Das „Andere“
Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention
10,- Euro | ISSN 2190-0485
Ästhetisch-performative
Zugänge innovativer Organisationsund Arbeitsgestaltung
Nr.1 | 2011
editorial
Die Grenzen des Rationalen durch
„Das Andere“ überschreiten
In der Vorbereitung dieses Heftes wurde im Redaktionsteam so intensiv diskutiert wie selten zuvor. Was meinen
die Autoren aus dem künstlerischen Bereich eigentlich
genau, wie kann man sich das praktisch vorstellen? Was
hat Ästhetik und „Spiel“ mit funktionalen Prozessen zu
tun? Kann man sich in Wirtschaftsprozessen wirklich so
von der unmittelbaren Zweckgebundenheit des beruflichen Handelns lösen?
Diese Fragen spiegeln ein Unbehagen gewohntes, beherrschtes Terrain zu verlassen, sich auf Neues, „Anderes“ einzulassen und letztendlich – zu lernen.
Wir sind am Ende zu dem Ergebnis gekommen, dass
Fritz Böhle und viele andere an diesem Heft beteiligte
Arbeitsforscher, Künstler, Kunst- und Kulturwissenschaftler und Praktiker es mit diesem Schwerpunktheft
geschafft haben, „das Andere“ für die Organisationsund Arbeitsgestaltung zu erschließen. Damit haben sie
einen wesentlichen Beitrag zur produktiven Überschreitung der Grenze des zweckrationalen Denkens geliefert,
das weite Teile der Arbeits- und Organisationsforschung
bis heute in unterschiedlichen Facetten prägt. Sie nehmen damit eine notwendige Neubewertung und Erweiterung bislang vorherrschender Begriffssysteme und
Denkstrukturen der Arbeitsforschung vor, die jeden
Leser dieser præview auch an seine eigenen Grenzen
führen – Grenzüberschreitungen nicht ausgeschlossen.
Unser gemeinsames Ziel mit diesem Heft war es, die uns
prägenden Grenzen des Rationalen durch die Vermittlung künstlerischer und spielerischer Erfahrung zu
durchbrechen – und damit auch „echte“ Interdisziplinarität zu ermöglichen.
In einigen Beiträgen führt die Eigenlogik des künstlerisch-ästhetischen Umgangs mit dem profanen Alltag
der Organisation auf vielleicht zunächst wenig verständliche Begriffswelten, die sich erst beim zweiten
Lesen in ihrem Sinn für die gestaltungsorientierte Praxis
erschließen. Eine Organisation musikalisch zu denken,
das ist für einen konventionellen Arbeits- und Organisationsforscher erst einmal eine echte Herausforderung.
Insofern ist diese præview auch eine Provokation unseres kategorialen, routinisierten, letztlich konsensorientierten Denkens. Es stört, rüttelt auf, kann damit
selber aber auch zu einer Innovation der Arbeitsforschung werden.
Wer sehen will, wie das Spielerische künstlerischen
Handelns (von Michael Brater in seinem Beitrag eindrucksvoll beschrieben), das sich einer ökonomischen
Verwertungslogik letztlich verweigert, zu einem auch
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præview Nr. 1 | 2011
praktisch inspirierenden Treiber für Innovation und
einem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fordernden Medium werden kann, dem sei das Interview mit Helga Weiß
von der dm drogerie markt-Kette empfohlen. Es macht
deutlich, was man mit ernsthafter Einbindung von
Kunst z.B. in Ausbildung erreichen kann: nämlich autonomes Denken von sich selbst entdeckenden und entwickelnden Menschen anzuregen. Und dies ist nicht nur
die unabdingbare Voraussetzung für Innovation – sondern vor allem für eine „funktionierende“ Gesellschaft
insgesamt.
Ein Experiment bleibt dieses Schwerpunktheft der præview dennoch, weil wir von unserem Anspruch, eine
Zeitschrift für ein interessiertes Publikum aus Praxis
und Wissenschaft zu machen, die sich der alltäglichen
Praxis in den Unternehmen und ihrer Handlungslogik,
ihrer Sprache stellt – und auf diesem Weg auch Wirkung
entfalten will – nicht abrücken. Aber den Blick über den
disziplinären „Tellerrand“ haben wir in fast allen bisherigen Ausgaben der præview eigentlich immer schon
gepflegt, auch durch Einbeziehung von Wissen aus anderen gesellschaftlichen Subsystemen, etwa der Religion. Wir werden dies auch fortsetzen und zum Beispiel
in den nächsten Heften Ethnologen einbeziehen, die
uns Arbeitsbegriff und Arbeitsverständnis anderer Kulturen und Kontinente vorstellen sollen. Auch von Historikern erhoffen wir uns in Zukunft Anregungen, unsere eigenen disziplinären Grenzen zu überschreiten
und unseren Betrachtungshorizont zu erweitern.
Diese Ausgabe der præview hat ihr Ziel aber nur dann
erreicht, wenn wir einen Dialog der Disziplinen initiieren. Ich möchte daher die Leser explizit ermutigen, sich
mit den Autoren in Verbindung zu setzen und eine Diskussion zu beginnen!
Dortmund, im März 2011
Rüdiger Klatt
Herausgeber
inhalt
Das „Andere“
Ästhetisch-performative Zugänge innovativer Organisations- und Arbeitsgestaltung
Natalia Balcázar,
geboren 1966 in Valladolid (Spanien), wohnt
seit 1994 in Deutschland. Seit mehr als zwanzig Jahren fotografiert sie verrostete Gegenstände, die sie z. B. auf den alten Fabrikhalden
des Ruhrgebiets findet. Ihre persönliche Behandlung von Struktur- und Farbharmonien
mit der Kamera trägt den Blick weit über das
hinaus, was alt und wertlos zu sein scheint.
Ihre Fotografien suchen die direkte Kommunikation mit den Empfindungen des Beobachters. Sie stellt schlichtweg vor, was sie findet.
Natalia Balcázar ist Doktorin der Geologie
und Inhaberin der European Environmental
Project Management (ENVIROpro), einem
Beratungsunternehmen im Bereich Umwelt,
Energie und Entsorgung. www.enviro-pro.de
Art Directors’ Comment
Die versteckte Kunstausstellung
Das Thema dieser Ausgabe der præview ist „Das Andere“. Und daher soll sie auch anders aussehen. Wir
wollten nicht der sich quasi aufdrängenden Bildsprache nachgeben, die simpel und plakativ Kunst und
Industrie in einem Bildmotiv zusammenführt oder
gegenüberstellt. Deshalb entschieden wir uns für ein
grafisches Experiment. Alle Bilder dieser præview
stammen von einer Künstlerin, der spanischen Fotografin Natalia Balcázar, die seit vielen Jahren Rost als
durchgängiges Motiv ihrer Arbeiten gewählt hat.
Rost symbolisiert das Alte, aber auch das Ruhige, Entspannte. Wenn man den Rost entfernt, kommt etwas
Glänzendes zum Vorschein. Rost ist das Symbol für
die Industriegesellschaft: geprägt von Eisen und
Stahl, Härte und Schwere, mittlerweile stillgelegt und
ruhend. Rost ist aber nur eine dünne Schicht, unter
der sich weiterhin Funktionsfähiges und Schönes verbirgt. Rost ist so verstanden Leitbild und Gegenstand
der Arbeitsforschung.
Natalia Balcázar hat uns für diese Ausgabe der præview exklusiv unveröffentlichte Werke zur Verfügung
gestellt. Die Motive stammen aus dem Ruhrgebiet,
der Hochburg der Industriekultur und der Arbeitsforschung. Wir freuen uns, so mit dieser Ausgabe der
præview eine „versteckte Kunstausstellung“ als Hintergrund der Artikel verbinden zu können.
Der Leser ist herzlich eingeladen, die Bildbotschaft im
Kontext des einzelnen Artikels für sich persönlich zu
erschließen oder aber die Ästhetik und die formale
Qualität der Fotografien auf sich wirken zu lassen.
Renate Lintfert und Hans Waerder, Q3 design
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Die Grenzen des Rationalen durch Kunst überschreiten
Rüdiger Klatt
Das „Andere“
Ästhetisch-performative Zugänge innovativer Organisations- und Arbeitsgestaltung
Fritz Böhle, Karin Denisow, Eva Renvert, Michael Brater, Wolfgang Stark
02 editorial
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Ästhetische Interventionen als Medium der kritischen Reflexion und
Gestaltung organisationaler Strukturen
Wolfgang Arens-Fischer, Eva Renvert, Bernd Ruping
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Innovationsarbeit und Innovationsprozess – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch
Fritz Böhle, Markus Bürgermeister
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Organisation von Innovation – Management des Informellen
Eckhard Heidling, Judith Neumer, Stephanie Porschen
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Wie Künstler vorgehen – das Konzept des künstlerischen Handelns
Michael Brater
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Dienstleistung – die Kunst Kunden zu verstehen
Claudia Munz, Elisa Hartmann, Jost Wagner
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Durch Kunst kann man lernen: Es kommt auf mich an!
Gespräch mit Helga Weiß, dm drogerie markt, Bereichsverantwortliche für Aus- und Weiterbildung
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Vom Erhandeln des Anderen
Ein theatraler Einblick in Veränderungspotenziale von Organisationen
Jutta Bloem, Benjamin Häring
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Music – Innovation – Corporate Culture
Die Tiefendimension von Organisationskulturen musikalisch erfassen
Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Oliver Bluszcz,
Gisela Humpert, Michaela Wendekamm, Michaela Margiciok
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Organisation musikalisch denken
Christopher Dell
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Neue Horizonte für Innovationsarbeit
Wie ein archetypisches Muster Innovationsprozesse strukturiert und stützt
Karin Denisow, Nina Trobisch
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Was Führungskräfte mit dem risikoreichen Weg des Helden verbindet
Einblick in die Praxis
Karin Denisow, Nina Trobisch
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Digitale Spiele als innovatives Medium für Wissenstransfer und Intervention
Carsten Busch, Florian Conrad, Martin Steinicke
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Vom Entdecken des Neuen durch die „Entüblichung“ des Denkens
Zur Programmatik eines ästhetisch-performativen Ansatzes in der Organisationsforschung und -gestaltung
Wolfgang Arens-Fischer, Michael Brater, Karin Denisow, Stefanie Porschen, Bernd Ruping,
Wolfgang Stark, Nina Trobisch
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Der Künstler als Vorbild der Arbeitsforschung? Da ist Musik drin!
Kurt-Georg Ciesinger
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præview Nr. 1 | 2011
intærview
dælphi
prævokation
impressum
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Das „Andere“
Ästhetisch-performative Zugänge innovativer
Organisations- und Arbeitsgestaltung
Fritz Böhle, Karin Denisow, Eva Renvert, Michael Brater, Wolfgang Stark
Die Planung und die Herstellung von Planbarkeit sind besondere Errungenschaften industrieller Gesellschaften. Insbesondere im Bereich
industrieller Produktion wurden sie in großem
Umfang realisiert. Doch trotz unbestreitbarer
Erfolge zeigt sich: Auch dort, wo die Planung
weit fortgeschritten ist, bleiben Grenzen der
Planbarkeit bestehen und entstehen in neuer
Weise. Komplexe technische Systeme und Organisationen entziehen sich der vollständigen
Berechnung und Planung. Doch nicht nur dies:
Bei Innovationen stößt das Bestreben zu planen
nicht nur an Grenzen, sondern es beinhaltet
auch die Gefahr, dass hierdurch Innovationen
nicht gefördert, sondern behindert werden. Das
Ergebnis und der Verlauf von Innovationen sind
grundsätzlich nur begrenzt vorhersehbar. Bisher
sind die Organisation und das Management von
Organisationen jedoch kaum darauf vorbereitet,
das Unplanbare nicht nur als Defizit zu sehen,
sondern produktiv zu nutzen. Dementsprechend
richtet sich auch das Management von Innovationen vor allem darauf, Innovationsprozesse
weitmöglichst zu planen, zu steuern und zu kontrollieren.
In gesellschaftlichen Lebensbereichen außerhalb der Ökonomie finden sich demgegenüber
jedoch vielfältige Erfahrungen und Praktiken
für einen „anderen“ Umgang mit Unbestimmtheit und Offenheit. Beispiele hierfür sind der
Bereich des Künstlerischen und des Spiels, wie
aber auch Erfahrungen, die in Entdeckungs-,
Helden- und Abenteuergeschichten festgehalten sind. In modernen Gesellschaften haben sich
unterschiedliche Lebensbereiche ausdifferenziert. Ökonomie, Politik, Bildung und Wissenschaft unterliegen jeweils eigenständigen Regeln
und Zielsetzungen. So sind auch das Künstlerische, das Spiel oder das Erzählen von Geschichten zu eigenständigen, von der Ökonomie, Technik und Wissenschaft abgesonderten Lebensbereichen geworden. Sie haben hier die Freiheit
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gewonnen – unabhängig vom Blick auf das unmittelbar Zweckhafte – Kreativität, Fantasie
und immanente Grenzüberschreitungen zu entfalten. Gleichwohl gelten sie aber als weitgehend ökonomisch nutzlos.
Solche Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen werden jedoch zunehmend
brüchig und sind immer weniger haltbar. So erweist sich die traditionell dem Künstlerischen
zugeordnete gestalterische Selbsttätigkeit in
modernen, dezentral organisierten Unternehmen als eine unverzichtbare Humanressource.
Man kann hierin eine Instrumentalisierung des
Künstlerischen, Spielerischen usw. für die Systeme zweckrationalen Handelns sehen. Doch
stellt sich die Frage, in welcher Weise darin
nicht grundlegende Potenziale liegen, sowohl
für eine Weiterentwicklung der Organisation
von Unternehmen als auch einer humanen Gestaltung von Arbeit jenseits von Planung und
rigider Kontrolle.
In dieser Perspektive haben mehrere Forschungsverbünde in den BMBF-Förderprogrammen „Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen
Arbeitswelt“ und „Innovationen mit Dienstleistungen“ neue Wege zur Förderung von Innovation, der Organisationsentwicklung und Arbeitsorganisation beschritten. Dabei sind jeweils
unterschiedliche Zielsetzungen, Konzepte und
Methoden leitend. Gemeinsam aber ist allen
Beteiligten, dass sie auf den Anspruch verzichten, Kunst für oder in Unternehmen zu produzieren. Vielmehr geht es in allen Forschungsverbünden darum, autotelische Reflexions- und
Gestaltungsweisen in die Analyse und Entfaltung von Arbeitssystemen und Unternehmenskulturen zu integrieren sowie deren Wirkung
und Reichweite zu überprüfen. Qualitäten, die
traditionell der Kunst, dem Spiel zugeordnet
werden, sind damit nicht extrapoliert. Sie er-
scheinen vielmehr nebenbei: ein Rhythmus, der
sich auf die Begriffe legt, ein Gestus, in dem
sich die Strukturen von Herrschaft brechen, ein
Bild, das allen gegenwärtig ist und so die Wahrnehmung neu ausrichtet. Kunst wirkt hier nicht
als exklusives Kulturangebot, sondern als immanenter Bestandteil der Kommunikation zwischen
den Protagonisten der Projekte und denen der
Unternehmen. Die Beiträge in diesem Heft geben, entlang den beteiligten Forschungs- und
Entwicklungsvorhaben, exemplarische Einblicke
in diese Prozesse. Es sind dies:
Der Forschungsverbund KES-MI (Künstlerisch, Erfahrungsgeleitet, Spielerisch – Management des Informellen zur Förderung innovativer
Arbeit) geht davon aus, dass menschliche Fähigkeiten und Handlungsweisen, die zumeist
dem Künstlerischen und Spielerischen zugeordnet werden, für innovative Arbeit wichtig sind.
Beispielhaft hierfür sind das unbefangene SichEinlassen auf Neues, eine spürende und empfindende sinnlich-körperliche Wahrnehmung
oder das Erreichen von Ergebnissen, ohne dass
diese bewusst angestrebt und geplant werden.
Innovative Arbeit fügt sich demnach nur begrenzt in formalisierte Strukturen ein und erfordert ein Management von Innovationen, das
informelle Prozesse zulässt, unterstützt und
fördert. Beispiele hierfür sind ein situativ-experimentelles Projektmanagement, Entscheidungen in laufenden Arbeitsprozessen sowie agile
Entwicklungsprozesse und ein kooperativer Erfahrungstransfer.
www.kes-mi.de
Der Forschungsverbund MICC (Music_Innovation_Corporate Culture) nutzt Musiksprache
und musikalische Muster (Improvisation) als
Medium zur Analyse und Entwicklung von innovativen Organisationskulturen. Gemeinsam
mit den beteiligten Unternehmen/Organisationen werden über Fallanalysen und künstlerische
Zugänge (Partituren, Gesprächskonzerte) Muster sichtbarer und verdeckter Organisationskulturen in ihrer Bedeutung und Wirkung für die
Organisation analysiert und verdeutlicht. Die
Sprache der Musik und musikalische Muster ermöglichen dadurch eine neue Dimension der
Wahrnehmung, die innovative Muster hörbar
macht. Relevante und wiederkehrende Erfolgsmuster, aber auch „pathogene“ Muster lassen
sich identifizieren, die die Basis für eine Mustersprache für Organisationen bieten und für die
Weiterentwicklung organisationsspezifischer Organisationskulturen genutzt werden können.
Die gemeinsame Entwicklung und Erprobung
verschiedener Instrumente (Gesprächskonzerte,
Organisationspartituren, Improvisationsmuster)
ermöglicht neuartige Formen der Analyse von
Organisationskulturen mit den spezifischen Dimensionen der Musik. Werden Organisationen
auf diese Weise auch im zeitlichen Längsschnitt
„musikalisch gedacht“, werden innovative Veränderungsprozesse und nachhaltiges Organisationslernen hinsichtlich zukünftiger Herausforderungen in Organisationen möglich.
www.micc-project.org
Der Forschungsverbund THINK (Theatrale Interventionen im Innovations- und Kooperationsmanagement) setzt den Schwerpunkt auf
die Exploration von Kommunikation und Verhalten in Kooperationskontexten. Der zentrale
Ansatz ist dabei die Theatrale Organisationsforschung (TO), die nach den Prinzipien der ästhetischen Bildung auf Schauspieltheorien und
-methoden zurückgreift. Unternehmensakteure
reflektieren ihre Wirklichkeit, indem sie dieselbe
entweder in der Rolle des Regisseurs gestalterisch in Szene setzen oder als Spieler selbst
neue Zugänge zu den Situationen und Phänomenen ihres Alltags finden. In der Reflexion der
in Bild oder Szene eingefangenen Wirklichkeit
zeigen sich zugleich die Möglichkeiten anderer
Handlungsoptionen. Dabei liegt der Fokus nicht
præview Nr. 1 | 2011
auf dem individuellen Verhalten des/der einzelnen Protagonisten/in, sondern auf dem organisationalen bzw. kooperativen Kontext, in dem
sein/ihr Verhalten als notwendiges erklärbar
wird. So werden die Zusammenhänge von organisationalen Strukturen und Verhaltens- und
Kommunikationsweisen sichtbar und im Kontext von Prozessverläufen reflektierbar. Ziel ist,
die Ergebnisse des Forschungsprojektes in einem verhaltensbasierten Managementsystem
zusammenzufassen.
www.forschungsprojekt-think.de
Der Forschungsverbund KunDien (Dienstleistung als Kunst – Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit) geht der
Frage nach, welchen Beitrag das künstlerische
Handeln, also die Handlungs- und Vorgehensweise von Künstler/innen, zur Professionalisierung von Dienstleistungsarbeit leisten kann.
