Donnerstag, 28. März 2024

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Digitales Klassenzimmer
Psychiater: Wenn Kinder nur wischen, haben sie einen Nachteil*

Der Psychiater und Hochschullehrer Manfred Spitzer hat zu einem Rundumschlag gegen die digitale Nutzung im Kindesalter ausgeholt. Dass Tablets in Bildungseinrichtungen ausgegeben werden, sei ein Skandal, sagte Spitzer im Dlf.

Manfred Spitzer im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 08.03.2018
    Ein russischer Junge blickt auf sein Smartphone
    Smartphones bewirken Diabetes, Schlafstörungen, Depressionen bei Kindern, sagt der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer (imago/ Itartass)
    Tobias Armbrüster: Digitalisierung – das Wort hören wir häufig in diesen Wochen und in diesen Tagen, vor allem im Zusammenhang mit der Schulbildung in Deutschland. Viele Politiker fordern inzwischen das digitale Klassenzimmer. Kinder sollten schon in der Schule, am besten schon in der Grundschule mit dem Programmieren von Computern vertraut gemacht werden. Das sagt zum Beispiel die neue Digitalministerin Dorothee Bär. WLan-Netze an Schulen - auch so eine Forderung -, die sollen auch ausgebaut werden. Insgesamt der Tenor: Wenn deutsche Schulen, wenn deutsche Klassenzimmer da nicht den Anschluss schaffen, dann gehen uns in den kommenden Jahrzehnten jede Menge Arbeitsplätze in diesem wichtigen Wirtschaftsbereich verloren.
    Wir wollen das etwas genauer beleuchten, aus einer etwas anderen Perspektive. Am Telefon ist der Psychiater, Neurowissenschaftler und Buchautor Manfred Spitzer, Hochschullehrer an der Universität Ulm. Schönen guten Morgen, Herr Spitzer.
    Manfred Spitzer: Ja, guten Morgen.
    "In der Grundschule kann man nicht Programmieren lernen"
    Armbrüster: Herr Spitzer, Programmieren lernen am besten schon in der Grundschule, ist das eine gute Idee?
    Spitzer: Das ist überhaupt keine gute Idee. Das ist so wie "wir brauchen gute Mathematiker, also machen wir in der Grundschule jetzt schon Integrieren und Differenzieren." Das kann nicht funktionieren, weil man zum Programmieren bestimmte logische Prozesse verstanden haben muss, bestimmtes mathematisches Grundwissen haben muss, und das ist frühestens irgendwann in der Mittelstufe da. In der Oberstufe kann man Programmieren lernen, man kann vielleicht auch schon früher Programmieren lernen, in der Grundschule nicht. Da kann man irgendwelchen Quatsch auf Computern machen und niemand lernt dabei, sondern es wird nur eine Zeit vertan, und das sollte man definitiv nicht tun.
    Armbrüster: Aber haben nicht alle Erwachsenen irgendwann mal diese Erfahrung gemacht, oder fast alle Erwachsenen, zumindest die, die manchmal mit Kindern zu tun haben, dass Kindern das alles mit Computern unglaublich leicht von der Hand geht und dass die so etwas wirklich spielerisch machen und dass die zu diesen Geräten einen völlig anderen Zugang haben als Erwachsene?
    Psychiater, Hirnforscher, Bestseller-Autor: Manfred Spitzer
    Psychiater, Hirnforscher, Autor: Manfred Spitzer (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    Spitzer: Das ist aber ganz einfach und eine völlig andere Sache. Keiner hockt an seinem Smartphone und programmiert. Es ist schlichtweg so, dass Kinder, egal was es ist, viel schneller lernen als Erwachsene. Da ist natürlich der Umgang mit einem Smartphone, welche Knöpfe ich drücke und wo ich nach wo wischen muss und so weiter, das lernt ein Kind natürlich viel leichter. Ein Kind lernt ja auch leichter sprechen und es lernt ganz schnell laufen, viel leichter als das Erwachsene lernen. Das ist lange bekannt und das ist nichts Besonderes und das hat auch mit Computern nichts zu tun.
    Und noch was: Es hat nicht mal damit was zu tun, wie gut sich ein Kind entwickelt. Denn ein Kind braucht bestimmte Dinge, ich sage mal, als Input. Es muss die Dinge anfassen, es muss mit den Dingen umgehen lernen. Und wenn heute die Kinder an die Schule kommen und können keinen Griffel mehr halten, weil sie sich nur noch mit Wischen über eine Glasoberfläche beschäftigt haben und ihre Hand damit weder motorisch, noch sensorisch in irgendeiner Weise vernünftig trainiert haben, dann haben die einen Nachteil, und zwar einen großen Nachteil. Wir ziehen uns eine Generation von Behinderten heran, ich sage es mal drastisch. Je mehr Fingerspiele sie im Kindergarten machen, desto besser sind sie mit 20 in Mathematik, weil die Zahlen über die Finger und deren komplexen Gebrauch ins Hirn kommen. Wenn sie nur wischen als Kindergartenkind, endet ihre Karriere als Putzfachkraft. Das sollte man einfach nicht machen.
