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Das „Andere“ Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention 10,- Euro | ISSN 2190-0485 Ästhetisch-performative Zugänge innovativer Organisationsund Arbeitsgestaltung Nr.1 | 2011 editorial Die Grenzen des Rationalen durch „Das Andere“ überschreiten In der Vorbereitung dieses Heftes wurde im Redaktionsteam so intensiv diskutiert wie selten zuvor. Was meinen die Autoren aus dem künstlerischen Bereich eigentlich genau, wie kann man sich das praktisch vorstellen? Was hat Ästhetik und „Spiel“ mit funktionalen Prozessen zu tun? Kann man sich in Wirtschaftsprozessen wirklich so von der unmittelbaren Zweckgebundenheit des beruflichen Handelns lösen? Diese Fragen spiegeln ein Unbehagen gewohntes, beherrschtes Terrain zu verlassen, sich auf Neues, „Anderes“ einzulassen und letztendlich – zu lernen. Wir sind am Ende zu dem Ergebnis gekommen, dass Fritz Böhle und viele andere an diesem Heft beteiligte Arbeitsforscher, Künstler, Kunst- und Kulturwissenschaftler und Praktiker es mit diesem Schwerpunktheft geschafft haben, „das Andere“ für die Organisationsund Arbeitsgestaltung zu erschließen. Damit haben sie einen wesentlichen Beitrag zur produktiven Überschreitung der Grenze des zweckrationalen Denkens geliefert, das weite Teile der Arbeits- und Organisationsforschung bis heute in unterschiedlichen Facetten prägt. Sie nehmen damit eine notwendige Neubewertung und Erweiterung bislang vorherrschender Begriffssysteme und Denkstrukturen der Arbeitsforschung vor, die jeden Leser dieser præview auch an seine eigenen Grenzen führen – Grenzüberschreitungen nicht ausgeschlossen. Unser gemeinsames Ziel mit diesem Heft war es, die uns prägenden Grenzen des Rationalen durch die Vermittlung künstlerischer und spielerischer Erfahrung zu durchbrechen – und damit auch „echte“ Interdisziplinarität zu ermöglichen. In einigen Beiträgen führt die Eigenlogik des künstlerisch-ästhetischen Umgangs mit dem profanen Alltag der Organisation auf vielleicht zunächst wenig verständliche Begriffswelten, die sich erst beim zweiten Lesen in ihrem Sinn für die gestaltungsorientierte Praxis erschließen. Eine Organisation musikalisch zu denken, das ist für einen konventionellen Arbeits- und Organisationsforscher erst einmal eine echte Herausforderung. Insofern ist diese præview auch eine Provokation unseres kategorialen, routinisierten, letztlich konsensorientierten Denkens. Es stört, rüttelt auf, kann damit selber aber auch zu einer Innovation der Arbeitsforschung werden. Wer sehen will, wie das Spielerische künstlerischen Handelns (von Michael Brater in seinem Beitrag eindrucksvoll beschrieben), das sich einer ökonomischen Verwertungslogik letztlich verweigert, zu einem auch 2 præview Nr. 1 | 2011 praktisch inspirierenden Treiber für Innovation und einem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fordernden Medium werden kann, dem sei das Interview mit Helga Weiß von der dm drogerie markt-Kette empfohlen. Es macht deutlich, was man mit ernsthafter Einbindung von Kunst z.B. in Ausbildung erreichen kann: nämlich autonomes Denken von sich selbst entdeckenden und entwickelnden Menschen anzuregen. Und dies ist nicht nur die unabdingbare Voraussetzung für Innovation – sondern vor allem für eine „funktionierende“ Gesellschaft insgesamt. Ein Experiment bleibt dieses Schwerpunktheft der præview dennoch, weil wir von unserem Anspruch, eine Zeitschrift für