Viele moderne Dienstleistungen zeichnen sich
dadurch aus, dass ihre Erbringung offen-prozesshaft vonstattengeht, der Kunde direkt in die
Leistungserbringung miteinbezogen werden
muss und die genaue Definition der zu erbringenden Leistung erst im Leistungsprozess selbst
erfolgt. Professionell zu handeln heißt vor diesem
Hintergrund, mit der Offenheit dieser Dienstleistungssituation produktiv umzugehen und
den Prozess situativ und dialogisch, gemeinsam
mit dem Kunden zu gestalten. In KunDien arbeiten Künstler/innen, Wissenschaftler/innen
und Unternehmensvertreter/innen zusammen,
um gemeinsam ein Verständnis für professionelle Dienstleistungsarbeit, das die zentralen
Merkmale eines „künstlerischen“ Vorgehens
aufgreift, zu erarbeiten und in einem Leitbild
„Dienstleistungskünstler“ zu beschreiben. Darüber hinaus werden Kompetenzentwicklungskonzepte entwickelt und umgesetzt, mit deren
Hilfe Dienstleister die dafür notwendigen Handlungskompetenzen erwerben können.
www.dienstleistungskunst.de
Der Forschungsverbund HELD (Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip) erkundet
die nachhaltige Wirkung kultureller Grundmuster für Entwicklung und Innovation. Die in den
Heldenmythen über Jahrtausende verdichtete
Menschheitserfahrung von Wachstum und Wandel wird als ursprüngliches Prinzip für die Bewältigung von Ungewissheit in Innovationsprozessen zugänglich. Unternehmen, Teams und
Individuen können mit dieser Struktur die eigenen Entwicklungsprozesse als immer wiederkehrende Abfolge von Phasen und Schritten
nachvollziehen. In offenen Prozessen erhalten
die Akteure Sicherheit in der Unsicherheit. Das
Projekt geht von dieser kollektiven Weisheit aus
und entwickelt ein Konzept für die externe Begleitung von Organisationsentwicklung. Künstlerisch-ästhetische Methoden – Dramaturgie,
darstellende Kommunikation, Story Telling, Creative Writing, bildkünstlerisches Gestalten, musikalische Impulse, Körperarbeit etc. – sind Arbeitsweisen, um das Heldenprinzip ganzheitlich
zu vermitteln. Die in den kulturellen Zwischenräumen der Organisation und des Einzelnen
vorhandenen Möglichkeiten werden sichtbar;
es eröffnen sich neue Handlungsoptionen und
Kommunikationsflächen. Im Ergebnis des Projektes ist die Wirksamkeit dieses Ansatzes geprüft und ein Interventionsmodell entwickelt.
www.innovation-heldenprinzip.de
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Ästhetische Interventionen als Medium der kritischen Reflexion
und Gestaltung organisationaler Strukturen
Wolfgang Arens-Fischer, Eva Renvert, Bernd Ruping
Ästhetik – funktionale Einordnung in
die Gestaltung innovativer Arbeit
Die Suche nach Erfolg versprechenden Konzepten
zur Stärkung der Innovationskraft wird intensiv
betrieben. Dabei rücken die Organisationsmitglieder selbst als „eigensinnige“ Menschen zunehmend in den Fokus des Interesses. So wird
personen- und körpergebundenes Erfahrungswissen und lebendiges Arbeitsvermögen immer
mehr zur zentralen Ressource im Umgang mit
Komplexität und Unwägbarkeiten (vgl. Böhle et
al. 2004; Pfeiffer 2004). Darüber hinaus eröffnet
das Erkennen der Veränderungsfähigkeit und
Veränderungsbedürftigkeit organisatorischer
Arbeitskontexte die Option zu Handlungsinitiative und innovativer Arbeit (vgl. Gebert 2004).
Ästhetik als Erkenntnisdisziplin, die sich im Unterschied zum begrifflichen Erkennen mit Handlungen sinnlichen Erkennens befasst, stellt den
Menschen als erkennendes Subjekt in den Mittelpunkt. Ihr Anliegen: die menschlichen Sinne
auf Wahrnehmung hin zu öffnen. Dabei helfen
ästhetische Interventionen zum einen Wahrnehmung gezielt auszurichten und zu lenken,
zum anderen sie polyvalent zu entfalten, so dass
sich Raum für die Reflexion und weiterführend
für die Gestaltung neuer Arbeitskontexte ergibt
(Arens-Fischer, Renvert & Ruping, 2010).
betr.: „Nötigung zur Ästhetik“ (Theodor W. Adorno)
1 Eine ästhetische Behauptung formieren
Rituale der organisationalen Kommunikation und Interaktion über künstlerische Eingriffe gegen den Strich bürsten,
zuspitzen, bis zur Kenntlichkeit verfremden
= sinnliche Erkenntnistätigkeit
+
2 Die Arbeit des Deutens moderieren
Spannung zwischen der Realität der ästhetischen Bilder
(Szenen, Texte, Töne usw.) und den herrschenden Handlungs- und Denk-Konventionen verteidigen
= begriffliche Übersetzungsarbeit (entlang den Widersprüchen, Brüchen und Ungereimtheiten)
3 Den „Mantle of the Experts“ neu probieren
=
für die Mitglieder der Organisation: die Koordinaten der
betrieblichen Selbstverständnisse auf die Probe stellen
= Akzentuierung der ou-topischen Dimension
(das, was sein könnte)
für die Theaterpädagogen: die Koordinaten der künstlerischen Selbstverständnisse auf die Probe stellen
= Akzentuierung der topischen Dimension (das, was ist)
Abb. 1: Der Prozess der ästhetischen Reflexion
Ästhetik als Erkenntnisdisziplin –
Rahmung künstlerischer Zugänge
Das Ästhetische bezeichnet die durch die Sinne
vermittelte Wahrnehmung und ihre Deutung,
einschließlich der damit verknüpften emotiona-
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len Bewegungen. Die Ästhetik weist den Sinnen
ein Erkenntnisvermögen zu – quasi als „Schwesternkunst“ zur Logik der Vernunft. Künstlerische
Zugriffsweisen werden zum Medium, auf sinnliche Weise Erkenntnisse zu generieren. Das,
was sich „in Wirklichkeit“ zeigt, wird über die
künstlerische Verfremdung oder Verdichtung
der sensorischen Deprivation des Alltags entrissen und zu einem Ereignis, dem der Impuls anhaftet, das Gewohnte neu zu betrachten.
Als Theorie der Kunst gewinnt Ästhetik hier eine
erweiterte Bedeutung, indem sie insistiert auf
die Begrenztheit des linear-logischen Denkens
und ihm die Polyvalenz des künstlerischen Ereignisses entgegenhält, das (als Text, als Klang,
als Bild, als Szene) der Vernunft des Intentionalen misstraut und auf Responsivität setzt: Was
denn für wahr zu halten ist, bildet sich erst im
Spannungsraum zwischen ästhetischer Behauptung und ihrer Rezeption, d.h. den Antworten aus dem Dafür- oder Dagegenhalten
der Rezipienten (s. Abb. 1), nicht aber in rationaler Diskursivität oder Empirie. Das Nicht-derFall-Seiende zu denken, sei die „Nötigung zur
Ästhetik“ (Adorno 1974).
Betrachten wir Organisationen nach Maßgabe
des Ästhetischen im weiteren Sinne, dann ist
unschwer erkennbar, dass es sich dabei in aller
Regel um intentional gewirkte, geschlossene
Formen handelt. Darin wird, nach Maßgabe des
ökonomischen Kalküls, auf Sicherheit gespielt.
Das Wagnis, diese geschlossenen Formen des Gestalteten zu öffnen, wird unter dem Aspekt der
Innovativität seit längerem diskutiert (vgl. Gebert et al. 2001). Dabei wird der „geschlossenen“
Struktur eine „offene“ gegenübergestellt, gleichsam als zwei Pole eines Dualismus. Deren Zweck
ist zum einen die Öffnung der organisationalen
Wahrnehmbarkeit, d.h. die Erschließung der
Veränderungsbedürftigkeit und Veränderungsfähigkeit der Organisation durch ihre Mitglieder.
Zum anderen soll die Befähigung zur Selbst-Gestaltung im Inneren der Organisation befördert
werden (vgl. Boerner 1994; Gebert et al. 2001).
Als dafür geeignet indiziert ist die „Balance“
zwischen offener und geschlossener Struktur.
Nicht die hundertprozentige Öffnung im Sinne
einer vollständigen Situationskontrolle durch
den Einzelnen ist demnach für die Gestaltungskraft einer Organisation erfolgversprechend,
sondern die „Vermittlung“ zwischen den Polen.
Doch wie funktioniert die „Vermittlung“ im
Wolfgang Arens-Fischer, Eva Renvert, Bernd Ruping
Sinne einer Balance? Wie soll die Wahrnehmung der Veränderungsbedürftigkeit und die
Veränderungsfähigkeit der Organisation initiiert
und im betriebswirtschaftlich fruchtbaren Rahmen gehalten werden? Aus kunst-soziologischer Perspektive ist eines evident: Die intentional präformierte Ästhetik des Warenschönen
dominiert als Design jede offen-experimentelle
Darstellungsweise und damit auch mögliche responsive Formen der ästhetischen (Re)Präsentation: Die Marke führt, der Mensch folgt.
Wir schlagen deshalb vor, die Offenheit und Geschlossenheit einer Organisation grundsätzlich
dialektisch zu verstehen und sie auch in der Dimension des Ästhetischen zu fassen (Arens-Fischer, Renvert & Ruping 2010).
Die Ästhetische Dimension
im Spannungsfeld von Sinnvermittlung und Sinnsuche
„geschlossene Formgebung“
ums auf Design oder Wieder-Erkennbarkeit,
sondern mit Bezug auf die Mannigfaltigkeit der
Ästhetik als Erkenntnisdisziplin, so lässt sich die
ästhetische Dimension (s. Abb. 2) zwischen den
Polen einer „geschlossenen“ und „offenen“ Formgebung entfalten. Auf diese Weise wird die
Identität der Organisation als Handlungs- und
Kommunikationssystem im ständig zu reflektierenden Spannungsfeld zwischen Sinnvermittlung und Sinnsuche geprägt. Die ästhetische
Erfahrung prägt das Verhalten der Organisationsmitglieder nachhaltig. Was man sieht (hört,
fühlt) korreliert derart auffallend mit den unsichtbaren Vorstellungen, dass man die entsprechenden performativen Praxen ein Bilden, Finden und Erfinden von Selbst- und Weltbildern
nennen kann (Schürmann 2008). Bewusst eingesetzte Ästhetik ermutigt den Menschen zu
einer Wahrnehmung von „Etwas-als-etwas-Anderes“. Dies gilt sowohl für die Makrostrukturen
der Organisation, deren Bedarfe sich als Handlungs- und Verhaltensraum mit Regeln und
Rollenprofilen artikulieren, als auch für die Mikrostrukturen des einzelnen Menschens, bei dem
sie als Einstellung, als Haltung wirksam werden.
Erklärbar sind nun sowohl die organisationalen
Strukturen und Prozesse hinsichtlich ihrer Veränderungsbedürftigkeit und -fähigkeit als auch
die Verhaltensweisen und -alternativen der Beteiligten selbst. So rahmt die Betrachtung einer
Organisation mit ästhetischen Mitteln im selben
Maße das, was darin der Fall ist, wie sie Spielräume eröffnet und Vorstellungen ermöglicht
jenseits der „normativen Kraft des Faktischen“.
„offene Formgebung“
Wahrnehmung, Gestaltung und Deutung durch die Sinne
aisthanomai = ich nehme wahr (gr.)
monovalent
polyvalent
zielorientiert
autotelisch
die Sinne ausrichtend
Erfahrungsräume definierend
die Sinne aufschließend
Erfahrungsräume öffnend
geschlossene CI (Corporate
Identity)
als sinnliche Bestätigung
des Gewohnten
(topische Qualität ~ orientierend)
= sinnliche Anrufung
Artistic Brand (offene CI)
als sinnliche Verfremdung
des Gewohnten
(ou-topische Qualität ~
„Etwas fehlt.“)
= sinnliche Erkundung
positionierend:
regulieren & entlasten
fixieren & einüben
glauben & beschwören
= für wahr halten
(Sinn als Besitz)
dispositionierend:
deregulieren & zutrauen
auftauen & erproben
zweifeln & neu-nachdenken
= wahrnehmen
(Sinn als Ziel)
Abb. 2: Die Ästhetische Dimension im Spannungsfeld von Sinnvermittlung und Sinnsuche
(Arens-Fischer, Renvert & Ruping 2010)
Bedeutung und Funktion der Ästhetik
zur Reflexion und Gestaltung betrieblicher Arbeitskontexte
Wie selbstverständlich werden ästhetische Mittel genutzt, um eine ganzheitliche ästhetische
Erfahrung im Sinne einer Corporate Identity
(also einer Identität der Organisation) zu entwickeln, in der das als faktisch Wahrgenommene,
dazu Imaginierte und dabei Gefühlte integriert
werden kann. Geschieht dies nicht in einseitiger
Verpflichtung des ästhetischen Instrumentari-
præview Nr. 1 | 2011
Die Autoren
Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Arens-Fischer ist Leiter
des Departments für Duale Studiengänge der
Hochschule Osnabrück.
Prof. Dr. Bernd Ruping ist Leiter des Institutes für
Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück.
Eva Renvert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
des Institutes für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück.
Kontakt: e.renvert@hs-osnabrueck.de
Literatur
Adorno, Th. W. (1974). Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Arens-Fischer, W., Renvert, E. & Ruping, B. (2010). Zur
Bedeutung der Ästhetik in der Analyse und der nachhaltigen
Gestaltung betrieblicher Arbeitskontexte. Tagungsband 56,
Kongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft 24. – 26.
März 2010. Darmstadt.
Boerner, S. (1994). Die Organisation zwischen offener und
geschlossener Gesellschaft. Athen oder Sparta. Berlin:
Duncker & Humblot.
Böhle, F., Pfeiffer, S. & Sevsay-Tegethoff, N. (Hrsg., 2004).
Die Bewältigung des Unplanbaren. Wiesbaden: VS.
Gebert, D., Boerner, S. & Lanwehr, R. (2001). Innovationsförderliche Öffnungsprozesse: Je mehr desto besser? In:
Die Betriebswirtschaft, 61 (2), 204 - 222.
Gebert, D. (2004). Innovation durch Teamarbeit. Stuttgart:
Kohlhammer.
Pfeiffer, S. (2004). Arbeitsvermögen – Ein Schlüssel zur Analyse
(reflexiver) Informatisierung, Wiesbaden: VS.
Schürmann, E. (2008). Sehen als Praxis – Ethisch-ästhetische
Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
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Fritz Böhle, Markus Bürgermeister
Innovationsarbeit und Innovationsprozess –
künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch
Fritz Böhle, Markus Bürgermeister
Bestrebungen zur Förderung von
Innovationen in Unternehmen
richten sich zumeist auf individuelle Fähigkeiten oder die Organisation. Kaum beachtet wird dabei,
dass Innovationen in Arbeitsprozessen entstehen. Die „Innovationsarbeit“ ist das Verbindungsglied
zwischen individuellen Fähigkeiten
einerseits und der Organisation von
Innovationsprozessen andererseits.
Sie ist ein bisher nicht beachteter
„Missing Link“.
Innovationsarbeit
Arbeit ist nach dem in Wissenschaft und Praxis
vorherrschenden Verständnis ein zielgerichtetes, planmäßig-rationales Handeln. Der Grundsatz „erst planen, dann ausführen“ ist jedoch bei
Innovationsarbeit nicht anwendbar. Der konkrete Verlauf und das Ergebnis sind offen und
unbestimmt. Dies besagt nicht, dass bei Innovationsarbeit planmäßiges Vorgehen keine Rolle
spielt. Doch sieht man nur dies, werden Innovationen nicht gefördert, sondern gefährdet.
Das FuE-Vorhaben KES-MI hat sich zum Ziel gesetzt Innovationsarbeit genauer zu bestimmen.
Dabei wurden drei besondere Elemente herausgearbeitet: das künstlerische, das erfahrungsgeleitete und das spielerische Handeln.
Das Element des künstlerischen Handelns (vgl.
den Artikel von Michael Brater in diesem Heft)
macht darauf aufmerksam, dass Innovationsarbeit besondere subjektive Haltungen erfordert.
Neues kann weder durch Routine noch durch
äußeren Zwang entstehen. Es muss vielmehr –
auch dann, wenn es als „äußere Anforderung“
auftritt – zu einem „inneren Anliegen“ werden.
Damit verbindet sich die grundsätzliche Offenheit für Unbekanntes und hierauf bezogene Inspirationen aus der Umwelt. Und schließlich
kommt es darauf an, nicht nur Erfolge, sondern
auch Misserfolge als Inspiration zu nutzen.
Das Element des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns (Böhle 2009, Böhle
et al. 2004) zeigt, in welcher Weise bei Innovationsarbeit das Ergebnis erst durch das praktische Handeln eruiert wird. Grundlegend hierfür
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ist ein exploratives und dialogisch-interaktives
Vorgehen. Das „Neue“ entsteht demnach durch
ein schrittweises „Herantasten“, bei dem das jeweilige Ergebnis eines Arbeitsschrittes auf den
weiteren Verlauf einwirkt und ihn beeinflusst.
Ein Gegenstand oder ein Problem wird somit
nicht einseitig „bearbeitet“; es entsteht vielmehr ein „Dialog“, bei dem die Wirkungen des
eigenen Handelns gerade auch Unerwartetes
und Überraschendes auslösen. Um zu erkennen,
welche Wirkungen und Möglichkeiten sich aus
einem Arbeitsschritt ergeben, ist eine subtile
sinnliche Wahrnehmung notwendig. Es müssen
„Informationen“ wahrgenommen werden, die
nicht exakt und eindeutig definiert sind und die
nur durch ein besonderes Gespür wahrgenommen werden können. Das „Erahnen“ einer möglichen Entwicklung spielt hier ebenso eine Rolle
wie die Entwicklung von „Vorstellungen“ über
bisher noch Unbekanntes. Solche Wahrnehmungen sind eng verbunden mit einem bildhaften und assoziativen Denken.
Das Element des spielerischen Handelns (Böhle
2006) bezieht sich auf das empirisch oft beobachtete Phänomen, dass Neues gerade dann
entsteht, wenn dies nicht bewusst angestrebt
wird. Dies resultiert weniger aus dem viel zitierten Zufall, sondern aus einer – zumeist unbewussten – Umdefinition der Arbeitssituation in
eine Spielsituation. Ein Merkmal des Spiels ist,
dass im Unterschied zur Arbeit kein außerhalb
des Spiels liegender Zweck angestrebt wird. Dieser kann sich – wie beispielsweise bei den pädagogischen Wirkungen des kindlichen Spiels –
ergeben, er ist aber nicht das Ziel der Spieler.
Die Abwendung von „äußeren“ Ziel- und Zwecksetzungen bei gleichzeitiger Konzentration auf
den Selbstzweck spielerischen Handelns macht
es möglich, Lösungswege auch ohne Erfolgsgarantie „mit allem Ernst und Sachverstand“ zu
verfolgen. Damit verbindet sich das für das Spiel
charakteristische Eintauchen in einen „geschützten Raum“. Und zugleich macht das Spiel darauf
aufmerksam, dass Offenheit und Unbestimmtheit nicht gleichbedeutend mit Regellosigkeit
sind. Regeln müssen jedoch so angelegt sein,
dass Offenheit und Unbestimmtheit nicht verhindert, sondern vielmehr als Anreiz und Anstoß
für selbstständiges Handeln wirksam werden.
Innovationsarbeit ist in Forschung und Entwicklung der Kern der Arbeit. Bei einem breiten Verständnis von Innovation ist Innovationsarbeit
aber auch ein Element aller Arbeitsbereiche. Innovationsarbeit gibt eine Antwort auf die Frage,
„wie“ bei Innovationen gearbeitet wird. Die hierzu
komplementäre Seite ist der Innovationsprozess.
Er beschreibt, „was“ bei Innovationen geschieht.