    "Sie können nicht sagen, jetzt geh mal verantwortungsvoll damit um"
    Armbrüster: Heißt das, was Sie da schildern, jetzt nicht genau das, dass man Kindern in der Schule das beibringen muss, wie man richtig mit diesen Geräten umgeht, auch wie man verantwortungsvoll möglicherweise mit ihnen umgeht? Das Ganze läuft ja immer unter dem Stichwort Digitalkompetenz.
    Spitzer: Ja, das muss man auch mal relativieren. Sie können mit einem Dreijährigen nicht über Bonbons reden und sagen, hey, hier hast Du einen Stapel Bonbons, jetzt geh' mal verantwortungsvoll damit um. Das ist Nonsens. Sie können mit Pubertierenden, die gerade anfangen, in alle möglichen Dinge sich einzudenken und einzufühlen, nicht sagen, benutz' Dein Smartphone aber bitte nur in ganz verantwortlicher Weise. Vor 100.000 Jahren, wenn sich zwei hinterm Busch gebalgt oder gepaart haben, da hat jeder hingeguckt, "Monkey see, Monkey do".
    Wir wissen doch, wie wir Menschen uns verhalten, und Sex and Crime ist nach wie vor der Hauptinhalt des Internet und natürlich dessen, was man im Smartphone mit dem Internet machen kann. Kein 14-Jähriger wird da nicht herangehen und hingucken wollen, weil die 14-Jährigen, die sich vor 100.000 Jahren schon für Sex and Crime nicht interessiert haben, von denen stammt keiner ab. 14-Jährige sind so, genauso wie Dreijährige was Süßes mögen, weil diejenigen, die vor 100.000 Jahren nichts Süßes gegessen haben, soviel es gab, die waren beim nächsten Hunger tot. Deswegen sind wir auch als Dreijährige unempfindlich gegenüber Süß, damit wir so viel essen können, wo es Erwachsenen schon schlecht wird.
    Und man muss sich mal klarmachen: Das ist unsere Biologie, die ist so. Genauso wie aus dieser Biologie nicht folgt, dass Dreijährige so viel Süßes essen sollten, wie sie selber wollen, und dass sie, ich sage es mal salopp, kein Hirnschmalz haben, um das selber hinzukriegen, genauso sind Jugendliche auch vollkommen überfordert. Das zeigen übrigens auch die Studien. Eine große Blikk-Studie aus dem letzten Jahr, von deutschen Kinderärzten an 6000 Personen gemacht. Da kommt raus, dass die 13-Jährigen sich durch das Smartphone überfordert fühlen und dass sie die Kontrolle über das Smartphone verlieren, weil das Smartphone – das wissen wir auch – suchterzeugende Eigenschaften hat. In Korea gab es über 30 Prozent Süchtige, wir sind bei acht Prozent. Da können wir nicht sagen, geh' damit um!
    "Steve Jobs hat gesagt, iPads sind nichts für Kinder"
    Armbrüster: Herr Spitzer, ich muss zwischendurch doch mal eine Frage stellen. Heißt das jetzt, dass Computer grundsätzlich weg sollten aus der Schule, möglichst weit weg von den Schülern, und dass man auch den Eltern am besten sagt, haltet eure Kinder fern von diesen Geräten?
    Spitzer: Wenn man die Studienlage dazu mal ganz ernsthaft sich anschaut, hat Herr Macron schlichtweg recht, wenn er sagt, wir verbieten die Smartphones an französischen Schulen ab Herbst 2018. Denn es gibt große Untersuchungen, die zeigen, dass wenn Sie das tun, werden die Schüler besser.
    Es gibt weiterhin große Untersuchungen, die zeigen, dass wenn Sie WLan und Computer an Schulen einführen, dass die Schulleistungen der Schüler sinken, und zwar nach der neuesten Studie um 20 Prozent. Und wenn man sich das mal anschaut: Es gibt keine Studie, wirklich keine – und es wird immer behauptet; wenn man dann aber nachfragt, wo ist denn die Studie, dann ist die nicht da. Erst neulich hat die TU München eine große Studie vermeintlich publiziert. Da hat sich die FAZ und die NZZ drauf bezogen.