ein interessiertes Publikum aus Praxis und Wissenschaft zu machen, die sich der alltäglichen Praxis in den Unternehmen und ihrer Handlungslogik, ihrer Sprache stellt – und auf diesem Weg auch Wirkung entfalten will – nicht abrücken. Aber den Blick über den disziplinären „Tellerrand“ haben wir in fast allen bisherigen Ausgaben der præview eigentlich immer schon gepflegt, auch durch Einbeziehung von Wissen aus anderen gesellschaftlichen Subsystemen, etwa der Religion. Wir werden dies auch fortsetzen und zum Beispiel in den nächsten Heften Ethnologen einbeziehen, die uns Arbeitsbegriff und Arbeitsverständnis anderer Kulturen und Kontinente vorstellen sollen. Auch von Historikern erhoffen wir uns in Zukunft Anregungen, unsere eigenen disziplinären Grenzen zu überschreiten und unseren Betrachtungshorizont zu erweitern. Diese Ausgabe der præview hat ihr Ziel aber nur dann erreicht, wenn wir einen Dialog der Disziplinen initiieren. Ich möchte daher die Leser explizit ermutigen, sich mit den Autoren in Verbindung zu setzen und eine Diskussion zu beginnen! Dortmund, im März 2011 Rüdiger Klatt Herausgeber inhalt Das „Andere“ Ästhetisch-performative Zugänge innovativer Organisations- und Arbeitsgestaltung Natalia Balcázar, geboren 1966 in Valladolid (Spanien), wohnt seit 1994 in Deutschland. Seit mehr als zwanzig Jahren fotografiert sie verrostete Gegenstände, die sie z. B. auf den alten Fabrikhalden des Ruhrgebiets findet. Ihre persönliche Behandlung von Struktur- und Farbharmonien mit der Kamera trägt den Blick weit über das hinaus, was alt und wertlos zu sein scheint. Ihre Fotografien suchen die direkte Kommunikation mit den Empfindungen des Beobachters. Sie stellt schlichtweg vor, was sie findet. Natalia Balcázar ist Doktorin der Geologie und Inhaberin der European Environmental Project Management (ENVIROpro), einem Beratungsunternehmen im Bereich Umwelt, Energie und Entsorgung. www.enviro-pro.de Art Directors’ Comment Die versteckte Kunstausstellung Das Thema dieser Ausgabe der præview ist „Das Andere“. Und daher soll sie auch anders aussehen. Wir wollten nicht der sich quasi aufdrängenden Bildsprache nachgeben, die simpel und plakativ Kunst und Industrie in einem Bildmotiv zusammenführt oder gegenüberstellt. Deshalb entschieden wir uns für ein grafisches Experiment. Alle Bilder dieser præview stammen von einer Künstlerin, der spanischen Fotografin Natalia Balcázar, die seit vielen Jahren Rost als durchgängiges Motiv ihrer Arbeiten gewählt hat. Rost symbolisiert das Alte, aber auch das Ruhige, Entspannte. Wenn man den Rost entfernt, kommt etwas Glänzendes zum Vorschein. Rost ist das Symbol für die Industriegesellschaft: geprägt von Eisen und Stahl, Härte und Schwere, mittlerweile stillgelegt und ruhend. Rost ist aber nur eine dünne Schicht, unter der sich weiterhin Funktionsfähiges und Schönes verbirgt. Rost ist so verstanden Leitbild und Gegenstand der Arbeitsforschung. Natalia Balcázar hat uns für diese Ausgabe der præview exklusiv unveröffentlichte Werke zur Verfügung gestellt. Die Motive stammen aus dem Ruhrgebiet, der Hochburg der Industriekultur und der Arbeitsforschung. Wir freuen uns, so mit dieser Ausgabe der præview eine „versteckte Kunstausstellung“ als Hintergrund der Artikel verbinden zu können. Der Leser ist herzlich eingeladen, die Bildbotschaft im Kontext des einzelnen Artikels für sich persönlich zu erschließen oder aber die Ästhetik und die formale Qualität