Innovationsprozess
Im Rahmen des betriebswirtschaftlich und ingenieurmäßig ausgerichteten Innovationsmanagements werden vier Phasen von Innovationsprozessen unterschieden: Ursprungsidee,
Forschung und Entwicklung, Einbringung in den
Markt, Durchsetzung im Markt. Der Innovationsprozess verläuft demnach in klar definierten,
abgrenzbaren Phasen, auf die sich jeweils unterschiedliche Instrumente der Planung, Steuerung und Kontrolle beziehen können. Richtet
man demgegenüber den Blick auf Grenzen der
Planung und betrachtet diese als substanzielles
Element und Potenzial von Innovationsprozessen, ist eine solche Phasenaufteilung unzureichend. Erweiterungen sind für die Phasen Ursprungsidee sowie Forschung und Entwicklung
notwendig.
Die Impulse für Innovationen
KES-Innovationsarbeit – Handlungsdimensionen
können sich aus konkreten
praktischen Problemstellungen
Künstlerisch
Erfahrungsgeleitet
Spielerisch
oder Visionen über zukünftige
Subjektive Haltung
Aktion
Situationsdefinition
Entwicklungen ergeben. Die
Ideenfindung erfordert in beiOffenheit für Unbekanntes Explorativ-entdeckendes
Absichtslose ZweckerVorgehen als schöpferischer reichung („Eintauchen“)
(„Möglichkeitssinn“,
den Fällen jeweils unterschiedProzess
Inspiration im Prozess)
liche Vorgehensweisen und
„Kreatives Scheitern“ und Sinnliche Wahrnehmung
Emotional involviert in
Ressourcen. Zugleich ist sie
und Imagination des Ver„Kreative Zerstörung“
geschütztem Raum
aber nur ein Teilaspekt. Ebenso
wendungszusammenhangs
wichtig ist die Sammlung, BeErahnen (Gespür) der imma- Offen und ungewiss
Inneres Anliegen,
urteilung und letztlich Ausnenten Entwicklungslogik
persönlicher Ausdruck
innerhalb von Regeln
wahl der Ideen, die aufgegriffen und weiterverfolgt werden.
KES-Innovationsarbeit – Handlungsdimensionen
præview Nr. 1 | 2011
Dies kann zu Beginn eines Innovationsprozesses
stattfinden oder auch erst in dessen Verlauf folgen. So können aufgrund nicht vorhersehbarer
praktischer Erfahrungen Entscheidungen revidiert werden, oder endgültige Entscheidungen
können bewusst offen gehalten und vom praktischen Verlauf des Innovationsprozesses abhängig gemacht werden. An die Stelle eines
linearen, phasenhaften Ablaufs treten damit rekursive und parallel verlaufende Prozesse.
Im Besonderen betrifft dies auch das Verhältnis
zwischen Forschung und Entwicklung. Im Phasenmodell beinhaltet die Entwicklung die praktische Umsetzung von Forschungsergebnissen
(z. B. Prototyp). In der Praxis enthält die Entwicklung jedoch ein eigenständiges Innovationspotenzial. Neue Problem- und Fragestellungen können auftauchen und zu eigenständigen
Lösungswegen sowie neuen Anforderungen an
die Forschung führen.
Aus dieser skizzenhaften Betrachtung von Innovationsprozessen lassen sich unterschiedliche
Typen von Innovationsarbeit ableiten. Sie können sich auf den Innovationsprozess insgesamt
oder nur auf einzelne Elemente wie beispielsweise Forschung oder Entwicklung beziehen.
Die Autoren
Prof. Dr. Fritz Böhle leitet den Bereich Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der
Universität Augsburg.
Dr. Markus Bürgermeister ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Sozioökonomie
der Arbeits- und Berufswelt an der Universität
Augsburg. Kontakt: markus.buergermeister@
phil.uni-augsburg.de
Literatur
Böhle, F. (2009). Weder rationale Reflexion noch präreflexive
Praktik. Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln. In
Böhle, F. & Weihrich, M. (Hrsg.): Handeln unter Unsicherheit
(S. 203-230). Wiesbaden: VS.
Böhle, F. (2006). High-Tech-Gespür. Spiel und Risiko in der erfahrungsgeleiteten Anlagensteuerung. In Gebauer, G., Poser, S.,
Schmidt, R. & Stern, M. (Hrsg.): Kalkuliertes Risiko. Technik, Spiel
und Sport an der Grenze (S. 249-267). Frankfurt a.M.: Campus.
Böhle, F., Pfeiffer, S. & Sevsay-Tegethoff, N. (2004). Die Bewältigung des Unplanbaren. Fachübergreifendes erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen. Wiesbaden: VS.
11
Organisation von Innovation –
Management des Informellen
Eckhard Heidling, Judith Neumer, Stephanie Porschen
Künstlerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit kann sich in Innovationsprozessen nur dann produktiv
entfalten, wenn die Formalisierung von Abläufen und Prozessen
begrenzt wird. Notwendig ist ein Management des Informellen.
Im Projekt KES-MI wurden hierzu unterschiedliche Gestaltungsansätze entwickelt.
Eckhard Heidling, Judith Neumer, Stephanie Porschen
Situativ-experimentelles
Projektmanagement
Innovationsprozesse werden heute überwiegend projektförmig gestaltet, organisiert und
umgesetzt. Projekte mit hohem Innovationsgrad haben besondere Merkmale:
æ Es wird zwar ein zeitlicher Horizont fixiert, die
genaue Terminierung wird jedoch zwischen
den Projektpartnern abhängig vom Verlauf
der einzelnen Projektphasen ausgehandelt.
æ Die Art des Vorgehens ist häufig unscharf
und entsprechend wenig planbar.
æ Die Art der Steuerung muss ein hohes Maß
an flexiblen Umorientierungen erlauben, um
unterschiedliche und bei Projektbeginn kaum
vorhersehbare Wege zum Innovationsziel offen zu halten.
æ Die Zielbestimmung gibt statt eines vorab klar
umrissenen Ergebnisses einen Rahmen vor,
dessen Präzisierung im Projektverlauf erfolgt.
Der Erfolg industrieller Innovationsprojekte
hängt entscheidend davon ab, die Potenziale
offener und unbestimmter Situationen und
Prozesse zu nutzen und damit künstlerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit zu fördern. Ein situativ-experimentelles
Projektmanagement ist hierauf eine Antwort. In
den Mittelpunkt rückt die offene Planung. Sie
gibt einen Rahmen vor, der durch das konkrete
Handeln der am Projekt beteiligten Akteure
ausgefüllt wird. Ein wichtiges Prinzip ist, keine
Denkverbote aufzustellen. Dies führt dazu, dass
der Innovationsprozess nicht durch Pfadvorgaben begrenzt ist und methodisch bisher nicht
bekannte Wege beschritten werden können.
Misserfolge werden von Seiten des Managements nicht mit Schuldzuweisungen gegenüber
den Beschäftigten verbunden, sondern explizit
als Erkenntnisgewinn verbucht. Ein wichtiges
Element der Projektsteuerung ist, Austauschprozesse zwischen den beteiligten Akteuren zu
organisieren, in denen die Überzeugungskraft
von Argumenten statt der hierarchischen Stellung über die jeweils nächsten Schritte im Projektverlauf entscheidet. Dabei sind Räume und
Gelegenheiten für einen informellen Austausch
über die jeweiligen Problem- und Fragestellun-
12
gen häufig sehr viel wichtiger als offizielle Sitzungen. Darüber hinaus besteht eine zentrale
Aufgabe für das Projektmanagement darin, offene Strukturen zu schaffen. Dies bedeutet etwa, Teilaufgaben für Mitarbeiter zu definieren
und in einem bestimmten Rahmen zeitliche und
inhaltliche Freiräume zu geben. Der Verzicht auf
explizite Vorgaben (Zielhierarchien, Messbarkeit
aller Projektschritte u.a.) fördert die Begeisterung der Beschäftigten, Ideen zu entwickeln.
Solche Prozesse sind weniger durch leitende
und stärker durch moderierende Aufgabenstellungen des Projektmanagements geprägt.
Agile Entwicklungsprozesse und
kooperativer Erfahrungstransfer
Mit den inzwischen weit verbreiteten agilen
Entwicklungsprozessen sollen Kreativität, Selbstverantwortung und Freude am Arbeitsplatz
gefördert werden. Für erfolgreiche Innovationsprojekte sind darüber hinaus geeignete Rahmenbedingungen für den Austausch von Erfahrungswissen erforderlich, das in weiten Teilen
impliziten Charakter aufweist. Dies kann mit
einer in laufende Prozesse eingebetteten Form
der erfahrungsgeleiteten Kommunikation, dem
sog. kooperativen Erfahrungstransfer, ermöglicht werden. Die Führung, Anleitung und Begleitung von all dem ist mehr mit Jonglieren
denn Kontrollieren verbunden. Es geht um Fingerspitzengefühl für Unterstützungsbedarf und
sinnvollen Freiraum für die Beteiligten, aber
auch dessen Grenzen.
Der Raum in den hier untersuchten Fällen besteht aus Gelegenheitsstrukturen, die mit einigen Instrumenten für agile Entwicklungsprozesse gefüllt sind: Auftakttreffen zu Beginn
einer Entwicklung ebenso wie tägliche kurze
Abstimmungsrunden (Stand-up-Meetings) während der Entwicklungszeit sind die ersten Ankerpunkte für beständige Kommunikation, bei
der Teilnehmerkreis und Dauer abgewogen werden. Weitere Kommunikationsankerpunkte sind
die Reflexionsrunden technischer Natur in Review Meetings nach jedem Entwicklungsabschnitt oder Retrospective Meetings am Ende
eines Projektes zur Entwicklungsdynamik insgesamt. Die Abschätzungen, die im Laufe des
præview Nr. 1 | 2011
Entwicklungsvorhabens notwendig sind, werden beispielsweise mit Estimation Poker spielerisch ermittelt. Die an einer Entwicklungsaufgabe beteiligten Mitarbeiter geben auf den
Karten Einschätzungen zu ihrem persönlichen
Arbeitsaufwand. Das „Kartenlegen“ dient zur
Einschätzung über den Aufwand des Gesamtprojektes und zudem als Stimulus für den Wissensaustausch. Für den Wissensaustausch ist
ferner ein Kooperationsmodell wie die Paarprogrammierung sehr hilfreich: Hier sitzen zwei
Entwickler gleichberechtigt an einem Rechner
und arbeiten gemeinsam an einer Aufgabe. Dadurch werden ein Lernen beim gemeinsamen
Tun und die aktive Verschränkung der Wissenswelten mit einem konkreten Bezug auf das
Arbeitsergebnis – also ein kooperativer Erfahrungstransfer – möglich. Ausbaufähig sind diese Ansätze durch weitere personalpolitische und
arbeitsbezogene Kooperationsmodelle wie z. B.
das Tandemmodell: Hier werden die Wissenswelten je eines Mitarbeiters aus dem Soft- und
dem Hardwarebereich miteinander verbunden.
Entscheidungen im laufenden
Arbeitsprozess
Entscheidungen im Innovationsprozess sind
immer mit Unsicherheit behaftet. Diese kann
dadurch bewältigt werden, dass Entscheidungen „handelnd“ im laufenden Arbeitsprozess
getroffen werden. Vor allem bei inkrementellen
Produktinnovationen, Veränderungen im Fertigungsprozess oder Arbeitsprozessoptimierungen fallen Entscheidungen oft vor Ort in der
Fertigung und im Produktionsprozess, nicht in
davon abgetrennten Bereichen (wie etwa in der
Entwicklung oder in Planungsmeetings). So
kommen beispielsweise Fertigungsmitarbeiter
durch konkretes Ausprobieren auf Ideen, die
einem Ingenieur am Bildschirm nicht zugänglich sind. Die Entscheidung für oder gegen eine
Veränderung fällt in der direkten Auseinandersetzung mit dem Material und der Zusammensetzung der einzelnen Produktkomponenten. In
der Zusammenarbeit von technischem Büro
und Fertigung wird nicht immer „nur“ zuerst
geplant und dann die Praxis verändert, auch das
Gegenteil ist der Fall: Die technischen Zeichner
kommen in die Fertigung und profitieren von
der praktischen Expertise der dortigen Mitarbeiter – man begibt sich gemeinsam auf die Suche nach neuen Möglichkeiten am Produkt und
die planerische Zeichnung richtet sich nach der
praktischen Umsetzung, nicht umgekehrt.
Entscheiden im laufenden Arbeitsprozess spielt
sich vor allem im nicht-formalisierten oder
nicht-formalisierbaren Bereich ab und setzt ein
spezifisches Management des Informellen voraus.
Die Aufgabe des Managements ist es zum einen,
arbeitsorganisatorische Voraussetzungen für
Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozess zu
schaffen: durch die Förderung und die tatsächliche Delegation von Entscheidungskompetenzen, durch die organisatorische Verankerung
von Gelegenheitsstrukturen für informelle Kooperation und direkte Interaktion über Abteilungsgrenzen hinweg, durch das Einrichten von
„Zonen der Ungestörtheit“ und angemessenen
Zeitkontingenten für die Suche nach alternativen Ideen. Zum anderen ist es die Aufgabe des
Managements, Entscheidungen im laufenden
Prozess zu legitimieren. Wesentlich dafür sind
das aktive Aufgreifen der praktisch gefundenen
Lösungswege, die Wertschätzung informeller
Kooperation und Kommunikation und das Vertrauen in das Erfahrungswissen der Mitarbeiter.
Die Autoren
Dr. Eckhard Heidling ist Wissenschaftler am
Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung
(ISF München).
Judith Neumer und Dr. Stephanie Porschen
sind Wissenschaftlerinnen am ISF München.
Kontakt: stephanie.porschen@isf-muenchen.de
Literatur
Böhle, F., Bolte, A., Bürgermeister, M., Heidling, E., Neumer, J. &
Porschen, S. (2010). Mitarbeiter als Manager des Informellen.
In Jacobsen, H. & Schallock, B. (Hrsg.): Innovationsstrategien
jenseits traditionellen Managements (S. 378-388). Stuttgart:
Fraunhofer Verlag.
13
Wie Künstler vorgehen
Das Konzept des künstlerischen Handelns
Michael Brater
„Kreative“ Mitarbeiter zu haben, ist heute für
jedes Unternehmen ein wichtiger Erfolgsfaktor;
unter den Bedingungen der „Wissensökonomie“
angeblich sogar der entscheidende, denn hier
verschaffen allein die Mitarbeiter mit ihrem
Können, ihrer Motivation und ihrer „Kreativität“
dem Unternehmen die entscheidenden Wettbewerbsvorteile (Gorz 2004).
„Kreativ“ nennt man jemanden, der einfallsreich
ist, neue Ideen hat, auf originelle Gedanken
kommt, der Ungewöhnliches, Innovatives tun
und denken kann, und man scheint sich stillschweigend einig zu sein, dass es sich dabei um
eine persönliche Eigenschaft handelt, die jemand (mehr oder weniger stark) hat oder eben
nicht hat. Im Rahmen des Projektes „Dienstleistung als Kunst“ hatten wir Gelegenheit, Menschen zu interviewen, die zweifellos zu den
ganz besonders „Kreativen“ gehören, nämlich
professionelle Künstler verschiedenster Kunstrichtungen. Wir wollten von ihnen wissen, wie
sie vorgehen, wenn sie ein Kunstwerk erschaffen (oder inszenieren oder aufführen usw.). Wir
wollten herausfinden, ob es so etwas wie ein
charakteristisches „künstlerisches Vorgehen“ gibt,
eine „künstlerische“ Weise des Handelns, die zu
„kreativen“ Ergebnissen führt, also zu etwas nie
Dagewesenem, zu Kunstwerken eben.
Diese Frage löste bei vielen Künstlern erst einmal
Unbehagen aus. Denn natürlich hat jeder seinen
persönlichen Stil, seinen ganz eigenen Weg, und
den pflegt er auch als Unterscheidungsmerkmal
zu seinen Kollegen. Und in der Tat, es ist schwer,
sich vorzustellen, dass sich im blutrünstigen
Vorgehen etwa von Matthew Barney und der
subtilen Landart von Andy Goldsworthy Gemeinsamkeiten finden lassen. Zwar nennen sich
beide Künstler und bringen auch nach allgemeiner Überzeugung „Kunst“ hervor, aber dafür
gibt es in der Gegenwart gerade keine übergreifenden Kriterien, Regeln oder Anforderungen.
In klarer Abgrenzung zur kunsthistorischen Fragerichtung interessierte uns nun gerade nicht,
was Barney zu Barney macht, also das Individuelle und Besondere seines Stils „im Unterschied“ zu dem von Goldsworthy. Sondern wir
wollten umgekehrt wissen, ob sich hinter diesen
offenkundigen und augenfälligen Verschiedenheiten so etwas wie ein gemeinsames Muster
des „künstlerischen Handelns“ jenseits des Vorgehens einzelner Künstler identifizieren lässt.
Wir führten zwölf explorative Interviews, die wir
nach den methodischen Schritten der „Grounded Theory“ analysierten, immer orientiert an
der Frage: Lassen sich in der offenkundigen Verschiedenheit übergreifende Strukturen des Handelns finden? Hier zusammengefasst die wichtigsten Ergebnisse:
æ Wenn Künstler beginnen, wissen sie nicht,
was dabei herauskommen wird. Sie haben
keine klare Vorstellung vom Ergebnis und keinen fertigen Plan. Sie lassen sich auf eine offene, unbestimmte Situation ein und kennen
weder das Ziel noch den Weg. Und sollten sie
doch eine Vorstellung haben, kann sie sich
noch vielfach ändern, bleibt sie offen für
Überraschungen. Der Maler Gerhard Richter
sagt das so: „Ich (...) möchte am Ende ein Bild
erhalten, das ich gar nicht geplant hatte (...)
14
ich möchte ja gern etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann“.
æ Aber dennoch bringen Künstler in ihre Arbeit
ein persönliches Interesse, eigene Fragen und
Motive, eigene Ideen ein. Die sind allerdings
nicht klar umrissen, eher eine Stimmung, eine
Ahnung im Unbekannten. Es kann auch sein,
dass äußere Anlässe oder das Material die Aufmerksamkeit oder das Interesse wecken. Jedenfalls sind Künstler immer persönlich beteiligt.
æ Eine Möglichkeit, ohne klares Ziel, ohne eindeutige Orientierung vorzugehen ist: zu spielen. Manche Künstler probieren im Material
etwas ohne Absicht aus und beobachten, was
passiert. Sie machen etwas damit, betrachten
es, verfolgen, was sich ändert, und lernen so
ihr Material gründlich kennen. Das Vorgehen
bleibt dabei offen und unbestimmt, es kann
jederzeit noch alles anders werden.
æ Dazu gehört der ständige, konsequente Wechsel von Tun und Wahrnehmen der Folgen dieses Tuns. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten, aus ihnen wiederum neue Fragen und
ein neuer Eingriff ins Material. Dieser Prozess
hat immer noch kein Ziel, aber er trägt sich
gewissermaßen selbst, wie ein Forschungsprozess, bei dem sich aus jeder Antwort immer
wieder neue Fragen und Möglichkeiten ergeben. Es entfaltet sich ein Dialog zwischen dem
Künstler und seinem Material. Das Material
arbeitet mit.
æ Die Wahrnehmung ist nicht nur „objektbezogen“, sondern sie ist erweitert um die Dimension emotionaler und Stimmungs-Qualitäten,
um das „Spüren“, um die Wahrnehmung von
„Ausdruck“, von „Atmosphäre“ (Böhme 2001).
æ Aus dieser offenen, spielerischen Auseinandersetzung mit dem Material, aus dem wachen, aufmerksam gespannten „Herumprobieren“ kann – meist plötzlich – dem Künstler
etwas entgegenkommen, das sein Interesse
weckt, das ihn fasziniert, „anspringt“, an dem
er dranbleiben will, dem er zumindest ein
Stück weit folgt. Damit hat sich aus dem offenen Prozess eine Art Ziel, zumindest eine
Spur, eine Intention ergeben, die jetzt das
weitere Vorgehen leitet und strukturiert.