    Ich habe dann, weil mich das sehr interessiert, nachgehakt: Die Studie gibt es nicht! Die ist noch gar nicht publiziert! Und wenn, dann würde ich sie mal sehr kritisch lesen wollen. Aber das kann man nicht, solange es sie nicht gibt. Aber die Zeitungen schreiben schon, die Digitalisierung ist gut für das Lernen der Kinder. Das ist ein Skandal erster Güte und ich kann nicht sehen, wie man sich hinstellen kann und sagen kann, wir brauchen mehr Tablets in den Grundschulen, wenn sogar der Chef von Apple sagt, Tablets sind nicht für meinen Neffen in der Schule. Steven Jobs hat gesagt, der Erfinder des iPads, die sind nichts für Kinder. Jetzt geben sie die schon in Kindergärten und in der Grundschule aus. Das ist wirklich ein Skandal, denn noch mal: Wir wissen, dass die dem Lernen schaden und nicht nützen.
    "Smartphone macht einen hohen Blutdruck"
    Armbrüster: Herr Spitzer, ich kann mir vorstellen, dass da jetzt viele Leute zuhören und sagen, das erinnert uns an das, was wir mal im Geschichtsunterricht gelernt haben, dass früher auch das Lesen in Schulen verteufelt wurde, oder überhaupt der Gebrauch von Büchern. Da hieß es dann im Mittelalter, das sei überhaupt nichts, weder für Kinder, noch für Erwachsene. Enthalten wir da nicht einfach unseren Kindern etwas Wichtiges vor, wenn wir Computer, PCs und Smartphones so verteufeln in der Schule?
    Spitzer: Ich verteufle das ja gar nicht. Schauen Sie, ein Smartphone macht einen hohen Blutdruck, macht kurzsichtig, und zwar in Südkorea schon 95 Prozent der jungen Bevölkerung. Normal wären fünf Prozent höchstens. Smartphones bewirken Diabetes, Schlafstörungen, Depressionen. Mädchen, die mehr als drei Stunden in Facebook sind mit 13, haben die doppelte Wahrscheinlichkeit, mit 18 depressiv zu sein. Smartphones erzeugen Sucht. Social Medias, das ganze Wort ist hier eine Sprachverstellung.
    Armbrüster: Aber diese Geräte gehören zu unserem Alltag. Sie gehören dazu, sie sind nicht mehr wegzukriegen.
    Spitzer: Moment! Das Argument, das akzeptiere ich gar nicht. Es hat immer bei jeder neuen Technik eine Technik-Folgenabschätzung gegeben. Irgendwann hat man radioaktive Strahlen erfunden und dann hat man überlegt, was machen wir mit denen und wie gehen wir vernünftig damit um. Als die Röntgen-Strahlen erfunden wurden, haben die sich in Berlin 1895 gegenseitig geröntgt. Heute greifen wir uns an den Kopf, was die sich alles für Schaden zugefügt haben. In den Kinderabteilungen der Schuhgeschäfte gab es tausende von Durchleuchtungsgeräten. Das ist das strahlenintensivste Verfahren in der Medizin, und die waren in den Kinderabteilungen bis in die 70er-Jahre, bis sie langsam ausgeführt wurden. Man hat zum Beispiel auch Asbest in den Häusern nicht einfach hingenommen und man sagt ja auch nicht, das ist halt da, wir gehen weniger rein. Nein, wir reißen die Häuser ab.
    Und noch eines: Es gibt eine große Studie aus dem Jahr 2015 der Pisa-Studienleiter, und die haben folgendes untersucht: Wieviel wurde in Schüler in über 60 Ländern der Welt in Digitalisierung investiert und wie haben sich die Pisa-Leistungen verändert? Und da kommt raus: Je mehr in Digitalisierung in irgendwelchen Ländern, zum Beispiel Australien ganz viel, Finnland ganz viel investiert wurde, desto schlechter wurden die Pisa-Leistungen im Beobachtungszeitraum. Die Australier haben 2008 Computer eingeführt und 2016 wieder weggeräumt, weil sie so schlecht geworden sind in der Pisa-Studie. Wir tun den Schülern keinen Gefallen, was ihre Gesundheit und ihre Bildung anbelangt, wenn wir Bildungseinrichtungen digitalisieren. Darüber müssen wir uns klar sein. Alles andere ist postfaktische Bildungspolitik.
    "WLan im Klassenzimmer macht die Leistung schlechter"
    Armbrüster: Aber, Herr Spitzer, woher sollen denn dann die künftigen IT-Fachkräfte kommen, die künftigen Fachkräfte in diesem wichtigen Wirtschaftsbereich, wenn die alle erst nach der Schule Gelegenheit haben, sich damit zu beschäftigen?
