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"Wir sind Opfer unserer guten Politik"

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Den Parteieintritt habe sie nie bereut, sagt die heute 90-Jährige.
Den Parteieintritt habe sie nie bereut, sagt die heute 90-Jährige. © privat

Irmgard Scheinhardt ist 90 Jahre alt - und seit 72 Jahren SPD-Mitglied. Im FR-Interview spricht die Partei-Veteranin über die goldene Zeit der Sozialdemokraten im Ruhrpott, den Überlebenskampf der SPD und den Groko-Mitgliederentscheid.

Frau Scheinhardt, Sie sind seit mehr als 70 Jahren in der SPD. Haben Sie Angst um Ihre Partei?
Ja, das ist schon eine nervenaufreibende Zeit. Obwohl ich 90 Jahre alt bin, war ich bei vielen der Versammlungen, auf denen jetzt über die große Koalition diskutiert wird. Ich finde es gut, dass wir eine so lebendige Partei sind. Aber natürlich mache ich mir auch große Sorgen, wenn ich die schlechten Umfragewerte sehe. 

Wie sind Sie zu den Sozialdemokraten gekommen?
Das war 1946. Mein Vater und mein Opa waren auch schon in der SPD. Mein Vater war der Kassierer des Ortsvereins – und als solcher hat er mir natürlich nahegebracht, wie wichtig es ist, dass junge Leute in die Partei eintreten. Ich bin also Sozialdemokratin geworden und habe das nie bereut.

Sie haben die goldene Zeit der SPD in den 70ern erlebt. Damals kam gerade bei Ihnen an der Ruhr niemand an der SPD vorbei. Was hat die Partei dort damals so erfolgreich gemacht?
Das war das Selbstbewusstsein der Arbeiter. Die hatten diesen Geist zu sagen: Wir tun uns zusammen und machen gemeinsam etwas, was uns alle voranbringt. Die Leute waren in dieser Hinsicht aktiver als heute. Sie haben sich eingesetzt und damit auch sich selbst stark gemacht.

Was denken Sie, warum ist das heute nicht mehr so?
Die Arbeitswelt hat sich verändert. Damals waren die Gewerkschaften noch richtig stark. Das sind sie in den großen Betrieben ja zum Teil auch heute noch – aber eben nur dort. Mancher fühlt sich zurückgelassen. Und es stimmt ja, wenn immer gesagt wird, dass die Gesellschaft vielfältiger geworden ist. Ich will auch gar nicht sagen, dass das alles schlecht ist. Leider sind wir Sozialdemokraten aber auch Opfer unserer eigenen guten Bildungspolitik geworden.

Erklären Sie uns das bitte genauer.
Ich habe es doch bei meinen eigenen Kindern erlebt: Die haben studiert – und dann haben sie den Weg zur SPD nicht mehr gefunden. Ich finde das ja gut, dass meine Kinder ihren eigenen Weg gegangen sind, und ich diskutiere und streite auch gern mit ihnen. Aber für die SPD geht es eben um ein generelles Phänomen. Wir haben das durchgefochten mit den gleichen Bildungschancen, aber am Ende hat es der Partei nicht geholfen. Bei mir im Ortsverein hat mal jemand gescherzt: „Erst schicken wir sie aufs Gymnasium – und dann verlieren wir sie an die Grünen.“

Sie haben über die vergangenen Jahrzehnte miterlebt, wie es für die SPD Stück für Stück immer schwieriger geworden ist.
Du merkst selbst Wahl für Wahl, wie die Ergebnisse schlechter werden – sogar hier in Bochum. Die Prozentzahlen sind immer ein bisschen mehr abgeschmolzen. Als einfaches Mitglied weißt du nicht so genau, was du dagegen tun kannst. In meinen Jahren im Bochumer Stadtrat habe ich mich ja immer bemüht, Politik für die Menschen zu machen.

Ist die geschrumpfte SPD immer noch eine Volkspartei?
Von der Größe her sind wir an der Grenze. Aber eine gute Mischung von Menschen und der Anspruch, für alle etwas zu bewegen, das ist immer noch da.

Die SPD hat, nicht zuletzt im Ruhrgebiet, durch die Agenda 2010 und die Hartz-IV-Reform viele Wähler verloren.
Das stimmt. Einerseits finde ich, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dieser Politik auch viel für den Erhalt von Arbeitsplätzen getan hat. Andererseits hätten wir da, wo wir Fehler bei der Agenda gemacht haben, diese schon längst korrigieren müssen – oder müssen es jetzt endlich tun. Noch mehr ärgert mich aber, dass die Parteiführung lange vorher Anfang der 80er das Aufkommen der Umweltbewegung verschlafen hat. Dass wir erst Menschen an die Grünen und später an die Linke verloren haben, hat der SPD schwer geschadet.

