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Hermann-Josef Tenhagen

Versicherungen Warum Sie auf eine Unfallpolice verzichten können

Fast 26 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Unfallversicherung. Die wenigsten aber wissen: Die Police greift nur in seltenen Fällen. Was sind die Alternativen?
Fensterputzer bei der Arbeit (Archivbild)

Fensterputzer bei der Arbeit (Archivbild)

Foto: imago/Frank Sorge

Die Unfallversicherung war Teil des Raubzugs im Osten. Des Raubzugs der Versicherungsvertriebe nach der Wiedervereinigung 1990 bei einer Bevölkerung, die diese Art von Verkaufsgesprächen nicht gewohnt war. Und die noch weniger Ahnung von den Provisionsmodellen hatte, mit denen die Vertriebsvorstände vieler Versicherer ihre Mannschaften an den Start schickten.

Lag die Zahl der Verträge im Jahr 1985 für die 60 Millionen Westdeutschen bei 17,6 Millionen, waren es im Jahr 2000 schon 29 Millionen Verträge für knapp 80 Millionen Deutsche. Sprich: nur ein Drittel mehr Einwohner, aber zwei Drittel mehr Verträge.

Die private Unfallversicherung war und ist für solche Verkaufserfolge besonders geeignet. Denn sie gaukelt vor, in schwierigen Lebenssituationen tatsächlich zu zahlen. Genau wie der Laie bei der Risikolebensversicherung versteht, okay, die zahlt, wenn ich tot bin, so denkt er bei der Unfallversicherung: Die zahlt, wenn ich einen Unfall habe.

Bloß, das tut sie in der Regel nicht.

Ein Unfall ist zwar die Voraussetzung, damit die Versicherung zahlt. Oder im Versicherungsdeutsch ausgedrückt: "Wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper einwirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet."

Die viel wichtigere Voraussetzung aber ist, dass der Schaden des Unfalls bleibend ist. Ein Beinbruch beim Skifahren genügt eben nicht. Das Bein muss hinterher schon ziemlich schief zusammenwachsen und eine wirkliche langjährige Beeinträchtigung erleiden. Und das passiert dann glücklicherweise doch ziemlich selten .

Dazu kommt: Passiert der Unfall bei der Arbeit oder in der Schule, ist ohnehin erst einmal die gesetzliche Unfallversicherung zuständig. Die zahlt tatsächlich für Behandlung und Reha und gibt jedes Jahr viermal so viel Geld aus wie alle privaten Unfallversicherer zusammen . Bei einem bleibenden Schaden zahlt sie auch - und die private Unfallversicherung zusätzlich.

Wie wahrscheinlich ist der bleibende Schaden?

Wie wahrscheinlich ist denn der bleibende Schaden? Gerade einmal zwei Prozent aller Schwerbehinderungen gehen auf Unfälle zurück, das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts. Rund 85 Prozent auf Krankheiten.

Bevor sie jetzt sagen, da sind ja die Alten und Gebrechlichen mit eingerechnet: 91 Prozent aller Berufsunfähigkeiten gehen auf Krankheiten zurück und nur neun Prozent auf Unfälle, sagen die Versicherungsanalytiker von Morgen & Morgen .

Und trotzdem haben die Kunden in Deutschland aktuell 25,6 Millionen Unfallversicherungen im Ordner. Knapp 800.000 Schadensfälle behandeln die Unfallversicherer im Jahr.

Rund 3,3 Milliarden Euro haben sie dafür 2016 ausgegeben. Gut 4000 Euro pro Schadensfall - nicht gerade viel für einen bleibenden Gesundheitsschaden.

Dabei mangelt es den Unfallversicherern nicht an Geld. Nur die Hälfte aller eingenommenen Beiträge werden für Zahlungen an Kunden ausgegeben. 6,45 Milliarden Euro betrugen die Beitragseinnahmen 2016.

Zum Vergleich: In der Kfz-Haftpflicht geben die Unternehmen mehr als 90 Prozent der Beitragseinnahmen für die Begleichung von Schäden aus.

Was folgt daraus für Sie?

  • Erstens - Sie sollten erst das viel größere Risiko ausschließen, durch Krankheit wirtschaftlich ruiniert zu werden. Das sagt sogar die Versicherungsaufsicht in ihrem Text zur Unfallversicherung . Schließen Sie also keine Unfallversicherung ab, bevor sie nicht versucht haben, sich mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung umfassend abzusichern.
  • Auch die gängigen Alternativen zur Berufsunfähigkeitsversicherung sind zur Absicherung der Risiken meist besser geeignet als die Unfallversicherung  .
  • Wenn Sie am Ende dann doch zum Ergebnis kommen, dass eine Unfallversicherung die beste verfügbare Lösung ist, achten Sie darauf, dass der Preis nicht zu hoch ist und die Gliedertaxe vorteilhaft. Gliedertaxe ist die Regel, nach der die Versicherer bestimmen, wie viel Geld es zum Beispiel für den Verlust des Gehörs auf einem Ohr oder einen abgetrennten Finger gibt.

Selbst für Kinder ist eine Unfallversicherung nicht die erste Wahl. Auch hier gilt: Eher behält ein Kind eine bleibende Behinderung durch eine Krankheit zurück als durch einen Unfall.

Meine Empfehlung: Als Berufstätiger also zuerst eine Berufsunfähigkeitsversicherung, für die Kinder eher eine Kinderinvaliditätsversicherung abschließen. Gute Policen für Kinder leisten lebenslang eine monatliche Rente. Und weil die Berufsunfähigkeitsabsicherung schwer zu bekommen ist, liegt hier tatsächlich auch die Aufgabe für qualifizierte Makler: Den Kunden den bestmöglichen bezahlbaren Schutz zu besorgen für den Fall, dass man aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann - auch und gerade in Ostdeutschland.

Zum Autor
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Micha Kirsten / Finanztip

Hermann-Josef Tenhagen, Jahrgang 1963, ist Chefredakteur von »Finanztip« und Geschäftsführer der Finanztip Verbraucherinformation GmbH. Der Geldratgeber ist Teil der Finanztip Stiftung. »Finanztip«  refinanziert sich über sogenannte Affiliate-Links, nach deren Anklicken »Finanztip« bei entsprechenden Vertragsabschlüssen des Kunden, etwa nach Nutzung eines Vergleichsrechners, Provisionen erhält. Mehr dazu hier .

Tenhagen hat zuvor als Chefredakteur 15 Jahre lang die Zeitschrift »Finanztest« geführt. Nach seinem Studium der Politik und Volkswirtschaft begann er seine journalistische Karriere bei der »taz«. Dort ist er heute ehrenamtlicher Aufsichtsrat der Genossenschaft. Auf SPIEGEL.de schreibt Tenhagen wöchentlich über den richtigen Umgang mit dem eigenen Geld.