    Spitzer: Moment mal! Ich sage, dass die Bildung schlechter wird, wenn Sie in der Schule mit digitalen Medien lernen. WLan im Klassenzimmer macht die Leistung um 18 Prozent schlechter, weil die Kinder mehr abgelenkt sind. Wenn Sie abgelenkteren Unterricht machen, werden die Schüler nicht schlauer. Sie müssen aber schlau sein, da haben Sie völlig recht.
    Noch ein Beispiel: Wenn Sie googeln, brauchen Sie keine Medienkompetenz. – Das ist Unsinn! Sie brauchen Vorwissen in dem Bereich, in dem Sie googeln. Dieses Vorwissen, das müssen Sie schon haben, und dann können Sie googeln.
    Nun wissen wir seit 2012, dass Google für die Wissensvermittlung schlechter ist als Bücher, Zeitungen oder Zeitschriften. Wir wollen also in der Schule nicht googeln, weil wir da Wissen erwerben wollen, wirkliches Wissen, das wir hinterher gebrauchen können. Und wenn wir das wirklich ernst nehmen, dann können die Kinder hinterher auch sogar gut googeln, besser als wenn sie nichts wissen. Aber wenn Kinder hinterher gut googeln können sollen, dürfen sie in der Schule eines nicht: Googeln! Das ist eine Idee, die ist ganz klar und die ist nachweislich da. Das haben Harvard-Professoren herausgefunden, im Science Magazine publiziert, und ich kann nicht verstehen, wie sich unsere Politiker dieser Idee immer völlig verstellen. Die wollen das gar nicht hören. Die wollen das einfach nicht hören. Das ist kriminell!
    "Über den Bildschirm flattert jeder Blödsinn"
    Armbrüster: Herr Spitzer, das würde ganz konkret heißen, Schulen sagen dann ihren Schülern, Googeln macht ihr bitte nicht in der gesamten Schulzeit, Google dürft ihr benutzen, wenn ihr 18, 19 seid, wenn ihr die Schulzeit hinter euch habt, bis dahin lest ihr Bücher.
    Spitzer: Moment einmal! So würde man es ja nie formulieren. Man würde einfach aufhören damit zu sagen, wenn ihr googelt oder wenn ihr mit PowerPoint ein Referat haltet, kriegt ihr eine Eins und sonst nur eine Zwei. So herum ist es ja gerade. Wir fordern ja ein Verhalten im Lernen, das auf Oberflächlichkeit hin ausgerichtet ist. Wir fordern genau nicht, sich tief zu beschäftigen. Im Übrigen kommt die neueste Studie, die man über Smartphones und Tablets gemacht hat, von Herrn Kamal. Dabei kam ganz klar heraus: Die Kinder sagen, sie sind sehr medienkompetent. Nur eins von 25 Kindern muss noch beigebracht kriegen, wie man mit Computer und Smartphone umgeht. Die anderen 24 können es. Wenn Sie jetzt Digitalunterricht flächendeckend an Schulen machen, machen Sie den für ein Kind in einer Klasse von 25 Kindern. Das hat eine große deutsche Studie erbracht. Zweitens hat sich gezeigt, dass je medienkompetenter ein Kind ist, desto eher liest es Bücher und nicht vom Bildschirm. Kalifornische Studenten: Wenn man die fragt, wovon lest ihr, sagen die auch Bücher. Ja warum? – Über den Bildschirm flattert jeder Blödsinn; bei Büchern bin ich mir halbwegs sicher, dass das stimmt, was da drinsteht.
    Die Kinder haben das schon länger mitbekommen. Nur wir Erwachsenen sind jetzt noch wirklich so hinterher und so Retro, dass wir glauben, wir müssten jetzt Computer in die Schulen tun, damit die Kinder als Erwachsene besser mit denen umgehen können. Das ist falsch! Wenn man was weiß und denken gelernt hat, kann man auch mit Computern umgehen. Digitalexperten, Leute, die wirklich Programmieren beibringen, sind sich einig, dass man in der Grundschule nicht programmieren sollte.
    Armbrüster: Eine etwas andere Sicht auf das digitale Klassenzimmer – das war hier live in den "Informationen am Morgen" der Ulmer Psychiater, Neurowissenschaftler und Hochschullehrer Professor Manfred Spitzer. Vielen Dank, Herr Spitzer, für Ihre Zeit heute Morgen.
    Spitzer: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    *In der ursprünglichen Fassung haben wir in der Überschrift eine Aussage des Interviewpartners Manfred Spitzer stark verkürzt und als direktes Zitat ausgewiesen. Das war falsch. Wir haben die Überschrift entsprechend geändert.