æ Dieser Augenblick kann eintreten, muss aber
nicht. Er lässt sich nicht herbeizwingen. Kommt
er nicht, kann der Künstler in eine Krise rutschen. Die Krise gehört zum Künstlersein offenbar dazu. Sie kann auch eintreten, wenn
man glaubt, jenen Augenblick der Faszination
erlebt zu haben – um einige (mitunter längere) Zeit später zu bemerken, „dass es das
nicht war“: Die gefundene Idee trägt nicht,
wird langweilig, schal. Oder es ist Krise, weil
man nicht mehr weiter weiß, sich tot fühlt.
Manche meinen auch: Die Krise kommt, weil
sie merken, dass sie einer Idee nachgelaufen
sind, die mit ihrem ursprünglichen Motiv bei
genauerem Hinsehen gar nichts zu tun hat.
præview Nr. 1 | 2011
æ Die Krise kann länger dauern oder kürzer. Zu
ihrer Überwindung gibt es kein Rezept. Der
Künstler leidet. Aber er weiß: Wenn er aufgibt,
kann er die Krise nie lösen. Also macht er weiter. Manchmal kommen ihm Zufälle zu Hilfe.
Jedenfalls muss er es schaffen, sein angefangenes Werk mit ganz anderen, völlig neuen
Augen zu sehen. Er muss mit dem Suchen aufhören und sich für das Finden öffnen (Picasso).
æ Von Spielen kann nun keine Rede mehr sein.
Kunst ist jetzt die Arbeit, die Fülle des Wahrgenommenen zu sichten, zu verdichten, sich
zu entscheiden und immer wieder dialogischexplorativ wahrzunehmen, was sich zeigt.
æ Dabei kann – wiederum nicht: muss – das
Material transparent, zum „Bild“ werden für
einen ideellen Zusammenhang, es kann über
sich hinausweisen auf etwas, das dem Künstler wichtig ist, das er selbst daran vielleicht
entdeckt. Manchmal bemerkt er, dass das, was
entstanden ist, mit seinen ursprünglichen Fragen und Motiven im Zusammenhang steht.
Vielleicht betrachtet er aber sein „Werk“ auch
nur und stellt fest, dass es so „stimmt“, dass
es fertig ist.
Dieses künstlerische Handlungsmuster als Weg
zum Neuen und Originellen zeigt, dass Kreativität keine persönliche Eigenschaft, keine Frage
des individuellen Einfallsreichtums ist, sondern
dass es durchaus so etwas wie ein Muster kreativen Handelns gibt. Dazu muss man sich auf
offene, unbestimmte Situationen einlassen und
sie aushalten, weil man nur so das überwinden
kann, was es schon gibt. Die Lösung liegt nicht
in dem, was man sich ausdenkt, sondern in
dem, was im (spielerischen) Handeln am Material wahrgenommen werden kann, wenn man
sich dem Unbestimmten, Ungewissen aussetzt,
Krisen aushält und so lange ohne willkürliche
Vorstellungen wartet, bis „das Material spricht“.
Dann aber muss man zuhören.
Das künstlerische Handlungsmuster kann nicht
nur erhellen, wie Mitarbeiter „kreativ“ und „innovativ“ handeln können. Es zeigt auch, wie
man unter Unsicherheit und Ungewissheit –
Kennzeichen postmoderner Gesellschaften –
handlungsfähig bleiben kann. Wie es möglich
ist, offene Situationen zu bewältigen und sich
auf den Wandel einzulassen.
Kunst ist die Arbeit, die Fülle des
Wahrgenommenen zu sichten, zu
verdichten, sich zu entscheiden und
immer wieder dialogisch-explorativ
wahrzunehmen, was sich zeigt.
Der Autor
Prof. Dr. Michael Brater leitet das Institut
Kunst im Dialog an der Alanus Hochschule
für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn.
Kontakt: michael.brater@alanus.edu
Literatur
Böhme, G. (2001). Aisthetik. München: Wilhelm Fink.
Gorz, A. (2004). Wissen, Wert und Kapital. Zürich: Rotpunktverlag.
15
Claudia Munz, Elisa Hartmann, Jost Wagner
Dienstleistung – die Kunst Kunden zu verstehen
Claudia Munz, Elisa Hartmann, Jost Wagner
Eine unentschlossene Kundin kommt in ein Reisebüro und möchte „irgendwo ans Meer“ reisen.
Bisher wurden ihr bei ähnlichen Anfragen üblicherweise nach einigen Fragen zu den Rahmenbedingungen erste Vorschläge zur Entscheidung
vorgelegt. Im aktuellen Fall aber ist es anders:
Sie kann gar nicht genau sagen, woran es liegt,
dass sie sich diesmal „atmosphärisch“ besser
verstanden und aufgehoben fühlt. Einige Spuren werden ihr aber deutlich. So macht ihr der
Dienstleister des Reisebüros erst einmal gar
keine Vorschläge. Er versucht stattdessen, im
ausführlichen Gespräch mit ihr genau zu verstehen, worum es ihr geht, welche Vorlieben sie
hat, welche guten bzw. schlechten Erfahrungen
sie mit früheren Reisen gemacht hat, welchen
Bezug sie zu unterschiedlichen Reisezielen hat.
Kurz, er versucht gemeinsam mit ihr ihrem Anliegen genauer auf die Spur zu kommen und ein
Bild davon zu entwickeln, welchen „Sinn“ der
Urlaub über den Erholungseffekt hinaus für sie
hat. Außerdem wird ihm in diesem Prozess
deutlich, wie die Kundin „tickt“. Natürlich klärt
er auch die Rahmenbedingungen der Reise. Außerdem setzt er Signale, die der Kundin das Gefühl geben, auf gleicher Augenhöhe mit ihm zu
kommunizieren. So dreht er beispielsweise den
Monitor seines PCs so, dass er gemeinsam mit
der Kundin darauf schauen kann. Er gibt ferner
der Kundin zu verstehen, dass es ihm nicht auf
einen schnellen Abschluss ankommt, sondern
16
darauf, die Kundin wirklich zufriedenzustellen.
Nachdem sich im ersten Anlauf noch keine
überzeugende Lösung zeigt, schlägt er vor, die
Kundin solle die Sache noch einmal überschlafen, zu Hause im Internet selbst ein wenig „herumspielen“ und darauf achten, was ihr dabei
gefällt, welche Richtungen für sie denkbar sind.
Beim nächsten Besuch haben sich die Wünsche
der Kundin konkretisiert. Sie selbst schlägt vor,
doch mal der Idee „Mallorca“ näherzutreten.
Der Dienstleister erwidert, daran habe er auch
schon gedacht, sei sich aber nicht sicher gewesen, ob die Kundin dagegen Vorbehalte habe.
Nun prüfen beide diese Idee und gestalten sie
dann gemeinsam aus; der Dienstleister bringt
dabei anschaulich seine eigenen Erfahrungen
mit verschiedenen Hotels ein, spiegelt der Kundin, wie er ihr Anliegen verstanden hat und wie
er sie und ihre Vorlieben einschätzt. Am Ende
finden beide gemeinsam eine die Kundin überzeugende Lösung.
Betrachtet man dieses Beispiel eines Dienstleistungsprozesses nur vom Ergebnis her, ist es unspektakulär und konventionell. Die entscheidende „andere“ Qualität liegt hier in der Prozessund Beziehungsqualität, die durch eine bestimmte
Haltung, Vorgehensweise und „handwerklichtechnische“ Umsetzung des Dienstleisters möglich wird und die wir – in Anlehnung an das Vorgehen von Künstlern – „Dienstleistung als Kunst“
nennen. Bei diesem Ansatz, der im Verbundpro-
jekt „Dienstleistung als Kunst – Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit (KunDien)“ sowohl theoretisch wie praktisch entwickelt wird, handelt es sich um eine
radikal individualisierende Vorgehensweise, die
sich auf einen offenen Prozess mit dem Kunden
einlässt, um dadurch eine nur für genau diesen
Kunden passende Lösung zu finden. Dies birgt
einerseits große Chancen, die Dienstleistungsqualität zu steigern und die weit verbreitete
Kundensehnsucht nach wirklichem Wahr- und
Ernstgenommenwerden zu erfüllen. Andererseits ist uns bewusst, dass es durchaus Kundenanliegen gibt, die mit stärker standardisierbaren
Lösungen befriedigt werden können.
Wie Dienstleistungsarbeit genau zu definieren
ist und worin ihre Besonderheiten gegenüber
der klassischen Produktionsarbeit liegen, lässt
sich aufgrund der Vielfältigkeit von Dienstleistungen nur schwer auf einer allgemeinen Ebene
beantworten. Wir sprechen daher vom „Dienstleistungscharakter“ von Arbeit und gehen dabei
vom Modell eines Kontinuums aus: Der Dienstleistungscharakter von Arbeit steigt, je weniger
das Ergebnis der Leistung vorab zu definieren
ist, je offen prozesshafter die Leistungserbringung vonstattengeht und je mehr das Gelingen
der Dienstleistung auf das aktive Mitwirken des
Kunden angewiesen ist. Je „dienstleistungshafter“ sich also eine Kundensituation darstellt,
desto „künstlerischer“ müssen Dienstleister vorgehen können.
In erster Linie ist dabei die veränderte künstlerische Haltung der Dienstleister entscheidend.
æ Sie haben den Mut, sich auf Ungewissheit
einzulassen und die Überzeugung, dass der
Dienstleistungsprozess als offener Prozess
anzulegen ist, der nur gemeinsam mit dem
Kunden gelingt.
æ Sie handeln aus der Gewissheit, dass es nicht
in erster Linie darum geht, schnelle Lösungen
zu suchen, sondern das Kundenanliegen optimal so zu klären, dass sich die angemessene
Lösung „zeigt“.
æ Sie verzichten auf einen exklusiven Expertenstatus.
æ Sie vertreten einen eigenen Qualitätsanspruch und verstehen sich nicht als Experten
für die Ausführung von Kundenwünschen,
sondern als Partner eines „Arbeitsbündnisses“
mit dem Kunden.
æ Sie sind davon überzeugt, dass eine langfristige Kundenbindung Vorrang vor kurzfristigen ökonomischen Interessen hat.
„Dienstleistungskünstler“ wenden darüber hinaus eine spezifische künstlerische Vorgehensweise an.
æ Sie sichern die Bereitschaft und Fähigkeit
ihrer Kunden zur gleichberechtigten Mitwirkung im Dienstleistungsprozess bzw. stellen
diese ggfs. durch „Professionalisierung“ der
Kunden her.
æ Sie achten auf den „Gesamt-Ausdruck“ ihrer
Kunden, d.h. sie nehmen mehr als nur deren
verbale Botschaften wahr, sie vollziehen spürend mit, was sich bei den Kunden zeigt.
præview Nr. 1 | 2011
æ Sie halten den gemeinsamen Entwicklungs-
æ Die Art der Kundenanfrage muss so beschaf-
prozess in Bewegung – sie sind Experten der
Prozess- und Beziehungsgestaltung.
æ Sie sind „Atmosphärengestalter“ und sorgen
für ein partnerschaftliches, vertrauenschaffendes Klima.
æ Sie vermeiden vorschnelle Schlussfolgerungen und Lösungsangebote und halten den
Prozess so lange wie nötig offen.
æ Sie setzen Impulse und nehmen die Reaktion
ihrer Kunden darauf genau wahr.
æ Sie greifen geistesgegenwärtig sich im Prozess zeigende Impulse auf.
æ Sie lassen „Krisen“ im Prozess zu und befragen diese auf ihren produktiven Beitrag.
fen sein – oder so geöffnet werden –, dass
sie tatsächlich einen offenen Prozess und Interpretations- und Handlungsspielräume erlaubt.
Damit ihnen dies gelingt, verfügen „Dienstleistungskünstler“ über Techniken nondirektiver
Prozesssteuerung, umfassende Wahrnehmungsfähigkeiten, Techniken der Gesprächsführung,
sie sprechen die Sprache der Kunden, können
ihnen Lösungsvarianten anschaulich darstellen,
wissen, wie sie den Kunden den gesamten Prozess transparent machen und sie können konstruktiv mit (Interessens-)Konflikten umgehen.
Für die Realisierung einer derartigen „künstlerischen“ Dienstleistungsarbeit sind drei Bedingungen unerlässlich:
æ Die souveräne Beherrschung der fachspezifischen Seite muss selbstverständliche Basis
sein – erst wer sich sicher fühlt, kann frei
handeln.
æ Die Rahmenbedingungen – sowohl von Seiten
des Dienstleistungsunternehmens wie des
Kunden – müssen Offenheit ermöglichen.
Dies aber bedeutet in der Konsequenz eine gewaltige Veränderung der bisher vorherrschenden Art von Dienstleistungsarbeit: Eine rigide
kurzfristig-ökonomische Ausrichtung mit z. B.
betrieblichen Umsatzvorgaben sowie zu geringe
Verantwortungsspielräume der Dienstleistenden konterkarieren das Ziel künstlerischer Dienstleistung. Diese jedoch hilft gerade den langfristigen ökonomischen Erfolg zu sichern, weil eine
dauerhafte Kundenbindung erreicht wird und
die Weiterempfehlung durch zufriedene Kunden die beste Werbestrategie darstellt.
Dafür lohnt es sich, für den Erwerb der Kompetenzen für Dienstleistung als Kunst neue Wege
in der Aus- und Weiterbildung zu gehen.
Die Autoren
Claudia Munz, Elisa Hartmann und Jost
Wagner sind Mitarbeiter/innen des Vereins für
Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung
München (VAB e.V.).
Kontakt: jost.wagner@gab-muenchen.de
17
intærview
Durch Kunst kann man lernen:
Es kommt auf mich an!
Gespräch mit Helga Weiß, dm drogerie markt, Bereichsverantwortliche
für Aus- und Weiterbildung
præview: Welche Rolle spielt Kunst in der Ausbildung bei dm?
Weiß: Zentrales Element unserer Ausbildung ist
das sogenannte Abenteuer Kultur, ein TheaterWorkshop, in dem unsere Lehrlinge unter der
Anleitung von erfahrenen Schauspielern, Regisseuren und Theaterpädagogen ein Stück
entwickeln und aufführen. Ausgangspunkt bei
der Entwicklung dieses Ausbildungsbausteins
war die Frage, was die Kunst vor dem Hintergrund der Herausforderungen und Probleme
des Jugendalters leisten kann. Es war ein Experiment, wir haben den Schauspielern keine Vorgaben gemacht, sondern sie einfach mit den
jungen Menschen arbeiten lassen. Und wir
waren sehr begeistert über das Ergebnis, denn
es hat sich herausgestellt, dass gerade für die
biografische Phase des Jugendalters im Theaterspielen ganz viel drin steckt. Die Auseinandersetzung mit einer Rolle, die scheinbar erst
mal ganz fremd ist und an der man dann plötzlich ganz viel über sich selbst lernen, neue Seiten an sich entdecken kann. Aber auch das Lernen im sozialen Miteinander. Damit ein Stück
auf die Bühne kommen kann, müssen die Lehrlinge zusammenarbeiten. Es ist nicht etwas,
was sie sich als Fertigprodukt im Fernsehen anschauen, sondern jeder Einzelne muss sich einbringen, damit nachher etwas entsteht, das andere sehen können.
Die jungen Menschen erleben: Es kommt auf
mich an! Ich muss mitkriegen, wann mein Einsatz ist, wann ich auftreten und wieder abtreten muss. Und ich muss mich gleichzeitig so
mit den anderen verbinden, dass ein Gesamtbild entsteht. Das ist besser als jedes Teamentwicklungsseminar. Auch weil Theater ja eine
sehr unmittelbare Kunstform ist: Ich muss
mich mit meinem Körper einbringen, es steht
kein Instrument dazwischen, da bin nur ich, der
in die Rolle geht und dieser Ausdruck verleiht.
Und das ist gerade für Jugendliche sehr wichtig: zu üben, wie sie sich ausdrücken können,
wie sie das, was in ihnen vorgeht, in Worte und
Ausdruck fassen können. Zehn Jahre gibt es
nun schon Abenteuer Kultur und es ist eines
der nachhaltigsten Lernprojekte, die ich überhaupt kenne.
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præview: Die Lerneffekte, die Sie nennen, sind
ja vor allem jugendpädagogischer Natur. Inwiefern stehen diese denn in Zusammenhang mit
der Vorbereitung auf die Arbeit in einem Dienstleistungsunternehmen wie dm?
Weiß: Dienstleistung ist in erster Linie Dienst
am Menschen. Natürlich, wir verkaufen Drogerieartikel, aber für wen tun wir dies letztendlich? Nicht für uns, sondern für die Kunden. Die
Begegnung mit dem Kunden steht daher für
uns im Zentrum unserer Arbeit. Diese will
immer wieder neu gestaltet werden. Das fängt
schon bei der Frage an, mit welchem Gesicht,
also welchem Ausdruck ich durch den Laden
gehe – der Kunde nimmt das wahr. Oder aber
wie ich reagiere, wenn mich ein Kunde anspricht. Kann ich mich ausdrücken? Oder ergreife ich die Flucht, weil ich Angst habe, mich
mit ihm zu unterhalten? Ich glaube, was dm
von anderen Dienstleistungsunternehmen unterscheidet, ist genau das: dass sich unsere Kolleginnen und Kollegen in den Filialen der Begegnung mit dem Kunden jeden Tag immer
wieder neu und vielfach stellen – und dabei erleben: Es kommt auf mich an! Und auf diese
Begegnung bereiten die Erfahrungen des Theaterspielens ja gerade vor: dass man lernt, sich
aus- zudrücken, zu kommunizieren. Aber auch,
sich selbst und andere genau und bewusst
wahrzunehmen. Wenn der Kunde erlebt, dass
er wahrgenommen wird, schafft das schon eine
ganz andere Form der Beziehung. Die Kunden
kommen nicht zu uns wegen unserer Preise
oder einer besonderen Zahnpasta, sondern weil
unsere Dienstleistung eine bestimmte Form der
Beziehung zum Kunden ist.
præview: Was verstehen Sie vor diesem Hintergrund unter einer guten Dienstleistung?
Weiß: Also auf jeden Fall nicht, dass der Kunde
König ist. Wir rollen keinen roten Teppich aus
und machen keinen Bückling. Gute Dienstleistung bedeutet, eine Partnerschaft mit dem
Kunden auf gleicher Augenhöhe einzugehen, in
einen Dialog zu treten. Wir gehen auch nicht
auf jeden Kundenwunsch ein – auch wenn wir
etwa mit dem Verkauf von Zigaretten und Silvesterknallern viel Geld verdienen könnten,
sondern wir treten mit dem Kunden in einen
Austausch, in einen Dialog, etwa in Form von
Kundenforen. Und wir fragen uns auf der anderen Seite immer wieder: Was ist unser Anliegen? Worum geht es uns eigentlich? Was erleben wir als stimmig? Und was eben nicht!
Dienstleistung bedeutet für uns eben nicht zu
dienern, sondern den Dienst zu leisten, den wir
als Arbeitsgemeinschaft auch leisten wollen.
præview: Könnte man die dafür notwendigen
Fähigkeiten nicht auch einfach in einem Kommunikations- oder Verkaufstraining lernen?
Weiß: Diese Trainings können schnell den Charakter einer Dressur bekommen. Da lernt man
irgendwelche abstrakten Regeln, aber nichts
über sich selbst. Wir verlangen von unseren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ja nicht,
sich nach vorgegebenen Mustern zu verhalten,
etwa immer ständig zu lächeln, sondern sie
sollen ihren authentischen Weg finden, mit den
Kunden umzugehen. Deswegen spielen wir bei
Abenteuer Kultur nicht einfach Shakespeare
oder Goethe rauf und runter, sondern jede
Gruppe von Lehrlingen findet für sich individuell immer ihr Thema, findet ihr Stück und
findet ihre Texte – und das kann Goethe sein,
das kann aber auch ein moderner Literat oder
ein Songtext sein. Gleichzeitig gibt es auch
keine allgemeinen und vorgegebenen Lernziele,
sondern jeder Teilnehmer durchläuft seinen
ganz individuellen Lernprozess, nimmt etwas
anderes aus der künstlerischen Arbeit mit:
Einer lernt vielleicht, dass er sich viel besser
ausdrücken kann als er dachte, und der andere
kann sich wieder besser körperlich bewegen –
was auch immer. Das ist hoch individuell und
das ist immer persönlich!