Hat es auch etwas mit dem Spitzenpersonal zu tun, dass die goldenen Zeiten der SPD vorbei sind?
Einen wie Willy Brandt hat es nicht noch einmal gegeben. Wenn man sich mit ihm beschäftigt und viel über ihn gelesen hat, weiß man aber auch: Willy Brandt, das war ein sehr schwieriger Mensch. Aber es war eben jemand, der von innen für seine Sache gebrannt hat. Manchmal vermisse ich so etwas bei den Politikern heute.

Mit Andrea Nahles steht wahrscheinlich bald die erste Frau an der Spitze der SPD. Warum hat das so lange gedauert?
Die SPD ist noch immer eine sehr männliche Partei. Gerade die älteren Genossen haben sich daran gewöhnt, dass immer sie das Sagen haben. Ich habe 20 Jahre lang erfolgreich einen Ortsverein geführt – aber herangekommen bin ich an die Aufgabe auch, weil sie damals kein anderer wollte. So ist das bei uns Frauen ja häufig.

Oft wollen die Männer die Jobs aber auch gar nicht hergeben.
Als ich in den Siebzigern das erste Mal in den Bochumer Rat gewählt worden bin, ging es am Anfang natürlich um die Verteilung der Ausschüsse. Ein alter Genosse aus Wattenscheid sagte zu mir: „Das ist doch schön für dich, Irmgard, Gesundheit und Soziales.“ Da habe ich geantwortet: „Weißte, jetzt will ich auf jeden Fall in den Bauausschuss.“

Und wo sind Sie gelandet?
Natürlich im Ausschuss für Gesundheit und Soziales. Der Fraktionsvorsitzende mochte mich leider auch nicht so überragend.

Auch wenn es für Sie ganz offensichtlich nicht immer einfach war, sind Sie über all die Jahre in der SPD dabeigeblieben. Welchen Ratschlag haben Sie für junge Menschen, die heute neu in die Partei hinzukommen?
Ich wünsche jedem von ihnen den Mut, auch mal einen eigenen Weg zu gehen. Andererseits finde ich aber auch die Erkenntnis wichtig, dass eine Partei eine Gemeinschaft ist. Und dass so etwas immer auch mit Kompromissen verbunden ist.

Wie stimmen Sie beim Mitgliederentscheid über die große Koalition ab?
Ich stimme mit ja. Ich finde auch nicht alles perfekt an diesem Koalitionsvertrag. Natürlich hat sich die Parteispitze zuletzt teilweise schlecht in der Öffentlichkeit präsentiert. Aber trotzdem meine ich, es gehört auch mal dazu zu sagen: Man kann nicht hundert Prozent durchsetzen – sowohl in der eigenen Partei als auch in der Koalition. Wenn ein Vorstand einen solchen Koalitionsvertrag verhandelt, muss man ihm auch mal den Rücken stärken. Unterm Strich stimmt es doch auch: Das Land muss regiert werden.

Was denken Sie darüber, dass Martin Schulz Außenminister werden wollte – obwohl er versprochen hatte, nicht in ein Kabinett von Angela Merkel zu gehen?
Ich finde, Martin Schulz war ein guter Europapolitiker und ich hätte ihn als Außenminister gar nicht schlecht gefunden. Aber wenn man so etwas sagt, muss man sich auch daran halten. Das bekommt man sonst immer wieder aufs Butterbrot geschmiert. Gerade wir als SPD können uns so etwas nicht leisten.

Was glauben Sie, wie der Mitgliederentscheid ausgeht?
Ich weiß es wirklich nicht, ich bin sehr gespannt. Die Meinungen auf den Versammlungen gehen sehr weit auseinander.

Jenseits vom Schicksal der SPD, was bereitet Ihnen am Zustand unserer Demokratie besonders große Sorgen?
Wie die Rechten sich ausbreiten. Dass die wieder im Parlament sitzen. Das finde ich fürchterlich. Das darf nicht sein in Deutschland.

Und noch eine letzte Frage zur SPD: Glauben Sie es wird Ihre Partei in 50 Jahren noch geben?
Ich bin 90 Jahre alt. Ich kann in die Vergangenheit schauen, aber nicht in die Zukunft.

Interview: Tobias Peter

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