der Fotografien auf sich wirken zu lassen. Renate Lintfert und Hans Waerder, Q3 design 4 Die Grenzen des Rationalen durch Kunst überschreiten Rüdiger Klatt Das „Andere“ Ästhetisch-performative Zugänge innovativer Organisations- und Arbeitsgestaltung Fritz Böhle, Karin Denisow, Eva Renvert, Michael Brater, Wolfgang Stark 02 editorial 06 08 Ästhetische Interventionen als Medium der kritischen Reflexion und Gestaltung organisationaler Strukturen Wolfgang Arens-Fischer, Eva Renvert, Bernd Ruping 10 Innovationsarbeit und Innovationsprozess – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch Fritz Böhle, Markus Bürgermeister 12 Organisation von Innovation – Management des Informellen Eckhard Heidling, Judith Neumer, Stephanie Porschen 14 Wie Künstler vorgehen – das Konzept des künstlerischen Handelns Michael Brater 16 Dienstleistung – die Kunst Kunden zu verstehen Claudia Munz, Elisa Hartmann, Jost Wagner 18 Durch Kunst kann man lernen: Es kommt auf mich an! Gespräch mit Helga Weiß, dm drogerie markt, Bereichsverantwortliche für Aus- und Weiterbildung 20 Vom Erhandeln des Anderen Ein theatraler Einblick in Veränderungspotenziale von Organisationen Jutta Bloem, Benjamin Häring 22 Music – Innovation – Corporate Culture Die Tiefendimension von Organisationskulturen musikalisch erfassen Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Oliver Bluszcz, Gisela Humpert, Michaela Wendekamm, Michaela Margiciok 24 Organisation musikalisch denken Christopher Dell 26 Neue Horizonte für Innovationsarbeit Wie ein archetypisches Muster Innovationsprozesse strukturiert und stützt Karin Denisow, Nina Trobisch 28 Was Führungskräfte mit dem risikoreichen Weg des Helden verbindet Einblick in die Praxis Karin Denisow, Nina Trobisch 30 Digitale Spiele als innovatives Medium für Wissenstransfer und Intervention Carsten Busch, Florian Conrad, Martin Steinicke 32 Vom Entdecken des Neuen durch die „Entüblichung“ des Denkens Zur Programmatik eines ästhetisch-performativen Ansatzes in der Organisationsforschung und -gestaltung Wolfgang Arens-Fischer, Michael Brater, Karin Denisow, Stefanie Porschen, Bernd Ruping, Wolfgang Stark, Nina Trobisch 34 Der Künstler als Vorbild der Arbeitsforschung? Da ist Musik drin! Kurt-Georg Ciesinger 35 præview Nr. 1 | 2011 intærview dælphi prævokation impressum 5 Das „Andere“ Ästhetisch-performative Zugänge innovativer Organisations- und Arbeitsgestaltung Fritz Böhle, Karin Denisow, Eva Renvert, Michael Brater, Wolfgang Stark Die Planung und die Herstellung von Planbarkeit sind besondere Errungenschaften industrieller Gesellschaften. Insbesondere im Bereich industrieller Produktion wurden sie in großem Umfang realisiert. Doch trotz unbestreitbarer Erfolge zeigt sich: Auch dort, wo die Planung weit fortgeschritten ist, bleiben Grenzen der Planbarkeit bestehen und entstehen in neuer Weise. Komplexe technische Systeme und Organisationen entziehen sich der vollständigen Berechnung und Planung. Doch nicht nur dies: Bei Innovationen stößt das Bestreben zu planen nicht nur an Grenzen, sondern es beinhaltet auch die Gefahr, dass hierdurch Innovationen nicht gefördert, sondern behindert werden. Das Ergebnis und der Verlauf von Innovationen sind grundsätzlich nur begrenzt vorhersehbar. Bisher sind die Organisation und das Management von Organisationen jedoch kaum darauf vorbereitet, das Unplanbare nicht nur als Defizit zu sehen, sondern produktiv zu nutzen. Dementsprechend richtet