Beim Verhaltenstraining würde ich lernen: Hebe
den rechten Arm auf diese und jene Art, weil
das sympathisch macht, und wenn Du dich so
hinstellst, macht das unsympathisch. Aber das
hat nichts mit dem Menschen und seiner
Persönlichkeit zu tun. Der Unterschied zwischen
Verhaltenstrainings und selbstentdeckendem,
selbstentwickelndem Lernen ist genau der: Im
künstlerischen Tun kann ich in dem, was ich tue,
mein Mensch-Sein, mich als Mensch entdecken.
præview: Sie beschäftigen ja jedes Jahr Hunderte von Schauspielern bundesweit. Rechnet
sich dieser Aufwand denn überhaupt?
Weiß: Wir bekommen immer wieder Besuch
von anderen Unternehmen, denen wir Abenteuer Kultur vorstellen. Als eine der ersten Fragen kommt immer die nach den Kosten und
dem Nutzen. Und die Gäste sind dann immer
sehr überrascht, wenn ich antworte: „Ich kann
Ihnen genau sagen, was uns das Ganze kostet,
ich kann Ihnen aber nicht sagen, was es bringt.“
Denn die individuellen Lernergebnisse lassen
sich nicht messen und wiegen. Die Entscheidung Abenteuer Kultur einzusetzen, entzieht
sich der klassischen Controlling-Logik. Es ist
vielmehr eine unternehmerische Frage: Wir sind
überzeugt, dass sich dieses Investment in die
Persönlichkeitsbildung unserer Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter lohnt, auch wenn wir das nicht
mit Zahlen belegen können.
præview: Setzen Sie auch in anderen Bereichen
Kunst als Bildungsmittel ein?
Weiß: Momentan sind wir in einer Phase, in der
ganz viele unserer jungen Filialleiter selbst an
Abenteuer Kultur teilgenommen haben und sagen „Das hat mir so viel gebracht, ich will mehr
von diesen Erfahrungen machen können“. Daher sind wir gerade stark auf der Suche, wie
man die künstlerische Arbeit auch stärker in der
Weiterbildung von Erwachsenen einsetzen kann.
Wir haben viele Fragen im Unternehmen, die
uns intensiv beschäftigen. Führungsfragen, Fragen nach dem Verhältnis von Individualität und
Gemeinschaft, Fragen nach dem Selbstverständnis, ja der Rolle unserer Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter. Und da sind wir auf der Suche
nach den Kunstarten und -formen, die hier angemessen und weiterführend sind.
Helga Weiß arbeitet seit 1973 bei dm drogerie
markt, zunächst in Filialverantwortung, später
im Außendienst und anschließend im Bereich
Marketing und Beschäftigung.
Seit 1999 ist sie Bereichsverantwortliche für
Aus- und Weiterbildung bei dm.
Das Interview führten Michael Brater und
Jost Wagner.
præview Nr. 1 | 2011
19
Die Autoren
Jutta Bloem ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Duale Studiengänge
der Hochschule Osnabrück und an der Berufsakademie Emsland.
Vom Erhandeln des Anderen
Benjamin Häring ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterpädagogik der
Hochschule Osnabrück.
Kontakt: b.haering@hs-osnabrueck.de
Ein theatraler Einblick in Veränderungspotenziale von Organisationen
Jutta Bloem, Benjamin Häring
Die Stärkung der Innovationskraft in Organisationen setzt mit Bezug auf den
organisationalen Status quo ein anderes Handeln voraus – sonst bliebe alles, wie
es ist. Doch sind die betrieblichen Akteure bereit, anders zu handeln? Sind sie
bereit, etablierte Verhaltensroutinen aufzugeben und Energie in andere Handlungsoptionen zu investieren und diese unter der Unsicherheit des Ergebnisses
zu erkunden? Erkennen sie überhaupt die Möglichkeit, anders zu handeln?
Einem Anders-Handeln stehen meist Barrieren
im Weg. Dieses sind Barrieren organisationalen
Ursprungs, die in den Organisationsstrukturen
und -prozessen wurzeln, sowie Barrieren personalen Ursprungs, die sich auf die Wahrnehmung und Bewertung der Veränderungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Organisation sowie
der Bewertung der eigenen Kompetenzen beziehen (vgl. Arens-Fischer et al. 2009).
Insofern ist ein Anders-Handeln zu erhandeln.
Theatrale Methoden unterstützen den Prozess
des Erhandelns anderer Verhaltensoptionen
sowie des Erhandelns organisationaler Veränderungen und die wechselseitigen Bezüge zwischen organisationalen Strukturen und Prozessen und personalem Verhalten. Der erste Ansatz
ist dabei zunächst die Öffnung der Wahrnehmung und der (An-)Erkennung betrieblicher
Veränderungsfähigkeit und Veränderungsbedürftigkeit mit ästhetischen Mitteln (vgl. ArensFischer et al. 2009).
In diesem Beitrag werden „Veränderungslandkarten“ und das „Fixieren des Nicht-Sondern“
als zwei Methoden der Theaterarbeit in Unternehmen aus dem Forschungsprojekt THINK
vorgestellt. Im Rahmen des aktionsforschungsorientierten Ansatzes der Theatralen Organisationsforschung haben die Methoden sowohl
eine analytische Qualität im Sinne einer Organisationsdiagnose als auch eine gestalterische
Qualität im Sinne eines auslösenden Momentes
der Veränderung (vgl. Arens-Fischer et al. 2010).
Hinsichtlich der gestalterischen Dimension sensibilisiert die Anwendung der Methoden die
Organisationsmitglieder für die Veränderungsfähigkeit und -bedürftigkeit und stärkt so die
Veränderungsbereitschaft.
Veränderungsräume innerhalb
der Organisation
Im Rahmen der Methode der „Veränderungslandkarten“ werden die Akteure aufgefordert,
ihre Organisation zur Erhebung des Status quo
zu beschreiben. Als Orientierungslinien dienen
20
die Fragen „Welche Veränderungsmöglichkeiten sehe ich innerhalb der Organisation?“ und
„Welche Veränderungsmöglichkeiten besitze ich
selbst in der Organisation?“. Die Mitarbeiter
werden angeregt, ihre organisationalen Strukturen sowie ihre Handlungs- als auch Gestaltungsspielräume innerhalb der Organisation zu
beobachten. Sie sollen sich innerhalb ihrer subjektiven Wahrnehmung differenziert mit dem
eigenen Kontext und mit dem Bezug zur Gesamtorganisation auseinandersetzen.
Die Ergebnisse werden mithilfe von Symbolen
und Farben auf Papier visualisiert. Dabei werden
insbesondere Bereiche hervorgehoben, von denen der betriebliche Akteur glaubt, direkt durch
sein eigenes Handeln in seinem Handlungsraum
Veränderungen etablieren zu können, sowie organisationale Bedingungen, die den bisherigen
Status quo der Organisation fixieren.
Die ersten Auswertungen der Intensivstudien
zeigen, dass durch die Anwendung der Methode
sowohl die Veränderungsfähigkeit als auch die
Veränderungsbedürftigkeit der Organisation offen gelegt werden. Dabei weisen die Veränderungslandkarten durchaus auf vielschichtige
organisationale Wirkzusammenhänge hin.
Interessant ist nun, dass trotz der Offenlegung
der Verhältnisse die Akteure häufig weder ihre
Organisation noch sich selbst als Teil dieser in
veränderungsbereitem Zustand erleben. Anstatt
Visionen über alternative Verhaltensweisen und
Strukturen zu entwickeln, erfolgt meist eine Beschönigung beziehungsweise eine Umbewertung der Situation. Dies kann als Indiz gewertet
werden, dass die Wahrnehmung des organisationalen und personalen Veränderungsbedarfs
häufig nicht ausreicht, die Veränderungsbereitschaft der Akteure zu schaffen. Sie müssen jenseits der Wahrnehmung über praktisches Erleben
dazu befähigt werden, imaginäre Spielräume
abseits der bekannten Routinen und Abläufe erschließen zu können. Die Sensibilisierung der
Akteure für die Imagination dient in diesem Zusammenhang dazu, die eingespielten Routinen
nicht notwendig als Status quo zu begreifen,
sondern ihre individuelle Imagination für die
Gestaltung von Veränderungen zu nutzen.
Erfahrungsräume für Organisationsakteure
Die Wahrnehmung von Veränderungsbedarfen
sowie die Bereitschaft, Veränderungen zu initiieren, kann mittels der Methode des „Fixierens
des Nicht-Sondern“ befördert werden.
Dazu wird ein Teilnehmer gebeten, seine subjektiven Beobachtungen und Erfahrungen über
den eigenen Handlungsraum anhand der Veränderungslandkarte zu erläutern und zur Disposition zu stellen. Seine Ausführungen dienen
als Spielmaterial, aus dem eine kurze, prägnante
Szene entwickelt wird. Der Betroffene spielt dabei zunächst sich selbst und inszeniert einen anderen Teilnehmer als Antagonisten (Gegenspieler). Die Szene wird vor dem Plenum gezeigt.
Die Methode setzt nun an dieser Darstellung der
Originalszene an: Jeder Beobachter des Plenums
wird aufgefordert eine Verhaltens- oder Prozessalternative einzuspielen, die der Protagonist als
Betroffener nicht gezeigt hat. Dabei spiegeln die
Beobachter dem Betroffenen in bewusst überspitzter, verkürzter Version, was sie bei dem Betroffenen hinsichtlich Auffälligkeiten, Haltungen
und Prozessroutinen wahrgenommen haben.
Auf diese Weise entsteht zum einen eine Variation von Wahrnehmungen zum Zustand der Organisation und den Verhaltensroutinen ihrer
Mitglieder in Bezug auf die konkrete Situation.
Zum anderen entsteht ein Pool aus Veränderungsvarianten, die durch die Sitzungsteilnehmer als Impulse zur Veränderung eingespielt
wurden. Die Veränderungsvarianten werden abschließend von dem Betroffenen auf dem Hintergrund seines Handlungsraumes reflektiert
und hinsichtlich des Nutzens und der Umsetzbarkeit analysiert. Die Vorschläge sind dabei als
Orientierungshilfen aufzufassen, die Impulse für
mögliche Veränderungen auf der personalen
sowie der organisationalen Ebene setzen.
Zusammenfassend wird deutlich, dass der Ansatz der theatralen Arbeit in dem bewussten
Heraustreten aus dem Kontinuum der routinierten Wirklichkeit besteht. Die Teilnehmer begeben sich während der Intensivarbeit in einen
theatralen Spielprozess, der bestimmten Regeln
folgt, um anschließend mit den Ergebnissen in
Form von Impulsen aus dem Prozess in die be-
triebliche Wirklichkeit zurückzukehren (vgl. Dörger & Nickel, 2008). Die theatrale Arbeit leistet
auf diese Weise zweierlei: zum einen einen Beitrag zur Beförderung der bewussten Wahrnehmung von Veränderungsbedürftigkeit und zum
anderen einen Beitrag zur Veränderungsfähigkeit, da im theatralen Prozess Verhaltens- und
Organisationsalternativen erprobt werden. Die
Schlüsselelemente dieser Arbeit bilden die Partizipation der Akteure und die Aktivierung ihres
præview Nr. 1 | 2011
Reflexionspotenzials. Die Akteure werden im
Spielprozess zum Übenden und damit zu einem
lernenden Part der Organisation.
Literatur
Arens-Fischer, W., Renvert E. & Ruping, B. (2009).
Der Beitrag des Unternehmenstheaters zur Unternehmensentwicklung: Personales Verhalten in Organisationsstrukturen und
-prozessen reflektieren. In Raab, G. & Unger, A. (Hrsg.): Der
Mensch im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Handelns (S. 543559). Tagungsband der Gesellschaft für Wirtschaftspsychologie. Lengerich: Pabst Science Publishers.
Arens-Fischer, W., Renvert, E. & Ruping, B. (2010). Szenische
Aktionsforschung. In Jacobsen, H. & Schallock, B. (Hrsg.): Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements (S.
190-199). Stuttgart: Fraunhofer Verlag.
Dörger, D. & Nickel, H.-W. (2008). Improvisationstheater – ein
Überblick: Das Publikum als Autor. Milow: Schibri-Verlag.
21
Die Tiefendimension
von Organisationskulturen
musikalisch erfassen
Music – Innovation –
Corporate Culture
Forscher und Berater in Organisationen sind oft wie taube Beobachter,
die in einen Raum kommen, in dem
jemand Geige spielt. Sie beobachten,
sie nehmen die Schwingungen mit
Messgeräten auf und können daraus
bisweilen sogar Rückschlüsse auf Tonlage und Form der Musik ziehen. Sie
werden jedoch nie von der Sinneswahrnehmung des Klangs erfahren,
nie davon, was Musik als Gehörtes an
Erfahrung bietet oder auslöst (Hayek
2006), denn sie orientieren sich an
den üblichen engen Rationalitätsmodi
Kognition/Sprache und Messbarkeit.
Bisher arbeiten Organisationsanalysen weitgehend mit kognitiven Modellen: Sie erfassen den
rationalen Teil von Organisationen, indem sie
sich vor allem auf direkt erkennbare Parameter
und auf Zählbares beziehen. Je flacher jedoch
Hierarchien werden und je komplexer damit die
Organisation, umso mehr werden jene weichen
Faktoren der Vergemeinschaftung bedeutend,
die Tiefe haben. Die Erforschung der „Tiefendimensionen“ von Organisationskulturen geht indessen weit über rationale Modelle der Organisationsforschung hinaus (Horsmann et al. 2007).
Eine neue Sprache für die Tiefendimension von Organisationskulturen
Können die Kulturen, in denen die Organisationsmitglieder leben bzw. arbeiten, klanglich
„hörbar gemacht“ bzw. musikalisch verstanden
werden, so kann das im Arbeitsalltag fast ausschließlich genutzte Kommunikationsmedium
Sprache sensorisch-emotional ergänzt werden.
Tiefendimensionen von Organisation und Innovation werden über den Kanal der Musik erfahrund für die Reflexion der Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nutzbar. Musik
eröffnet neue Erfahrungshorizonte des Organisierens und Managens: Da sie selbst komplex
ist, kann sie komplexe organisationale Ebenen
22
Michaela Margiciok, Michaela Wendekamm, Oliver Bluszcz, David Vossebrecher,
Gisela Humpert, Wolfgang Stark (v.l.)
Wolfgang Stark, David Vossebrecher,
Oliver Bluszcz, Gisela Humpert, Michaela
Wendekamm, Michaela Margiciok
sowie zeitliche und performative Aspekte des
Organisierens spiegeln, die in statischen Organisationsmodellen fehlen. Sie kann jenseits von
Sprachcodes Feedback auf struktureller und
emotionaler Ebene geben. Musikalisches Feedback regt – vor allem bezogen auf Elemente wie
soziale Interaktion, Emotion, Werte und Prozesse (Performanz) – Lern- und Entwicklungsprozesse der Organisation an und ermöglicht
eine positive Neuordnung. Fähigkeiten zur
Selbstreflexion sind entscheidend für Innovativität, Erfolg und organisationales Überleben
(Moldaschl 2006). Durch die Verbindung von
Organisationskultur und Musik lassen sich neue
Wege zur Entwicklung innovativer Unternehmen
und sozialer Systeme entdecken, wenn auch die
Erfahrungsbestände für Innovation erschlossen
werden, die nicht nur kognitiv repräsentiert
sind. Muster innovativer Organisationen – in
ihrer Tiefenstruktur bislang nur schwer erkennund darstellbar – können auf einer neuen Reflexionsebene erfahrbar gemacht werden.
Organisationen unter komplexem Anforderungsdruck mit innovativen, lernfähigen Organisationskulturen arbeiten mit Improvisationsprozessen (Cunha & Cunha 2006), die auch im
Jazz oder in Teilen der Neuen Musik identitätsbildend sind (Dell 2002). Solche Konstellationen
erfordern hoch qualifizierte Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen mit hohen Freiheitsgraden, um
Innovationspotenziale erkennen und flexibel
agieren zu können, erfordern jedoch keine komplexen Strukturen (vgl. Abb.).
Innovationsmuster und Organisationen
musikalisch verstehen
Prozesse des Organisierens können durch Musik
in indirekter, nicht-repräsentationaler Weise neu
erfahrbar werden. Im Projekt MICC werden Ergebnisse der Organisationsanalysen und der
Musterentdeckung in Form musikalischer Feedbacks verfügbar gemacht, um Reflexions- und
Handlungsräume zu eröffnen, die Lernpotenziale der Organisation stimulieren.
Als methodisches und inhaltliches Scharnier
zwischen Organisation und Musik dient die Erkennung und Darstellung von Mustern (engl.
patterns)1. Patterns sind die kontextbezogene
Beschreibung hoch typischer Problemlösungen,
die sich in Organisationen als erfolgreich (viabel) erwiesen haben, sie explizieren implizites
handlungsrelevantes Wissen. Als Kommunikationsformat bilden Patterns einen kooperativen
Lernprozess ab und transportieren Werte. Da es
Patterns in improvisierter (und komponierter)
Musik wie auch in Organisationen gibt, haben
sie eine verbindende Funktion.
Als Verfahren „musikalischen Denkens über Organisationen“ werden Organisationspartituren
entwickelt und eingesetzt. Generell sind Partituren Formen des Erschließens von Sinn in der
Musik: Wenn wir eine Beethoven-Symphonie
strukturell verstehen wollen, besorgen wir uns
eine Partitur und lesen beim Hören mit. Die Partituren der Neuen Musik (Mitte des 20. Jahrhunderts) jedoch sagen nicht mehr den genauen Verlauf der Musik
vollständig vorher: Sie sind
Simple People
Complex People
nicht repräsentational, sonComplex Structure Machine Bureaucracies Intelligent Bureaucracies
dern „diagrammatisch“ angeSimple Structure
Simple Organisations
Improvising Organisations
legt. Die Interpreten spielen
nicht nur die Noten nach, sonKomplexität in Organisationen (Cunha & Cunha 2006)
dern müssen aus der Partitur
Improvisationen als Muster innovativer Organi- eigene Handlungsformen entwickeln. Dieses
sationen sind nach Cunha et al. (2006) beab- Verfahren ist für Innovation in Organisationen
sichtigte, aber ungeplante Abweichungen von wertvoll, weil hier „unscharfe“ Anweisungen zu
Routinen. Eben dadurch können unerwartete „scharfen“ Ergebnissen führen sollen: eine beProblemlösungen und Entwicklungsmöglichkei- absichtigte, aber nicht planbare Nutzung von
ten erkannt/genutzt werden. Über das Brechen Freiheitsgraden.
vorhandener Regeln wird eine neue „Figur“ erreicht.
præview Nr. 1 | 2011
So werden mit dem Medium der Musik neue
Reflexionsebenen für die Analyse organisationaler Zusammenhänge, Prozesse und Ereignisse
erschlossen. Organisationale und musikalische
Muster verbinden sich zu einer Mustersprache
der Organisationen, die Zugänge zur Tiefendimension von Organisationen erlaubt (Baitsch &
Nagel 2008). Des Weiteren können organisationale Mustersprachen dazu genutzt werden, Abläufe und Prozesse (z.B. zur Krisenbewältigung)
neu zu gestalten. Insofern sind Partituren Elemente eines Instrumentenportfolios, das Musik
nicht nur als Analogie nimmt, sondern die Sensibilität für und die Ermöglichung von Improvisationsprozessen im Sinne lernender Organisation neu erklingen lässt.
