERMANN: Wenn die Bischöfe bestimmen können, was katholisch ist, ist sie wahrscheinlich nicht katholisch. Wenn katholisch das ist, was den Glauben stärkt und zu Gott führt, ist sie katholisch.

SPIEGEL: Was würde sich in der Kirche ändern, wenn sie sich nach Ihren Vorstellungen reformierte?

DREWERMANN: Fast alles.

SPIEGEL: Beschränken wir uns auf die Priester. Sie wären nicht mehr zum Zölibat verpflichtet. Nicht mehr ein Drittel lebte heimlich mit Frauen zusammen, wie Sie in Ihrem Buch "Kleriker" vermuten, sondern fast alle wären verheiratet.

DREWERMANN: Nicht nur deshalb würden die Priester anders leben als bisher. Sie würden diesen Beruf nicht mehr wählen, weil sie das Leben fürchten, sondern weil sie Mut zum Leben haben. Sie würden Priester, nicht um ihr Leben aufzuopfern, sondern um es mit dem Recht auf Glück zu führen. Sie kapselten sich nicht in ihrer Gemeinde ab, sondern suchten den Kontakt vor allem mit denen, die der Kirche fernstehen. Sie duckten sich nicht vor ihren Bischöfen, sondern arbeiteten selbstbewußt mit ihnen zusammen.

SPIEGEL: Würden in einer erneuerten Kirche Frauen zum Priesteramt zugelassen?

DREWERMANN: Solange das katholische Priestertum mit der Opfertheologie begründet wird, können Frauen nicht Priester werden. Seit der Steinzeit ist das Töten von Tieren, das Darbringen von Opfern eine Sache der Männer. Erst wenn das Priestertum wesentlich anders begründet würde, als Dienst an der Gemeinde zum Beispiel, könnten Frauen zum Priesteramt zugelassen werden. Dann wären sie sogar die besseren Priester, denn dann ginge es nicht mehr um Triebunterdrückung und Opfer, nicht mehr um Macht und Herrschaft. Priesterinnen würden der katholischen Kirche helfen, die richtige Einstellung zu den Frauen zu finden. Das ist ihr nun schon zweitausend Jahre lang nicht geglückt.

SPIEGEL: Im Streit um die Abtreibung und den Paragraphen 218 haben Sie eine Position, die Ihr Erzbischof nicht für katholisch hält. Was werfen Sie der Kirche vor?

DREWERMANN: Die Kirche hat zu wenig Verständnis für die Frauen, die schwanger sind und keinen Ausweg wissen. Hier, in diesem Zimmer, haben Frauen gesessen, und ich habe ihnen keinen Rat geben können, wie sie eine Abtreibung hätten vermeiden können, so ausweglos war ihre Situation.

Solche Frauen sind keine Mörderinnen. Aber von den Bischöfen werden alle Frauen, die abtreiben, so bezeichnet und geächtet.

Die Kirche hat weder das Recht noch die Pflicht, festzusetzen, was ein Verbrechen, wer eine Verbrecherin ist. Aufgabe der Kirche ist es, gerade jenen Menschen zu helfen, die Dinge glauben tun zu müssen, die sie gar nicht tun wollen, und die darunter leiden. Das gilt für sehr viele Frauen, die mit ihrer Frage allein stehen: Soll ich, darf ich, muß ich abtreiben?

Niemand, schon gar nicht die Kirche, hat das Recht, jede abtreibende Frau schuldig zu sprechen, völlig unabhängig davon, in welchen Konflikten, mit welchen Ängsten sie lebt.

SPIEGEL: Können Sie uns erklären, warum solche Gedanken nicht katholisch sind?

DREWERMANN: Das müßten Sie den Erzbischof Degenhardt fragen.

Ich halte vieles, was die Bischöfe zur Abtreibung sagen, für unchristlich und für unmenschlich. Und sie reden zynisch. Der Mainzer Bischof Lehmann zum Beispiel, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, hat sich nicht entblödet, in einer Pressekonferenz über Frauen zu reden, die lieber nach Mallorca fahren, als ein Kind zu gebären.

Ich kenne Frauen, die viel schuldiger würden, wenn sie ein Kind zur Welt brächten, als wenn sie es abtrieben. Um es drastisch zu sagen: Ein Kind kann nur leben, wenn seine Mutter mit ihm leben kann. Also muß man das Problem zunächst aus der Sicht der Frau sehen und nicht abstrakt aus der Sicht des ungeborenen, embryonalen Kindes.

SPIEGEL: Herr Drewermann, es gibt nicht die geringsten Anzeichen dafür, daß sich die katholische Kirche refomieren will. Entmutigt Sie das nicht?

DREWERMANN: Es gibt für mich mehr Gründe, weiterzumachen als zu resignieren. Manches wird geschehen, völlig egal, ob der Papst und die Bischöfe es wollen. Am Zölibat zum Beispiel kann die Kirche nur noch ein paar Jahre festhalten, dessen bin ich völlig sicher.

SPIEGEL: Und wenn sich sonst nichts ändert?

DREWERMANN: Ich bin trotz allem entschlossen, Priester zu bleiben, solange es geht.

SPIEGEL: Warum eigentlich, wenn doch Jesus keine Priester wollte?

DREWERMANN: Ich will die Menschen nicht im Stich lassen, denen ich als Priester diene und helfe, und ich will das Amt so ausüben, wie es dem Willen Jesu entspricht. Das ist in der heutigen Kirche schwer, fast unmöglich. Doch es lohnt den Versuch.

Die katholische Kirche mutet mir allerdings einen unerträglichen Widerspruch zu; ich darf zwar predigen, aber nicht lehren. Demnach bin ich katholisch auf der Kanzel, aber nicht am Katheder.

SPIEGEL: Das ist die Situation des Tübinger Theologieprofessors Hans Küng schon seit zwölf Jahren, und er ist mit seinem Status offenbar zufrieden.

DREWERMANN: Ich habe den Paderborner Erzbischof wissen lassen, daß ich nicht bereit bin, einen solchen Widerspruch zwischen Lehre und Leben hinzunehmen.

SPIEGEL: Herr Drewermann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.