sich auch das Management von Innovationen vor allem darauf, Innovationsprozesse weitmöglichst zu planen, zu steuern und zu kontrollieren. In gesellschaftlichen Lebensbereichen außerhalb der Ökonomie finden sich demgegenüber jedoch vielfältige Erfahrungen und Praktiken für einen „anderen“ Umgang mit Unbestimmtheit und Offenheit. Beispiele hierfür sind der Bereich des Künstlerischen und des Spiels, wie aber auch Erfahrungen, die in Entdeckungs-, Helden- und Abenteuergeschichten festgehalten sind. In modernen Gesellschaften haben sich unterschiedliche Lebensbereiche ausdifferenziert. Ökonomie, Politik, Bildung und Wissenschaft unterliegen jeweils eigenständigen Regeln und Zielsetzungen. So sind auch das Künstlerische, das Spiel oder das Erzählen von Geschichten zu eigenständigen, von der Ökonomie, Technik und Wissenschaft abgesonderten Lebensbereichen geworden. Sie haben hier die Freiheit 6 gewonnen – unabhängig vom Blick auf das unmittelbar Zweckhafte – Kreativität, Fantasie und immanente Grenzüberschreitungen zu entfalten. Gleichwohl gelten sie aber als weitgehend ökonomisch nutzlos. Solche Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen werden jedoch zunehmend brüchig und sind immer weniger haltbar. So erweist sich die traditionell dem Künstlerischen zugeordnete gestalterische Selbsttätigkeit in modernen, dezentral organisierten Unternehmen als eine unverzichtbare Humanressource. Man kann hierin eine Instrumentalisierung des Künstlerischen, Spielerischen usw. für die Systeme zweckrationalen Handelns sehen. Doch stellt sich die Frage, in welcher Weise darin nicht grundlegende Potenziale liegen, sowohl für eine Weiterentwicklung der Organisation von Unternehmen als auch einer humanen Gestaltung von Arbeit jenseits von Planung und rigider Kontrolle. In dieser Perspektive haben mehrere Forschungsverbünde in den BMBF-Förderprogrammen „Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt“ und „Innovationen mit Dienstleistungen“ neue Wege zur Förderung von Innovation, der Organisationsentwicklung und Arbeitsorganisation beschritten. Dabei sind jeweils unterschiedliche Zielsetzungen, Konzepte und Methoden leitend. Gemeinsam aber ist allen Beteiligten, dass sie auf den Anspruch verzichten, Kunst für oder in Unternehmen zu produzieren. Vielmehr geht es in allen Forschungsverbünden darum, autotelische Reflexions- und Gestaltungsweisen in die Analyse und Entfaltung von Arbeitssystemen und Unternehmenskulturen zu integrieren sowie deren Wirkung und Reichweite zu überprüfen. Qualitäten, die traditionell der Kunst, dem Spiel zugeordnet werden, sind damit nicht extrapoliert. Sie er- scheinen vielmehr nebenbei: ein Rhythmus, der sich auf die Begriffe legt, ein Gestus, in dem sich die Strukturen von Herrschaft brechen, ein Bild, das allen gegenwärtig ist und so die Wahrnehmung neu ausrichtet. Kunst wirkt hier nicht als exklusives Kulturangebot, sondern als immanenter Bestandteil der Kommunikation zwischen den Protagonisten der Projekte und denen der Unternehmen. Die Beiträge in diesem Heft geben, entlang den beteiligten Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, exemplarische Einblicke in diese Prozesse. Es sind dies: Der Forschungsverbund KES-MI (Künstlerisch, Erfahrungsgeleitet, Spielerisch – Management des Informellen zur Förderung innovativer Arbeit) geht davon aus, dass menschliche Fähigkeiten und Handlungsweisen, die zumeist dem Künstlerischen und Spielerischen