Die Autoren
Wolfgang Stark ist Professor für Organisationspsychologie und -entwicklung, Oliver
Bluszcz, Gisela Humpert, David Vossebrecher
und Michaela Wendekamm sind wissenschaftliche Mitarbeiter, Michaela Margiciok ist studentische Hilfskraft am Labor für Organisationsentwicklung der Universität Duisburg-Essen.
Kontakt: wolfgang.stark@uni-due.de
1
Angelehnt an das Konzept der Mustersprache von Christopher
Alexander (Alexander et al. 1977).
Literatur
Alexander, C. et al. (1977). A Pattern Language. New York:
Oxford University Press.
Baitsch, C. & Nagel, E. (2008). Organisationskultur – das
verborgene Skript der Organisation. In Meissner, J., Wolf,
P. & Wimmer, R (Hrsg.), Praktische Organisationswissenschaft.
Heidelberg: Carl Auer.
Cunha, J., Cunha, M. & Chia, R. (2006). Routine as Deviation.
Working Paper, Fac. de Economia, Universidade Nova, Lisboa,
Portugal.
Cunha, M. & Cunha, J. (2006). Towards the Improvising
Organization. Business Leadership Review. Vol 3 Issue 4.
Dell, C. (2002). Prinzip Improvisation. Köln: Walther König.
Hayek, F.A. (2006). Die sensorische Ordnung. Tübingen:
Mohr Siebeck.
Horsmann, C., Pundt, A., Martins, E. & Nerdinger, F.W. (2007).
Beteiligungskultur als Kontextfaktor für das Ideenmanagement.
Wirtschaftspsychologie, 9 (2), 103-114.
Moldaschl, M. (2006). Innovationsfähigkeit, Zukunftsfähigkeit,
Dynamic Capabilities. Managementforschung, 16, 1-36.
23
Der Autor
Christopher Dell, als international bekannter
Vibraphonist Grenzgänger zwischen Jazz und
Neuer Musik, leitet das Institut für Improvisationstechnologie (Berlin) und entwickelt im
Projekt MICC Konzepte musikalischen Verstehens für Organisationen.
Kontakt: cd@christopher-dell.de
Organisation musikalisch denken
Christopher Dell
Organisation wird im Rückgriff auf ihre Kultur nicht als substanzielle Form
oder neutraler Behälter verstanden, in dem organisationale Akteure handeln.
Vielmehr wird Organisation performativ gedacht, d.h. sie entsteht durch Ausübung – Wiederholung, Routine, Rituale, Muster – und ihr Wissen ist tacit.
Als performativer Akt ist Organisation prozesshaft und entwickelt sich durch
ein Handeln, das an Wertvorstellungen, Materialien und Strukturen geknüpft
ist. Das Erforschungswürdige an diesem Konzept ist, dass wir meist kein bewusstes Konzept der Performanz von Organisation haben, also von dem, was
wir als Kultur einer Organisation „machen“ – uns fehlt mithin die Urteilskraft für das Relationale, Situative und Performative.
24
Das Erforschen der impliziten Formen des Wissens ist bereits seit langem Bestandteil der Organisationstheorie. Neu ist, das künstlerische
Forschen in diesen Komplex mit einzubeziehen.
Im künstlerischen Forschen geht es mithin um
die Ausweitung der Forschung in ihrer kategorialen Bestimmung und deren Auffächerung.
Anders gesagt: Künstlerisches Forschen fragt
neu nach den ontologischen Bedingungen von
Forschung, also der Beschaffenheit des Forschungsgegenstands, der Form der Episteme
und den damit verknüpften methodologischen
Ansätzen. Forschung in der Kunst wird von
Borgdorff (2009) als „performative Perspektive“
bezeichnet, Donald Schön beschreibt sie als
„Reflexion in der Aktion“. Die Trennung von Objekt und Subjekt wird hier problematisiert, denn
die Distanz des Forschenden zum Gegenstand
ist minimiert – im Gegenteil sucht der Forschende in performativen Kontakt mit den Dingen zu
kommen, um aus praktischen Situationen heraus Wissen zu destillieren. Dieser Ansatz geht
davon aus, dass die künstlerischen Praktiken
selbst ein Reservoir an Wissen bereitstellen, die
es für die Forschung fruchtbar zu machen gilt.
Wenn Handlung reflexiv gemacht wird, impliziert dies, dass „Konzepte und Theorien, Erfahrungen und Auffassungen (…) mit Kunstpraktiken verwoben“ (ebd.) sind.
Warum aber Musik? Weil ihr Sinn sui generis aus
dem relationalen Zusammenhang, aus einer Topologie ihrer strukturellen Momente entsteht.
Und: diese Relationalität muss hervorgebracht
werden. Der Sinn von Musik entfaltet sich erst
aus der Relationalität von Rhythmus, melodischer Anteile, harmonischer Verläufe, Klangfarbe
etc., die nicht allein als physikalische Vorgänge
von akustischen Schwingungen, sondern als ein
„sinnvolles“ Konglomerat wahrgenommen werden können. Wichtig ist, dass jeder mitmachen
kann: Strukturen dieser Vorgänge bilden für alle
Hörer gleichermaßen eine Grundlage. Sie können jenseits tertiärer Eigenschaften „Anlass für
zusammenhängende Erfahrung“ (Vogel 2007)
sein und bilden so wahrnehmungsstrukturierende Modelle, die nicht nur Spezialisten der
Musik, sondern auch jedem Laien zugänglich
und plausibel sind. Diese Modelle sorgen dafür,
dass die Hörer eine Praxis, ein Tun nachvollziehen und daraus eine Form der Kohärenz ableiten
können. Dieser Nachvollzug ist jedoch stark subjektiv gefärbt, eine Eigenschaft, die durch die
præview Nr. 1 | 2011
Tatsache, dass in dem MICC Projekt organisationale Strukturen auf einen musikalischen Verlauf
projiziert werden und umgekehrt, noch verstärkt
wird. Wichtig bleibt: Die Musik bedeutet nicht
die Organisation, sondern das Tun eines musikalischen Spiels wird nachvollzogen oder im
Schreiben der Partitur vorgedacht. Der Erfahrungsraum des Musikmachens oder Musikhörens wird also umgekehrt zum strukturierenden
Moment einer Reflexion über Organisation. Das
ist wichtig, denn wir gehen ja davon aus, dass
Musikhören ebenso wie das daran angeschlossene oder vorgeschaltete Partiturenzeichen nicht
bloß rezeptiv oder interpretatorisch zu verstehen
ist, sondern dass darin Elemente einer Praxis
enthalten sind, die sich daran beteiligen, musikalischen Sinn überhaupt erst zu „produzieren“.
Der Fokus auf die Produktion von Sinn, auf das
Verfahren des Musizierens selbst rückt ein spezifisches Verfahren der Musikproduktion in den
Blick: das der Improvisation. Dieses Verfahren
ist für Organisationen zunehmend interessant.
Aktuell beobachten wir, wie sich die Perspektiven im Komplex der Organisationstheorie verschieben. Auf der Basis eines „organisationalen
Lernens“ wurde ein „Prozess der Erhöhung und
Veränderung der organisationalen Wert- und
Wissensbasis, die Verbesserung der Problemlösungs- und Handlungskompetenz sowie die
Veränderung des gemeinsamen Bezugrahmens
von und für Mitglieder innerhalb der Organisation“ in Gang gesetzt (Probst & Büchel 1994).
Damit ändert sich auch die Organisation von
Organisation. Organisation ist nicht mehr nur
als Planung und Ausbildung von Routinen, sondern vor allem als organisatorischer Wandlungsprozess zu verstehen. Innerhalb dieses
Komplexes ist in neuester Zeit ein Untersuchungsfeld emergiert, das Improvisation als
Kompetenz des konstruktiven Umgangs mit
dem Unerwarteten stärker in den Blick nimmt.
„Organizational Improvisation is one of the
more recent theoretical developments, and one
which is only now beginning to capture the
imagination of organization theorists“ konstatieren Kamoche et al. (2002). Dies hätte einen
Paradigmenwechsel in der Organisationstheorie
zur Folge: In ihr wird herkömmlicherweise Planung „als langfristig der Improvisation überlegene und erstrebenswerte Form der Problemlösung definiert, während die Improvisation
eine untergeordnete Rolle spielt. Aufgrund von
Planungsgrenzen wird in den Unternehmen in
einem Maße improvisiert, welches über dem der
theoretischen Darstellungen liegt.“ (ebd.)
Schön (1983) rekurriert in seiner Beschreibung
des „reflexiven Praktikers“ auf die Arbeit von
Musikern, und zwar Jazzmusikern im Speziellen,
weil diese Improvisation nutzen und so im Unvorhersehbaren Kohärenz zu erzeugen in der
Lage sind: „Sie (die Musiker) können das hauptsächlich deshalb tun, weil sie sich bei ihrem
kollektiven Bemühen um eine einfallsreiche
musikalische Gestaltung eines metrischen, melodischen und harmonischen Schemas bedienen, das allen Beteiligten vertraut ist und dem
Musikstück eine vorhersehbare Gestalt verleiht.
(…) Indem die Musiker ein Gespür für die Richtung bekommen, in der sich das Musikstück
aufgrund ihrer zusammenwirkenden Beiträge
weiterentwickelt, gewinnen sie daraus einen
neuen Sinn und passen ihr Musizieren diesem
neuen, von ihnen begleiteten Sinn an.“ Die Analyse des reflektierten Handelns geht somit von
einer bestimmten Organisationspraxis aus, und
zwar der der organisationalen Improvisation.
Fassen wir zusammen: Musikalische Logik fügt
sich nicht aus wahrheitserhaltendem Schließen
zusammen, sondern aus der Relationalität einer
spezifischen Nachbarschaftsordnung musikalischer Elemente. Matthias Vogel (2007) spricht
in diesem Zusammenhang von medialen Praktiken. „Im Mittelpunkt medialer Praktiken stehen
tradierte und erlernbare Tätigkeitstypen, die
wahrnehmbare Ereignisse hervorbringen, wobei
Produzenten und Rezipienten dieser Ereignisse
sich nicht an deren physikalischen Eigenschaften, sondern an deren beobachterrelevanten
Eigenschaften orientieren“.
Literatur
Borgdorff, H. (2009). Die Debatte über Forschung in der Kunst.
In Rey, A & Schöbi, S. (Hrsg.), Künstlerische Forschung,
S. 23-51. Zürich: ZHdK.
Hagedorn, V. (2008). Musik vergisst man nie. DIE ZEIT,
29.05.2008, Nr. 23.
Kamoche, K., Cunha, M.P. & Cunha, J.V. (Hrsg., 2002).
Organisational Improvisation. London: Routledge.
Probst, G. & Büchel, B. (1994). Organisationales Lernen:
Wettbewerbsvorteil der Zukunft. Wiesbaden: Gabler.
Schön, D. (1983). The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action. New York: Basic Books.
Vogel, M. (2007). Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen
Sinns. In Becker, A & Vogel, M. (Hrsg.), Musikalischer Sinn,
S. 327. Frankfurt: Suhrkamp.
25
Neue Horizonte für Innovationsarbeit
Wie ein archetypisches Muster Innovationsprozesse strukturiert und stützt
Karin Denisow, Nina Trobisch
Es ist eine prominente Weisheit: Innovationen
brauchen Mut und Kreativität, Altes abzulegen
und Neues anzufassen. Dafür existiert eine repräsentative Struktur: Die typische Schrittfolge
für Wachstum und Wandel ist nicht aus Softwareprogrammen ableitbar, sondern im Monomythos der Heldenfahrt verdichtet. Das Forschungsprojekt „Innovationsdramaturgie nach
dem Heldenprinzip“ legt mit dem Zugriff auf
das kulturelle Archiv der Menschheit einen jahrtausend bewährten Erfahrungsschatz frei und eröffnet damit neue Dimensionen für Innovation.
Die „Lessons Learned“ aus den
Projekten des Lebens
Der „rote Faden der Ariadne“, „die Gralssuche“,
„die Büchse der Pandora“: Das sind geflügelte
Worte. Allesamt entstammen sie der Mythologie und liegen leicht auf der Zunge. Als Grundform kollektiver Wirklichkeitsdeutung bündeln
Mythen und Märchen die Essenz der Menschheitserfahrung in Metaphern. Diese Narrationen
bergen universelle Einsichten, in deren Sinnbildern seit Jahrtausenden Wissen und Erfahrung
gesammelt wird. Von Generation zu Generation
weiter gegeben, zuerst mündlich, dann gedruckt,
verfilmt, sind sie nun auch via Internet verbreitet. Hier finden wir eine ursprüngliche Form des
Wissensmanagements.
Vom Monomythos und seiner Adaption
für die Gegenwart
Im 20. Jahrhundert ging der amerikanische
Kultur-Ethnologe Josef Campbell der Struktur
weltweiter Heldenmythen auf den Grund. Seine
vergleichenden Forschungen führten ihn zu
einer bahnbrechenden Entdeckung: Nicht an
Herkunft noch Besitz misst sich ein Held, sondern an der Bereitschaft, sich auf eine tief greifende Transformation einzulassen. Heldenmythen komprimieren dramatische Geschichten
von Entwicklung und Veränderung. Unabhängig
von Kulturkreis und Jahrhundert, diesen Prozessen wohnt ein konstantes Muster inne. Mögen
die Stories und Protagonisten des Heldenmythos’ in „tausend Gesichtern“ erscheinen, darunter liegt ein immer ähnliches inneres Raster.
Dieses dem Heldenmythos immanente Muster
(Monomythos des Helden) macht sich das Projekt „Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip“ zunutze und adaptiert die archetypische
Schrittfolge für unternehmerische Kontexte der
Gegenwart (Heldenprinzip). Sie folgt dabei dem
Spannungsbogen der klassischen Dramaturgie;
das Geschehen wird unterteilt in drei Akte, untergliedert in Szenen.
Im „Aufbruch“ steht Ruf versus Weigerung. Notgedrungen oder aus freien Stücken, das Wagnis
des Ungewissen beginnt.
Das ist nur möglich, wenn
1. Akt: Der Aufbruch
3. Akt: Die Rückkehr
man sich einlässt auf Fremdes, Unbequemes, Schwieriges. Der Mentor sichert
Der Ruf
Meister zweier Welten
die notwendigen Ressourcen, damit die erste SchwelDie Weigerung
le ins Unbekannte überDer schwierige Rückweg
windbar wird. Der Weg der
Der Mentor
Bekannte Welt
Prüfungen „im Land der
Überwinden der 1. Schwelle
Überwinden der 2. Schwelle
Schwelle
Abenteuer“ umreißt die herausfordernden Aufgaben
Unbekannte Welt
und Hindernisse, die der
Der Weg der Prüfungen
Die Belohnung
Protagonist bewältigt oder
auch noch nicht. In der entDie entscheidende Prüfung
scheidenden Prüfung wird
die stärkste Angst besiegt.
Die Belohnung gibt die
Kraft, die zweite Schwelle
2. Akt: Im Land der Abenteuer
zurück in die Normalität zu
überwinden. Bei der „RückInnovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip
26
kehr“ zeigt sich, wie der schwierige Rückweg die
erworbenen Fähigkeiten stabilisiert. Das Gewonnene und Erworbene wird in den Alltag integriert. Als Meister zweier Welten ist man
handlungsmächtig, wenn der neue Zustand alltägliche Selbstverständlichkeit ist.
Zum postheroischen Management
„Arm das Land, das Helden nötig hat!“ heißt es
in Bertolt Brechts „Galileo Galilei“. Aber: Ob in
den Geschichten oder in der Geschichte, immer
gibt es Menschen, die sich be- und gerufen fühlen, Verantwortung zu übernehmen und über
sich hinauszuwachsen. Zu allen Zeiten wird es
Umstände geben, die der Veränderung oder Erneuerung bedürfen, trotz Risiken und Gefahren.
Der Heldenweg ist das Annehmen unwägbarer
Herausforderungen. Indem Menschen und auch
Organisationen sich auf den Weg des Wandels
begeben, werden sie kompetent. In diesem Sinne ist die Grundstruktur des Heldenmythos für
heutige Innovationsprozesse relevant und liegt
paradoxerweise näher am postheroischen Management als vermutet. Denn auch Dirk Baecker (2006) nutzt die Kraft der inneren Bilder,
um seine Postulate für zeitgemäßes, sinnstiftendes Wirtschaften zu untermauern.
Innovationsdramaturgie nach
dem Heldenprinzip
Innovation aus der Unschärfe und der Unplanbarkeit zu schöpfen, dafür gilt es Konzepte zu
generieren. Der Weg des Helden ist eine Projektionsfläche, die für jeden Entwicklungsprozess
nutzbar ist. Innovationen gehören dazu. Innovationen sind in unserem Verständnis von Menschen getragene Veränderungsprozesse, die sich
im Spannungsfeld von ökonomischen, ökologischen und sozialen Einflüssen entfalten. Innovationen können sich auf Prozesse, Strukturen,
Produkte beziehen – aber immer spielen sie sich
auch dazwischen ab. In den Spannungsfeldern
dieser Zwischenräume liegt der kreative Gestaltungsraum. Unsere Arbeit mit den Unternehmen zeigt, wie fruchtbar es ist, sich auf die universale Grundstruktur des Heldenmythos für
gegenwärtige Transformationsprozesse zu besinnen; sowohl für die Organisation als auch für
den Einzelnen. Hier stehen drei förderliche
Komponenten im Vordergrund:
1. Der Dreischritt des Entwicklungsbogens
Verlassen der alten bekannten Welt (Aufbruch)
– Neues Agieren in einer unbekannten Welt (Die
Landschaft der Prüfungen) – Ankommen in der
alten veränderten Welt (Rückkehr). Dieses Muster ist einprägsam und nachvollziehbar, es schafft
ein Maß an Sicherheit in der Unsicherheit. Den
Beteiligten des Innovationsprozesses gibt es ein
Gerüst für das aktive, kreative Handeln in unbekannten Situationen und setzt den Rahmen
für den damit einhergehenden Erwerb neuer
Kompetenzen.
2. Die Dramatik des Spannungsbogens
Zielplanungen und Meilensteine determinieren
wirtschaftliche Prozesse. Obwohl es eine Vielzahl von betriebswirtschaftlichen und sozialen
Methoden gibt, Entwicklungsprozesse rational
zu gestalten – da werden Ziele vorgegeben, da
werden Problemlösungen moderiert, da wird
Change-Management kultiviert – fehlt dennoch
irgendetwas! Parallel schwingen ganz eigene
„Logiken“ im Untergrund. Denn das Auf und Ab
eines Innovationsweges ist geprägt von Höhen
und Tiefen, Krisen und Erfolgen, die Raum beanspruchen und Beachtung finden müssen. Das
Heldenprinzip ignoriert die Spannungsfelder
nicht, sondern sensibilisiert für Ambivalenzen,
Konflikte und Polaritäten und behandelt sie als
produktiven Bestandteil.
3. Die Kraft der archetypischen
Bilder und Quellen
Der Monomythos wirkt implizit und explizit.
Seine Fährte ist tief im Menschen eingespurt. Die
Beteiligten folgen ihr bewusst und unbewusst,
durch und mit dem Handeln (performativ), durch
Ansprache auf tieferen Ebenen, die dort etwas
zum Klingen bringt. Das Grundmuster tragen
auch die Beteiligten eines Innovationsprozesses
in sich und greifen auf das kulturelle Gedächtnis, die kollektive Intelligenz der Menschheit zu.
Die Metaphern haben bis heute kaum an ihrer
Strahlkraft eingebüßt. In der Kommunikation
entstehen dadurch mächtige innere Bilder, die
sich mit anderen Menschen teilen lassen.