zugeordnet werden, für innovative Arbeit wichtig sind. Beispielhaft hierfür sind das unbefangene SichEinlassen auf Neues, eine spürende und empfindende sinnlich-körperliche Wahrnehmung oder das Erreichen von Ergebnissen, ohne dass diese bewusst angestrebt und geplant werden. Innovative Arbeit fügt sich demnach nur begrenzt in formalisierte Strukturen ein und erfordert ein Management von Innovationen, das informelle Prozesse zulässt, unterstützt und fördert. Beispiele hierfür sind ein situativ-experimentelles Projektmanagement, Entscheidungen in laufenden Arbeitsprozessen sowie agile Entwicklungsprozesse und ein kooperativer Erfahrungstransfer. www.kes-mi.de Der Forschungsverbund MICC (Music_Innovation_Corporate Culture) nutzt Musiksprache und musikalische Muster (Improvisation) als Medium zur Analyse und Entwicklung von innovativen Organisationskulturen. Gemeinsam mit den beteiligten Unternehmen/Organisationen werden über Fallanalysen und künstlerische Zugänge (Partituren, Gesprächskonzerte) Muster sichtbarer und verdeckter Organisationskulturen in ihrer Bedeutung und Wirkung für die Organisation analysiert und verdeutlicht. Die Sprache der Musik und musikalische Muster ermöglichen dadurch eine neue Dimension der Wahrnehmung, die innovative Muster hörbar macht. Relevante und wiederkehrende Erfolgsmuster, aber auch „pathogene“ Muster lassen sich identifizieren, die die Basis für eine Mustersprache für Organisationen bieten und für die Weiterentwicklung organisationsspezifischer Organisationskulturen genutzt werden können. Die gemeinsame Entwicklung und Erprobung verschiedener Instrumente (Gesprächskonzerte, Organisationspartituren, Improvisationsmuster) ermöglicht neuartige Formen der Analyse von Organisationskulturen mit den spezifischen Dimensionen der Musik. Werden Organisationen auf diese Weise auch im zeitlichen Längsschnitt „musikalisch gedacht“, werden innovative Veränderungsprozesse und nachhaltiges Organisationslernen hinsichtlich zukünftiger Herausforderungen in Organisationen möglich. www.micc-project.org Der Forschungsverbund THINK (Theatrale Interventionen im Innovations- und Kooperationsmanagement) setzt den Schwerpunkt auf die Exploration von Kommunikation und Verhalten in Kooperationskontexten. Der zentrale Ansatz ist dabei die Theatrale Organisationsforschung (TO), die nach den Prinzipien der ästhetischen Bildung auf Schauspieltheorien und -methoden zurückgreift. Unternehmensakteure reflektieren ihre Wirklichkeit, indem sie dieselbe entweder in der Rolle des Regisseurs gestalterisch in Szene setzen oder als Spieler selbst neue Zugänge zu den Situationen und Phänomenen ihres Alltags finden. In der Reflexion der in Bild oder Szene eingefangenen Wirklichkeit zeigen sich zugleich die Möglichkeiten anderer Handlungsoptionen. Dabei liegt der Fokus nicht præview Nr. 1 | 2011 auf dem individuellen Verhalten des/der einzelnen Protagonisten/in, sondern auf dem organisationalen bzw. kooperativen Kontext, in dem sein/ihr Verhalten als notwendiges erklärbar wird. So werden die Zusammenhänge von organisationalen Strukturen und Verhaltens- und Kommunikationsweisen sichtbar und im Kontext von Prozessverläufen reflektierbar. Ziel ist, die Ergebnisse des Forschungsprojektes in einem verhaltensbasierten Managementsystem zusammenzufassen. www.forschungsprojekt-think.de Der Forschungsverbund KunDien (Dienstleistung als Kunst – Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit) geht der Frage nach, welchen Beitrag das künstlerische Handeln, also die Handlungs- und Vorgehensweise von Künstler/innen, zur Professionalisierung von Dienstleistungsarbeit leisten kann. Viele moderne Dienstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Erbringung offen-prozesshaft vonstattengeht, der Kunde direkt in die Leistungserbringung miteinbezogen werden muss und die genaue Definition der zu erbringenden Leistung erst im Leistungsprozess selbst erfolgt. Professionell zu handeln heißt vor diesem Hintergrund, mit der Offenheit dieser Dienstleistungssituation produktiv umzugehen und den Prozess situativ und dialogisch, gemeinsam mit dem Kunden zu gestalten. In KunDien arbeiten Künstler/innen, Wissenschaftler/innen und Unternehmensvertreter/innen zusammen, um gemeinsam ein Verständnis für professionelle Dienstleistungsarbeit, das die zentralen Merkmale eines „künstlerischen“ Vorgehens aufgreift, zu erarbeiten und in einem Leitbild „Dienstleistungskünstler“ zu beschreiben. Darüber hinaus werden Kompetenzentwicklungskonzepte entwickelt und umgesetzt, mit deren Hilfe Dienstleister die dafür notwendigen Handlungskompetenzen erwerben können. www.dienstleistungskunst.de Der Forschungsverbund HELD (Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip) erkundet die nachhaltige Wirkung kultureller Grundmuster für Entwicklung und Innovation. Die in den Heldenmythen über Jahrtausende verdichtete Menschheitserfahrung von Wachstum und Wandel wird als ursprüngliches Prinzip für die Bewältigung von Ungewissheit in Innovationsprozessen zugänglich. Unternehmen, Teams und Individuen können mit dieser Struktur die eigenen Entwicklungsprozesse als immer wiederkehrende Abfolge von Phasen und Schritten nachvollziehen. In offenen Prozessen erhalten die Akteure Sicherheit in der Unsicherheit. Das Projekt geht von dieser kollektiven Weisheit aus und entwickelt ein Konzept für die externe Begleitung von Organisationsentwicklung. Künstlerisch-ästhetische Methoden – Dramaturgie, darstellende Kommunikation, Story Telling, Creative Writing, bildkünstlerisches Gestalten, musikalische Impulse, Körperarbeit etc. – sind Arbeitsweisen, um das Heldenprinzip ganzheitlich zu vermitteln. Die in den kulturellen Zwischenräumen der Organisation und des Einzelnen vorhandenen Möglichkeiten werden sichtbar; es eröffnen sich neue Handlungsoptionen und Kommunikationsflächen. Im Ergebnis des Projektes ist die Wirksamkeit dieses Ansatzes geprüft und ein Interventionsmodell entwickelt. www.innovation-heldenprinzip.de 7 Ästhetische Interventionen als Medium der kritischen Reflexion und Gestaltung organisationaler Strukturen Wolfgang Arens-Fischer, Eva Renvert, Bernd Ruping Ästhetik – funktionale Einordnung in die Gestaltung innovativer Arbeit Die Suche nach Erfolg versprechenden Konzepten zur Stärkung der Innovationskraft wird intensiv betrieben. Dabei rücken die Organisationsmitglieder selbst als „eigensinnige“ Menschen zunehmend in den Fokus des Interesses. So wird personen- und körpergebundenes Erfahrungswissen und lebendiges Arbeitsvermögen immer mehr zur zentralen Ressource im Umgang mit Komplexität und Unwägbarkeiten (vgl. Böhle et al. 2004; Pfeiffer 2004). Darüber hinaus eröffnet das Erkennen der Veränderungsfähigkeit und Veränderungsbedürftigkeit organisatorischer Arbeitskontexte die Option zu Handlungsinitiative und innovativer Arbeit (vgl. Gebert 2004). Ästhetik als Erkenntnisdisziplin, die