Karin Denisow, Nina Trobisch
nach dem Heldenprinzip mit ihrer archetypischen Quelle, ihrer spannungsreichen Struktur,
ihren kraftvollen Bildern und ihren ästhetischen
Praktiken als Orientierungsmuster einer zukunftsfähigen Innovationskultur dient. Die Unternehmen nutzen es als praktisches Wissen und Handwerkzeug. Aus diesem Blickwinkel fördert sie,
als Kompositionsprinzip von Veränderung, das
non-lineare schöpferische Denken und das kreative Handeln; die zentralen Komponenten der
Innovationsarbeit. Denn: Was wir schon wissen,
ist nicht neu. Was neu ist, wissen wir noch nicht.
Die Autorinnen
Dr. Karin Denisow ist Geschäftsführerin
der LUMEN | Organisationsentwicklung.
Inspiration. Coaching. GmbH Berlin.
denisow@lumen-gmbh.com
Nina Trobisch ist Forschungsleiterin des Projektes „Innovationsdramaturgie nach dem
Heldenprinzip“ am Zentralinstitut für Weiterbildung an der Universität der Künste Berlin.
ziw-trobisch@udk-berlin.de
Literatur
Baecker, D. (2006). Postheroisches Management.
Berlin: Merve Verlag.
Campbell, J. (2002). Der Heros in tausend Gestalten.
Frankfurt a.M.: Insel Verlag.
Hüther, G. (2006). Die Macht der inneren Bilder.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Rebillot, P. (2008). Heldenreise. Books on Demand GmbH.
Fazit
Die Forschungsarbeit in den beteiligten Unternehmen zeigt, dass die Innovationsdramaturgie
præview Nr. 1 | 2011
27
Was Führungskräfte mit dem risikoreichen Weg
des Helden verbindet
Einblick in die Praxis
Karin Denisow, Nina Trobisch
Der Forschungsverbund HELD stellt sich die
Aufgabe, das Heldenprinzip als universelles
Muster für Wachstums- und Wandlungsprozesse sowohl in der Begleitung von Unternehmen als auch von Einzelpersonen zu erproben
und methodisch zu untersetzen. Hier sei von
der Arbeit mit Führungskräften unterschiedlicher Unternehmen berichtet.
Dramaturgischer Aufbau der Seminarreihe
Modul 1 | 1. Akt | Aufbruch
Modul 2 | 1. Akt | Aufbruch
Modul 3 | 2. Akt | Land der Abenteuer
Modul 4 | 2. Akt | Land der Abenteuer
Modul 5 | 2. Akt | Land der Abenteuer
Modul 6 | 3. Akt | Rückkehr
Modul 7 | 3. Akt | Rückkehr
Was ist der Ring of Leadership?
In der Annahme, dass ein tief greifender Entwicklungsprozess mehr als nur ein zweitägiges
Seminar braucht, entschieden wir uns, einen
„Workshopzyklus in 7 Schritten“ zu konzipieren,
alle zwei Monate ein zweitägiges Modul. Diese
Module folgen der Struktur des Heldenprinzips.
Nacheinander stehen ein bis zwei Szenen im
Fokus, die in ihrer tieferen Bedeutung beleuchtet, mit Sinnbildern angereichert und in ihrem
praktischen Bezug zum Führungsalltag umgesetzt werden.
Zwischenstand:
Blitzlichter aus den Modulen 1 bis 5
Modul 1 | Aufbruch: Ziel war auf der einen Seite,
die Grundstruktur zu vermitteln, um den Boden
für die kommende Arbeit zu bereiten. Hierfür
erfanden die Teilnehmenden nach der Dramaturgie des Heldenprinzips Stories, die sie in szenischen Improvisationen umsetzten. Schnell und
schöpferisch schrieb sich das Muster ein und
führte zu wunderschönen assoziativen Szenen.
Auf der anderen Seite ging es um die Erarbeitung des eigenen Rufes. Jeder der Teilnehmenden hatte ein unklares Gefühl der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Eine Expedition
ins Innere, eingebettet in Übungen zu Eigenund Fremdwahrnehmung, führte in einem gemeinsam geschaffenen Gemälde zu einer Annäherung an den Ruf. Die Unschärfe, das Schwebende des Rufs wurde so greifbar.
Modul 2 | Aufbruch: Thematisiert wurden die
Weigerung und die Begegnung mit dem Mentor. Künstlerische Artefakte zum Thema Führung verdeutlichten die inneren Ansprüche der
Gruppe an Führung sowie die Komplexität der
Führungsaufgabe. In einer anschließenden spielerischen Erfahrungssequenz zeigten sich die
individuellen Differenzen zwischen Anspruch
und Realität. Zur Bearbeitung dieser deutlich
gewordenen Ambivalenzen wurde in einem ausführlichen Reflecting Team Setting die Gruppe
dem Einzelnen zum Mentor.
Modul 3 | Land der Abenteuer: Die Überwindung der ersten Schwelle erfordert ein hohes
Maß an Sensibilisierung für die eigenen Muster
und Glaubenssätze sowie die Bereitschaft, auf
die blinden Flecken zu schauen. Dieser Übergang
wurde durch die Arbeit mit der eigenen Stimme,
Bewegung im Raum und Kryptogrammen unterstützt. Die Schwelle zeigte sich symbolisch
durch eine riesengroße hohe Wand, auf der die
Schwellenhüter dem „Helden“ Einhalt geboten.
Es wurde erlebt, dass das Überwinden der Schwelle vor allem einen großen inneren Mut braucht.
Wer fühlte sich angesprochen?
Die Bewerber hatten bereits Führungsseminare
besucht, waren aber unzufrieden mit den Ergebnissen. Neugierig auf kreative Methoden
und offen dafür, ihre Führungskompetenz durch
ästhetisches Arbeiten und kulturelle Schätze zu
stärken, öffneten sie sich dem Konzept, das sowohl die Führungsrolle als auch die individuelle
Entwicklung fokussiert. Heute setzt sich der Ring
of Leadership aus zwölf Führungskräften vielfältiger Branchen und Unternehmen zusammen
(sechs Männer/sechs Frauen).
Was eint Führungskräfte und Helden?
Menschen auf dem Heldenweg: Unwägbarkeiten säumen ihren Pfad, sie lassen sich davon
nicht schrecken. Hindernisse erschweren den
Auftrag, sie überwinden sie situativ. Ungewisse
Probleme fordern sie heraus, sie lösen sie kreativ. Ihr Ziel ist erreicht, wenn die Errungenschaft
in der Praxis verankert ist. Auf den ersten Blick
scheint Führungsentwicklung also das ideale
Feld für die Anwendung, auf den zweiten Blick
aber ist es ein komplexes Unterfangen, die archetypische Reihenfolge mit der Vielfalt individueller Prozesse zu kombinieren, die persönliche
Entwicklung mit der Aufgabe als Führungskraft
in Balance zu halten und künstlerische und analytische Methoden, in Resonanz zu einer vorgegebenen Dramaturgie, in Einklang zu bringen.
28
Modul 4 | Land der Abenteuer: Um die absolute Ungewissheit dieser Situation erfahrbar zu
machen, führten wir die Gruppe an einen unbekannten Ort, den Klangwelten in den Berliner
Unterwelten. Dort ertasteten sie – nicht sehend
– den fremden Raum und erkundeten ungewöhnliche Klänge. In diesem Modul kristallisierte sich heraus, dass es beim Erschließen von
Neuland viel weniger um die Außergewöhnlichkeit der Herausforderung geht, sondern um eine
offene, aufgeschlossene und durchaus vorsichtige, ja tastende Haltung.
Modul 5 | Land der Abenteuer: Die Mühsal des
Loslassens alter Verhaltensmuster wird in einer
Performance erfahren: Die Teilnehmer bewegen
sich in einer Matrix (Seitz 20061). Ein Bewegungselement kommt zum nächsten. Immer wieder werden ähnliche Situationen geübt. Wandlung und Variation ist möglich. Gefühle wie
Langeweile, Ärger, Leere, Sinnlosigkeit sind hilfreich, um das Neue zu wagen, auszubrechen. Im
performativen Element wird die Unmittelbarkeit
des Wandels spürbar sowie die Schwierigkeit,
im Alltäglichen seine Optionen zu nutzen.
Zusammenfassung
Den dramaturgisch aufgestellten Seminarzyklus
bestimmen vier Elemente:
1. Das narrative Element: Das Seminar bildet
die Akte und Szenen ab, unabhängig davon,
wo jeder Einzelne gerade steht. Die Teilnehmer machen sich mit Inhalt und Wesen ihrer
Geschichte und den Geschichten der Anderen
vertraut.
2. Das performative Element: Im Handeln äußern sich Identität und Rolle, Persönlichkeit
und Entwicklungsstand einer Führungskraft.
Alle Stationen werden emotional und körperlich verankert, handelnd erlebbar. Das aktive
emotionale Erleben der Struktur ermöglicht die
Integration in das eigene intuitive Handeln.
4. Das mentorale Element: Ein zentrales Moment des Heldenprinzips ist das Erschließen
von stützenden Ressourcen. Die Gruppe selbst
ist sich ein Kraftquell, eine mentorale Ressource. Klassische Methoden, z. B. das kollegiale Coaching, werden eingesetzt, um das
Vertrauen der Teilnehmer untereinander zu
fördern.
Das Heldenprinzip bietet ein Gerüst, in dem jede/r seine Antworten selbst sucht: Was ist mein
Ruf als Führungskraft? Wo liegt der Kern meiner
Weigerung? Wie nutze ich mentorale Unterstützung? Welche Schwellen überwinde ich, um
neues Verhalten zu erkunden, zu erproben, zu
praktizieren? Welchen Gefahren bin ich im Land
der Abenteuer ausgesetzt?
Diese Dramaturgie ist ein Weg, Persönlichkeitsentwicklung und Führung zusammenzuführen.
„Weil man sie kennt, aus Mythen, Märchen –
und der eigenen Erfahrung. Ich kann mich mit
ihr identifizieren. Sie hilft mir, meine Herausforderungen besser wahrzunehmen, sie täglich
neu anzugehen, ohne dabei den Mut zu verlieren.“, sagte Frank M., einer unserer Teilnehmer
vom Ring of Leadership in der Evaluation.
Die Autorinnen
Dr. Karin Denisow ist Geschäftsführerin der
LUMEN | Organisationsentwicklung. Inspiration. Coaching. GmbH Berlin.
denisow@lumen-gmbh.com
Nina Trobisch ist Forschungsleiterin des Projektes „Innovationsdramaturgie nach dem
Heldenprinzip“ am Zentralinstitut für Weiterbildung an der Universität der Künste Berlin.
ziw-trobisch@udk-berlin.de
1
Seitz, H. (2006). Ereignisse im Quadrat. Matrix für Performances an der Schnittstelle zum Tanztheater. In Lange, M.-L. (Hrsg.),
Performativität erfahren. Uckerland/Berlin: Schibri-Verlag.
3. Das künstlerisch-kreative Element: Farbe
und Form, Bilder und Materialien, Raum und
Klang, Bewegung und Spiel sind Teil des Konzeptes. Die ästhetische Gestaltung sensibilisiert die Wahrnehmung und ermutigt die
Teilnehmer, ihren kreativen Potenzialen zu
vertrauen und sie auszuloten.
præview Nr. 1 | 2011
29
Digitale Spiele als innovatives Medium für
Wissenstransfer und Intervention
Carsten Busch, Florian Conrad, Martin Steinicke
Carsten Busch, Florian Conrad, Martin Steinicke
Digitale Spiele bieten eine alternative Möglichkeit, Wissen zu vermitteln und künstlerisch-ästhetische Interventionen, etwa in
Workshops, zu unterstützen. Am Beispiel des
Heldenprinzips in Workshops für Unternehmen und Führungskräfte werden zwei kombinierbare Ansätze, Blended Game-based
Learning und Public Gaming, sowie die bisherigen Erfahrungen mit diesen vorgestellt.
Da die Heldenreise als Erzählstruktur nicht nur
unbewusst genutzt wird, sondern vielmehr in
das Repertoire professioneller Geschichtenerzähler gehört, versteht es sich von selbst, dass
sie auch in der Spieleliteratur als eine (Rollings
et al. 2003) oder gar die (Howard 2008) Dramaturgie für erfolgreiche und sinnstiftende
(„meaningful“) digitale Spiele gilt. Daher lassen
sich einzelne Szenen und häufig auch die komplette Heldenreise in zahlreichen digitalen Spielen mit einer ausgeprägten Handlungskomponente nachweisen. Bei der Vermittlung des
Heldenprinzips als Entwicklungsstruktur bietet
die Nutzung solcher digitalen Spiele eine hervorragende Möglichkeit, den Wissenstransfer zu
unterstützen. Die Teilnehmer können allein oder
im Team eine oder mehrere Szenen spielerisch
erleben und dann retrospektiv in Einzelarbeiten
oder Gruppendiskussionen reflektieren. Dies
ermöglicht und erfordert die tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Heldenprinzip und
fördert dessen Verständnis als Grundmuster für
Entwicklung. Dabei wird die Fähigkeit der Teilnehmer entwickelt, das Heldenprinzip auch in
spielexternen Situationen, wie Arbeits-, Innovations- und Entwicklungsprozessen, anwenden
zu können.
Zusätzlich wirkt das Erlebnis des Eintauchens in
die digitale Spielewelt auf der Metaebene. So
werden die Gefühle und Erlebnisse des Spielers
zur Heldenreise ins Abenteuerland des Spiels als
persönliche Geschichte („Story“) erfahren und
mit den zu reflektierenden Inhalten verknüpft.
Der anschließende Austausch in der Gruppe
verstärkt diese Verknüpfung durch die Kommunikation der eigenen Erlebnisse und das Erfahren der Geschichten anderer Teilnehmer im besten Sinne des Storytellings, dessen positiver
Effekt auf den Wissenstransfer hinreichend bekannt ist (Denning 2001, Herbst 2008).
30
Blended Game-based Learning
Um erste Erkenntnisse über die mögliche Einbettung von digitalen Spielen in die Interventionen zu erlangen, wurden Tests mit Probanden
durchgeführt. Diese entsprachen den potenziellen Zielgruppen für die Interventionen und wiesen als besonderes Merkmal minimale bis gar
keine Erfahrungen mit digitalen Spielen auf.
Über die Jahre entstanden in digitalen Spielen
eine Menge von Konventionen und Quasi-Standards für Spielmechaniken. In unseren Tests erwies sich dies jedoch als immense Schwelle, die
zu überwinden den Teilnehmern mitunter große
Mühen abverlangte. So gibt es in vielen digitalen Spielen „Tutorials“ – kleine Abschnitte, die
den Spieler in die zentralen Konzepte und Mechaniken des Spiels einführen (etwa das Springen und Gegenstände untersuchen oder die
Steuerung der Spielkameraperspektive). Diese
Tutorials, die von relativ erfahrenen Spielern in
wenigen Minuten absolviert werden können,
wurden von den Testkandidaten erst nach einer
halben Stunde oder mehr gemeistert. Obwohl
sich dies positiv auf die Heldenreise der Metaebene auswirkt – je weniger Erfahrung, desto
abenteuerlicher das Spielerlebnis – führt es
dazu, dass die eigentlichen Spielinhalte in weite
Ferne rücken. Gerade Spieltypen mit komplexen
Handlungsstrukturen – wie digitale Rollenspiele, die oft besonders gute Beispiele für die Stationen des Heldenprinzips enthalten – erfordern/bieten selbst für erfahrene Spieler häufig
30 oder gar 100 Stunden an Spielzeit. In „Dragon Age: Origins“ etwa können die Szenen des
ersten Aktes sehr gut nachvollzogen werden, bis
jedoch etwa die „Überwindung der 1. Schwelle“
der Spielhandlung erlebt wird, kann ein erfahrener Spieler bereits 6-8 Stunden im Spiel verbracht haben. Natürlich ist es möglich, den Interventions-Teilnehmern die Geschichten der
Spiele einfach zu erzählen, dadurch verliert sich
jedoch die eigentlich so besondere, performative Komponente der erlebten Reise.
Um auch weniger spielerfahrenen Teilnehmern
diese Erfahrung zugänglich zu machen, wird im
Projekt HELD mindestens eine Modifikation (Mod)
eines digitalen Spiels erstellt werden. Diese Mod
wird den Fokus auf die Narration nach dem Heldenprinzip legen und eine geringere Spieldauer
aufweisen.
ganzer Gruppen von Teilnehmern sind digitale
Spiele dieser Art auch hervorragend für den Einsatz als kreativ-ästhetische und vor allem performative Übungen in den Interventionen geeignet. Letztlich kann festgehalten werden, dass
die Unterstützung des Wissenstransfers durch
digitale Spiele im Allgemeinen sowie im speziellen Kontext der Interventionen im Projekt HELD
vielversprechende Möglichkeiten bietet. Hierbei
muss jedoch immer – unter Berücksichtigung
der Vor- und Nachteile der verschiedenen Optionen – eine für die entsprechende Interventionssituation und das Teilnehmerprofil geeignete
Auswahl getroffen werden.
Trotz einer solchen möglichen Konzentrierung
auf die Stationen der Heldenreise kann und soll
die aktive Spielzeit nicht zu stark eingeschränkt
werden, denn dies wäre nur auf Kosten des so
wichtigen performativen Elements möglich.
Daher scheinen sich diese digitalen Spiel- und
Interaktionstypen weniger für die Verwendung
in den Interventionen selbst anzubieten, als
vielmehr für die Nutzung als Vor- und Nachbereitung der zu bearbeitenden Konzepte. In den
eigentlichen Präsenzphasen der Interventionen
werden die Erlebnisse der Teilnehmer dann als
Storytelling in der Gruppe geschildert und die
Verknüpfung zum Heldenprinzip diskutiert. Diese Kombination von Präsenz- und Fernlernen
wird im Kontext des elektronisch unterstützten
Lernens typischerweise als „Blended Learning“
bezeichnet (Graham 2006). Daher bezeichnen
wir diesen Ansatz als „Blended Game-based
Learning“.
Die Autoren
Prof. Dr. Carsten Busch ist Professor für
Medienwirtschaft an der Hochschule für
Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) in
den Studiengängen Medieninformatik und
Interaction Design / Game Design.
carsten.busch@htw-berlin.de
Public Gaming
Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht möglich und sinnvoll ist, eine Unterstützung der
Präsenzphasen und die Erweiterung des bereits
umfangreichen Sortiments an kreativ-ästhetischen und performativen Übungen durch digitale Spiele anzustreben. Denn häufig sind
komplexe und teilweise abstrakte Interaktionsmechanismen ein Grund für die enormen Unterschiede der benötigten Spielzeiten und die
empfundene Spielbegeisterung bei Nicht- und
Vielspielern.
Florian Conrad und Martin Steinicke sind
wissenschaftliche Mitarbeiter der HTW Berlin.
martin.steinicke@htw-berlin.de
florian.conrad@htw-berlin.de
Literatur
Conrad, F. (2009). Public Gaming – Exploring the Potentials of
Public User Interfaces in Pervasive Games”, Bachelorthesis,
HTW Berlin.
Denning, S. (2001). How Storytelling Ignites Action in
Knowledge-Era Organizations. Journal of Organizational
Change Management, Vol. 14, Nr. 6, S. 609-614.
Graham, C.R. (2006). Blended Learning Systems – Definition,
Current Trends, and Future Directions. In Bonk, C.J. & Graham,
C.R. (Hrsg.), The Handbook of Blended Learning: Global Perspectives, Local Designs. Hersbruck: Pfeiffer.
Herbst, D. (2008). Storytelling. Konstanz: UVK Verlag.
Howard, J. (2008). Quests – Design, Theory and History in
Games and Narratives. London: A K Peters.
Rollings, A. & Adams, E. (2003). Andrew Rollings and Ernest
Adams on Game Design. Prentice Hall Computer, S. 93.