sich im Unterschied zum begrifflichen Erkennen mit Handlungen sinnlichen Erkennens befasst, stellt den Menschen als erkennendes Subjekt in den Mittelpunkt. Ihr Anliegen: die menschlichen Sinne auf Wahrnehmung hin zu öffnen. Dabei helfen ästhetische Interventionen zum einen Wahrnehmung gezielt auszurichten und zu lenken, zum anderen sie polyvalent zu entfalten, so dass sich Raum für die Reflexion und weiterführend für die Gestaltung neuer Arbeitskontexte ergibt (Arens-Fischer, Renvert & Ruping, 2010). betr.: „Nötigung zur Ästhetik“ (Theodor W. Adorno) 1 Eine ästhetische Behauptung formieren Rituale der organisationalen Kommunikation und Interaktion über künstlerische Eingriffe gegen den Strich bürsten, zuspitzen, bis zur Kenntlichkeit verfremden = sinnliche Erkenntnistätigkeit + 2 Die Arbeit des Deutens moderieren Spannung zwischen der Realität der ästhetischen Bilder (Szenen, Texte, Töne usw.) und den herrschenden Handlungs- und Denk-Konventionen verteidigen = begriffliche Übersetzungsarbeit (entlang den Widersprüchen, Brüchen und Ungereimtheiten) 3 Den „Mantle of the Experts“ neu probieren = für die Mitglieder der Organisation: die Koordinaten der betrieblichen Selbstverständnisse auf die Probe stellen = Akzentuierung der ou-topischen Dimension (das, was sein könnte) für die Theaterpädagogen: die Koordinaten der künstlerischen Selbstverständnisse auf die Probe stellen = Akzentuierung der topischen Dimension (das, was ist) Abb. 1: Der Prozess der ästhetischen Reflexion Ästhetik als Erkenntnisdisziplin – Rahmung künstlerischer Zugänge Das Ästhetische bezeichnet die durch die Sinne vermittelte Wahrnehmung und ihre Deutung, einschließlich der damit verknüpften emotiona- 8 len Bewegungen. Die Ästhetik weist den Sinnen ein Erkenntnisvermögen zu – quasi als „Schwesternkunst“ zur Logik der Vernunft. Künstlerische Zugriffsweisen werden zum Medium, auf sinnliche Weise Erkenntnisse zu generieren. Das, was sich „in Wirklichkeit“ zeigt, wird über die künstlerische Verfremdung oder Verdichtung der sensorischen Deprivation des Alltags entrissen und zu einem Ereignis, dem der Impuls anhaftet, das Gewohnte neu zu betrachten. Als Theorie der Kunst gewinnt Ästhetik hier eine erweiterte Bedeutung, indem sie insistiert auf die Begrenztheit des linear-logischen Denkens und ihm die Polyvalenz des künstlerischen Ereignisses entgegenhält, das (als Text, als Klang, als Bild, als Szene) der Vernunft des Intentionalen misstraut und auf Responsivität setzt: Was denn für wahr zu halten ist, bildet sich erst im Spannungsraum zwischen ästhetischer Behauptung und ihrer Rezeption, d.h. den Antworten aus dem Dafür- oder Dagegenhalten der Rezipienten (s. Abb. 1), nicht aber in rationaler Diskursivität oder Empirie. Das Nicht-derFall-Seiende zu denken, sei die „Nötigung zur Ästhetik“ (Adorno 1974). Betrachten wir Organisationen nach Maßgabe des Ästhetischen im weiteren Sinne, dann ist unschwer erkennbar, dass es sich dabei in aller Regel um intentional gewirkte, geschlossene Formen handelt. Darin wird, nach Maßgabe des ökonomischen Kalküls, auf Sicherheit gespielt. Das Wagnis, diese geschlossenen Formen des Gestalteten zu öffnen, wird unter dem Aspekt der Innovativität seit längerem diskutiert (vgl. Gebert et al. 2001). Dabei wird der „geschlossenen“ Struktur eine „offene“ gegenübergestellt, gleichsam als zwei Pole eines Dualismus. Deren Zweck ist zum einen die Öffnung der organisationalen Wahrnehmbarkeit, d.h. die