Eine vielversprechende Möglichkeit, diese Barrieren zu umgehen, findet sich im zweiten Ansatz, dem Konzept des Public Gamings. Basierend auf Pervasive Games, einer Verschmelzung
virtueller und realer Spielewelten, werden hier
die Voraussetzungen und Anwendungsmöglichkeiten für digitale Spiele im öffentlichen Raum
beschrieben. Dazu gehören kurzweilige, leicht
verständliche Inhalte, verbunden mit intuitiver
Bedienbarkeit und möglichst expressiven Benutzerschnittstellen. Das können beispielsweise
akustische, haptische, bewegungs- oder gestengesteuerte Eingabe- und unkonventionelle, auch
für Zuschauer gut wahrnehmbare Ausgabemedien sein (Conrad 2009). Durch die niedrige
Lernkurve und die Möglichkeit zur Einbindung
præview Nr. 1 | 2011
31
Vom Entdecken des Neuen durch die „Entüblichung“ des Denkens
Dælphi – Blick in die Zukunft der Arbeitsforschung
Die Aufgabe der Arbeitsgestaltungs- und Präventionsforschung ist es, heute Konzepte zu entwickeln, um der Wirtschaft und Gesellschaft die Mittel zur Verfügung zu stellen, rechtzeitig den Entwicklungstendenzen der Zukunft zu begegnen. In dieser Kolumne werfen Experten einen Blick
nach vorn und skizzieren aktuelle Trends und zukünftige Forschungsbedarfe.
Zur Programmatik eines ästhetisch-performativen Ansatzes
in der Organisationsforschung und -gestaltung
Wolfgang Arens-Fischer, Michael Brater, Karin Denisow, Stefanie Porschen, Bernd Ruping, Wolfgang Stark, Nina Trobisch
Die in diesem Heft aufgezeigten Themen eröffnen einen ersten Blick auf ein Spektrum offener
Fragen, die mit Hilfe ästhetisch-performativer
Zugänge zur Organisation formuliert und beantwortet werden können. Dieser Blickwinkel
ist notwendig, weil eine Ökonomie und Arbeitswelt, in der ein Umgang mit Offenheit und Unplanbarkeit immer weiter in das Zentrum rückt,
andere Organisationsrahmen und Lenkungsformen erfordern, als sie in Unternehmen und
öffentlichen Einrichtungen vorzufinden oder
vorstellbar sind. Wachsende Komplexität und
Geschwindigkeit in der Veränderung des Wissens und denkbarer Strukturen können weder
durch restriktive noch durch beliebige Rahmenbedingungen sinnvoll gestaltet werden. Soll
kreative Leistungsfähigkeit gefördert sowie
Über- wie auch Unterforderung der Mitarbeiter
verhindert werden, gilt es, die Erforschung neuer Wege aus den stark vorstrukturierenden und
damit einengenden und manchmal auch widersprüchlichen Arbeitsanforderungen in der Innovationsökonomie mit Hilfe der in diesem Heft
beschriebenen neuen und unverbrauchten Zugänge weiterzuverfolgen.
Künstlerische Prozesse auf Basis wissenschaftlicher Herangehensweisen genauso wie forschende Zugänge in der Kunst gelangen gerade
in der Anwendung in Organisationen zu neuartigen Erkenntnissen und transdisziplinär begründeten Ergebnissen („Artistic Research“) jenseits linear angelegter Analysestränge, die die
Verknüpfung einer Maßnahme quasi eins zu
eins mit einer erwartbaren Wirkung verbinden.
Sie bergen hohes Potenzial für die Entdeckung
von organisationaler Veränderungsfähigkeit und
Veränderungsbedürftigkeit und damit meist mittelbar auch innovativer Prozesse. Die Anwendung künstlerischer, erfahrungsgeleiteter und
spielerischer Analyse- und Kommunikationsmethoden in organisationalen Settings lassen Innovationen durch die Entdeckung des Anderen, des
Unerwarteten, des Optionalen erwarten, das neue
Wege des Handelns in Unternehmen eröffnet.
Vor diesem Hintergrund erscheint die weitergehende Untersuchung von Improvisationsmustern oder der Funktionsweise ästhetischer Prozesse auf Innovationsarbeit im Speziellen und
auf das Arbeitshandeln im Allgemeinen zur Gestaltung der Zukunft bedeutsam. Hier schließen
sich folgende Forschungsüberlegungen an:
32
Erforschung von innovativer Arbeit
Um einer kreativen Innovationsarbeit gerecht
zu werden, bedarf es spezifischer Organisationsformen zwischen Geschlossenheit und Offenheit, zwischen Planung und Raum für Unplanbares, die helfen das kreative Arbeitsvermögen
der Menschen zu erschließen. Dadurch ergeben
sich neue Herausforderungen an die Arbeitsgestaltung – es gilt also herauszufinden, wie sich
innovative Arbeit konstituiert.
æ Durch welche spezifischen Eigenschaften
zeichnet sie sich gegenüber Produktionsarbeit, industrieller Produktion, Verwaltungsoder Dienstleistungsarbeit aus? Welche Rolle
spielt hierbei künstlerisches, erfahrungsgeleitetes und spielerisches Handeln? Wann
spricht man von Innovationsarbeit als Kernaufgabe, wie gestaltet sich Innovationsarbeit
als Randaufgabe?
Die These, dass innovative Arbeit neue Anforderungen an das Zusammenspiel von Offenheit
bzw. Freiraum und die Lenkung in Organisationen stellt, führt zunächst zu der Frage, wie die
Erkennbarkeit ihrer Veränderungsfähigkeit befördert werden kann, damit „man“ sich nicht
der Struktur und den Prozessen widerstandslos
ergibt. Zudem brauchen Mitarbeiter andere Fähigkeiten, um in neuem Ausmaß zwischen Abstraktem und Konkretem jonglieren zu können.
æ Lassen sich informelle Prozesse und der Umgang mit implizitem Wissen fördern? Wie
können die Arbeit und die Organisation dazu
entsprechend gestaltet werden?
Schließlich wirft die Leistungsbewertung bei Innovationsarbeit neue Fragen auf, da unklar ist,
was hierbei die eigentliche Leistung ist.
æ Was muss eine Bewertung von Innovationsarbeit tatsächlich berücksichtigen?
Das, was sich am und im Material zeigt, was als
seinsmächtiger Befund dem Gestaltenden entgegentritt wie die Struktur des Marmors, ohne
die Michelangelo seinem David nicht diese
Dynamik und Vitalität hätte verleihen können
– das ist, was den Horizont weitet und die Koordinatensysteme des Gewohnten aushebelt.
Die Entüblichung des Denkens und Handelns
über die Achtsamkeit für das Vorfindliche wird
so Kennzeichen einer der Kunst entlehnten Eingriffs- und Reflexionsweise für organisationale
Prozesse.
Dabei entstehen ständig neue Variationen impliziten Wissens über das Material, die zugleich
an ihm erprobt werden. Mit künstlerischem Handeln werden Ziele nicht erreicht, sondern neue
gefunden, und Regeln nicht beachtet, sondern
eigene gesetzt. Im künstlerischen Handeln werden (soziale, technische, organisatorische, politische, biografische) Dynamiken aktiv gestaltet.
æ Abgesehen davon, dass der künstlerische
Prozess selbst nicht ausreichend erforscht ist,
stellt sich die Frage, ob und wie unterschiedliche Materialien auf den Prozess zurückwirken
und ihn modifizieren bzw. das künstlerische
Subjekt als ein in seinem Grunde zutiefst soziales verändern.
Ferner sind für viele gesellschaftliche Handlungsfelder Fragen der Anwendung, Übertragung und
Ausgestaltung zu klären, etwa im Hinblick auf
konkrete Arbeitsprozesse, Organisationsentwicklungen oder die Gestaltung von Bildungsprozessen. Generell ist die Bildungswirkung
künstlerischer Prozesse weiterhin umstritten.
Schließlich sind weder die subjektgebundenen
Voraussetzungen des künstlerischen Handelns
klar noch die Formen, in denen man es erlernt,
noch seine sozialen Rahmenbedingungen.
Das künstlerische Handeln und die
Materialität des Gestaltungsprozesses
Künstlerische Prozesse haben sich längst von
klassischen Materialien und Techniken gelöst.
Sie können generalisiert als die Art aufgefasst
werden, wie mit jedem Material – vom Rhythmus einer sozialen Interaktion, vom Bild einer
situativen Konstellation bis hin zum eigensinnigen Gestus eines Mitarbeiters – umgegangen
werden kann, um die darin immanenten Möglichkeiten zu erfassen und Überraschendes, Unvorhergesehenes hervorzubringen, das zuvor
gerade nicht in der Vorstellung vorhanden war.
Die fluide Organisation –
Organisation als Improvisation
Das Wissen, wie ein soziales System funktioniert
oder wie innovative Prozesse ermöglicht werden, wird als „Practical Body of Knowledge“
meist intuitiv und implizit angewandt und kontinuierlich ergänzt – ist daher immer in Bewegung. Die Analyse und Entwicklung von Mustern
(Patterns) hat sich nicht nur zur Beschreibung
des impliziten Wissens etabliert, das sich für
Herausforderungen des Alltags in Organisationen als erfolgreich (viabel) erwiesen hat. Muster
sind auch in vielen anderen Bereichen (z. B. von
der bildenden Kunst und Musik bis zur theoretischen Physik, aber auch in Disziplinen angewandter Wissenschaft wie Architektur, Softwareentwicklung oder Pädagogik) die Grundlage der
Analyse impliziten Wissens, weil wir – wie Hirnforscher und Psychologen sagen – in Mustern
denken und handeln. Muster bilden auch jene
„Minimal Structures“, durch die das Potenzial
für improvisatorische und kreative Problemlösungen im Handeln entdeckt werden kann. Für
die Organisationsforschung gilt hier die Frage:
æ Wie kann das implizite Wissen der Muster (a)
entdeckt und entziffert, und (b) auf eine
Weise notiert werden, dass Flexibilität und
Kreativität nicht nur ermöglicht, sondern im
organisationalen Kontext geradezu herausgefordert werden?
præview Nr. 1 | 2011
Patterns in der Kunst und in Organisationen sind
Ergebnisse eines gemeinschaftlichen Prozesses,
in dem Potenziale und Lösungsstrategien verdichtet werden, die sich durch die Beschäftigung
mit dem Material sowie in den eingeübten Vorgehensweisen, Vorstellungen und Kompetenzen
der Handelnden herausgebildet haben. Auf diese
Weise verbinden sie betriebswirtschaftlich orientierte Wertschöpfungsprozesse mit Kultur,
Wissen und Performanz. Der Prozess der Mustererkennung in Organisationen dient dazu, die
Strukturen zu identifizieren und zu dokumentieren, die das Wesen einer Organisation ausmachen und ihr den je spezifischen Stempel aufdrücken.
æ Auf welche Weise können Verbindungen zwischen den Mustern gelingen? Ihre lexikalische Struktur, d.h. die Zeichen, semantischen
Relationen und Bedeutungs- und Sinnfelder
sind zu entschlüsseln. Die grammatikalischen
Regeln der Verbindung zwischen Mustern
und zwischen Mustern verschiedener Disziplinen sind zu analysieren, um diese in Organisationen im Sinne einer Mustersprache
nutzbar zu machen.
Ähnlich wie im künstlerischen Prozess, bildet die
achtsame Auseinandersetzung mit den organisationalen Befunden, dem Material und den
darin eingeschlossenen musterhaften Merkmalen die Grundlage für Variationen und Verbindungen, die – wie in der Improvisation – flexibles, kreatives Handeln und damit Innovationen
sowohl bei der (Er-)Findung als auch bei der
Umsetzung jenes „Anderen“ ermöglichen, das
in der Zweckrationalität linearen Denkens und
Agierens gar nicht erst in den Blick gerät.
33
prævokation
Die fruchtbarsten Diskussionen entstehen durch den Austausch kontroverser
Ansichten. Die Kolumne prævokation
ist ein Forum für die Formulierung von
pointierten Standpunkten abseits der
„herrschenden Meinung“.
Der Künstler als Vorbild der Arbeitsforschung?
Da ist Musik drin!
Die Arbeitsforschung ist multi-, inter-, transdisziplinär. Wir sind es gewohnt, uns
als Psychologen, Soziologen, Mediziner, Ökonomen, Ingenieure mit den Perspektiven und „Eigenarten“ der jeweils anderen wissenschaftlichen Disziplinen auseinanderzusetzen, miteinander zu arbeiten und – zunehmend erfolgreich –
gemeinsame Ergebnisse zu erzielen. Warum sind uns die Kollegen aus der Kunstund Kulturwissenschaft immer noch so fremd? Weil sie so „anders“ sind! Dabei
könnten wir viel von Künstlern, Kreativen und Kulturschaffenden lernen.
Künstlerische Arbeitsprozesse, Beschreibungssprachen und Instrumente spielen nach wie vor
in Arbeit und Wirtschaft und den entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen keine bedeutende
Rolle. Die Kunst- und Kulturbranche selbst ist
aber wirtschaftlich ungeheuer bedeutend. Sie
bewegt sich dabei nicht in einem Nischendasein
außerhalb der Marktkräfte und -dynamiken, im
Gegenteil: In Deutschland sind weitaus mehr
Erwerbspersonen in Kunst-, Kultur- und Kreativberufen tätig als in der Automobilindustrie.
Und doch arbeiten und leben viele Menschen
dort so „anders“, als wir es aus klassischer Produktion und Dienstleistung gewohnt sind. Ein
Blick auf diese „anderen“ Arbeits- und Lebensentwürfe lohnt durchaus.
Der Künstler als Berufsinnovator
Das Innovationsmanagement hat zum Ziel,
Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass
etwas irgendwie geartet Neues entsteht, intentional-zweckorientiert oder zufällig-explorativ.
In diesem Sinne ist der Künstler ein Berufsinnovator: Er strebt danach, mit jedem Kunstwerk
wieder eine Grenze auszudehnen, eine neue
Perspektive zu entdecken, ein neues Stilmittel
umzusetzen, zumindest eine neue Variation des
Vorhandenen zu erschaffen. Kunst ist Innovation per se. Wie Michael Brater in seinem Beitrag
ausführt, managet der Künstler aber die Innovation nicht, er nimmt beobachtend an Entstehungsprozessen teil und begleitet diese quasi
„helfend“, aber nicht steuernd. Die „Krise“ ist
dabei ein Teil des Innovationsprozesses.
Hier sind wir Arbeitsforscher „anders“. Wir managen, entwickeln Handlungsleitfäden, Checklisten, Instrumente und Toolboxen, die unser
Wissen über Gestaltungsprozesse kondensieren,
interindividuell nutzbar machen und das Risiko
des Scheiterns von Innovationsprozessen minimieren sollen. Da passen Versuch und Irrtum,
Begleiten statt Steuern, Geschehenlassen statt
Planen und das Akzeptieren der Krise als schöpferisches Element nicht ins Bild. Aber vielleicht
minimieren wir mit unserem „Innovationsmanagement“ nicht nur das Scheiternsrisiko, sondern auch die Chance auf Sprunginnovation.
Künstlerleben als Modell moderner
Erwerbsbiografien
Der Künstler kann aber auch als Vorbild in anderen Gestaltungsbereichen der Arbeitsforschung
dienen. Seit mehreren Jahren rückt beispielsweise die Frage der zunehmenden Diskontinuitäten
des Erwerbslebens in den Fokus des Forschungsinteresses. Was wir nun als neue Flexibilisierung,
Erosion des Normalarbeitsverhältnisses oder
postindustrielles Prekariat beschreiben, ist bei Künstlern nie
anders gewesen und macht
den Künstler geradezu aus.
Die Normalbiografie eines
Künstlers ist unstet, nichtlinear und diskontinuierlich, geprägt
von dem Suchen
und Beschreiten
von immer neuen
Wegen.
Die Bedingungen der „neuen Arbeitswelt“ nähern
sich durch Internationalisierung, Beschleunigung und Pluralismus immer mehr dem an, was
das „künstlerische Leben“ schon immer ausgemacht hat: Unsicherheit und Ungewissheit, ein
Neben- (und Mit-)einander von Selbstverwirklichung und Selbstausbeutung, Erfolg und Scheitern, Entwicklung und Krise, Flexibilität und Stabilität. Künstler gehen mit diesen Herausforderungen „professionell“ um, nicht weil sie leidensoder widerstandsfähiger sind, sondern weil sie
Handlungsmodelle und ein Skillrepertoire besitzen, um diese Diskontinuität und Unsicherheit
zu beherrschen, und sich nicht zuletzt eigene
Sicherungssysteme (wie die Künstlersozialkasse)
geschaffen haben. Hier könnten wir Modelle unmittelbar übernehmen.
Kunst als Methodenpool
Weitere Gestaltungsbereiche, in denen wir ganz
konkret von Künstlern lernen und unmittelbar
künstlerische Mittel einsetzen können, liegen
im gesamten Emotionsbereich, in dem wir mangels alternativer Methoden widersinnigerweise
immer noch mit Verbalisierung arbeiten und
damit zwangsläufig rational konstruieren. Oder
der Bereich der gesamten handlungsbasierten
und erprobenden Intervention, die bei uns nach
wie vor ihren Höhepunkt in Rollenspielen und
nachfolgender analytischer Reflexion findet.
Künstler sind nicht die amüsanten Hofnarren
der Arbeitsforschung, sondern bieten genau
dort Instrumente, Beschreibungssprachen und
Handlungskonzepte, wo wir mit unserem Methodenset nicht weiterkommen.
Und wahrscheinlich übersehe ich an dieser Stelle sogar die wichtigsten Impulspotenziale aus
der Kunst, weil ich als „traditioneller“ Arbeitsforscher schon wieder viel zu instrumentell und
zweckrational denke ...
Impressum
præview –
Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention
2. Jahrgang 2011 – ISSN 2190-0485 – Erscheinungsort Dortmund
Herausgeber: Dr. Rüdiger Klatt, Dortmund
Verantwortlicher Redakteur: Kurt-Georg Ciesinger, Dortmund
Online-Redaktion: Johannes Jahns
Lektorat: Ursula Meyer, Projektträger im Deutschen Zentrum für Luftund Raumfahrt, „Arbeitsgestaltung und Dienstleistungen“, Bonn
Druck: Druckerei Schmidt GmbH & Co. KG,
An der Wethmarheide 36, 44536 Lünen
Layout: Q3 design GbR, Blenkerweg 33, 44265 Dortmund
fon 0231. 222 35 91, Q3design@dokom.net, www.Q3design.de
Bildnachweis: Porträts: Dörte Schröder, S. 2 (Balcázar); Dagmar
Siebecke, S. 3 (Klatt) und S. 34 (Ciesinger); Mike Gallus, S. 11 (Böhle);
Josef Walter, S. 15 (Brater) und S. 17 (Wagner, Munz, Hartmann);
Yuri Arcurs/fotolia.com, S. 19 (2); Ruth Hommelsheim, S. 25 (Dell);
Florian Conrad, Martin Steinicke, Nina Trobisch, S. 29.
Bezugsadresse /Kontakt: Redaktion præview
gaus gmbh – medien bildung politikberatung
Märkische Straße 86-88, 44141 Dortmund,
fon 0231/47 73 79-30, fax -55
praeview@gaus.de, www.zeitschrift-praeview.de
Die in diesem Heft dargestellten Verbundprojekte werden aus Mitteln
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und aus dem Europäischen Sozialfonds der Europäischen Union gefördert. Die Forschungsverbünde KES-MI (FKZ 01FM08008-14), THINK (FKZ 01FM08015-6) und
MICC (FKZ 01FM08040-4) werden gefördert im Forschungsschwerpunkt
„Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements“, der Forschungsverbund KunDien (FKZ 01FB08011-7) wird gefördert im Forschungsschwerpunkt „Dienstleistungsqualität durch professionelle Arbeit“, der Forschungsverbund HELD (FKZ 01FH09159) wird gefördert im
Forschungsschwerpunkt „Balance von Flexibilität und Stabilität in einer
sich wandelnden Arbeitswelt“. Die Forschungsverbünde werden jeweils
betreut durch den Projektträger im DLR „Arbeitsgestaltung und Dienstleistungen“.
Kurt-Georg Ciesinger
Redakteur der Zeitschrift præview
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præview Nr. 1 | 2011
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