Erschließung der Veränderungsbedürftigkeit und Veränderungsfähigkeit der Organisation durch ihre Mitglieder. Zum anderen soll die Befähigung zur Selbst-Gestaltung im Inneren der Organisation befördert werden (vgl. Boerner 1994; Gebert et al. 2001). Als dafür geeignet indiziert ist die „Balance“ zwischen offener und geschlossener Struktur. Nicht die hundertprozentige Öffnung im Sinne einer vollständigen Situationskontrolle durch den Einzelnen ist demnach für die Gestaltungskraft einer Organisation erfolgversprechend, sondern die „Vermittlung“ zwischen den Polen. Doch wie funktioniert die „Vermittlung“ im Wolfgang Arens-Fischer, Eva Renvert, Bernd Ruping Sinne einer Balance? Wie soll die Wahrnehmung der Veränderungsbedürftigkeit und die Veränderungsfähigkeit der Organisation initiiert und im betriebswirtschaftlich fruchtbaren Rahmen gehalten werden? Aus kunst-soziologischer Perspektive ist eines evident: Die intentional präformierte Ästhetik des Warenschönen dominiert als Design jede offen-experimentelle Darstellungsweise und damit auch mögliche responsive Formen der ästhetischen (Re)Präsentation: Die Marke führt, der Mensch folgt. Wir schlagen deshalb vor, die Offenheit und Geschlossenheit einer Organisation grundsätzlich dialektisch zu verstehen und sie auch in der Dimension des Ästhetischen zu fassen (Arens-Fischer, Renvert & Ruping 2010). Die Ästhetische Dimension im Spannungsfeld von Sinnvermittlung und Sinnsuche „geschlossene Formgebung“ ums auf Design oder Wieder-Erkennbarkeit, sondern mit Bezug auf die Mannigfaltigkeit der Ästhetik als Erkenntnisdisziplin, so lässt sich die ästhetische Dimension (s. Abb. 2) zwischen den Polen einer „geschlossenen“ und „offenen“ Formgebung entfalten. Auf diese Weise wird die Identität der Organisation als Handlungs- und Kommunikationssystem im ständig zu reflektierenden Spannungsfeld zwischen Sinnvermittlung und Sinnsuche geprägt. Die ästhetische Erfahrung prägt das Verhalten der Organisationsmitglieder nachhaltig. Was man sieht (hört, fühlt) korreliert derart auffallend mit den unsichtbaren Vorstellungen, dass man die entsprechenden performativen Praxen ein Bilden, Finden und Erfinden von Selbst- und Weltbildern nennen kann (Schürmann 2008). Bewusst eingesetzte Ästhetik ermutigt den Menschen zu einer Wahrnehmung von „Etwas-als-etwas-Anderes“. Dies gilt sowohl für die Makrostrukturen der Organisation, deren Bedarfe sich als Handlungs- und Verhaltensraum mit Regeln und Rollenprofilen artikulieren, als auch für die Mikrostrukturen des einzelnen Menschens, bei dem sie als Einstellung, als Haltung wirksam werden. Erklärbar sind nun sowohl die organisationalen Strukturen und Prozesse hinsichtlich ihrer Veränderungsbedürftigkeit und -fähigkeit als auch die Verhaltensweisen und -alternativen der Beteiligten selbst. So rahmt die Betrachtung einer Organisation mit ästhetischen Mitteln im selben Maße das, was darin der Fall ist, wie sie Spielräume eröffnet und Vorstellungen ermöglicht jenseits der „normativen Kraft des Faktischen“. „offene Formgebung“ Wahrnehmung, Gestaltung und Deutung durch die Sinne aisthanomai = ich nehme wahr (gr.) monovalent polyvalent zielorientiert autotelisch die Sinne ausrichtend Erfahrungsräume definierend die Sinne aufschließend Erfahrungsräume öffnend geschlossene CI (Corporate Identity) als sinnliche Bestätigung des Gewohnten (topische Qualität ~ orientierend) = sinnliche Anrufung Artistic Brand (offene CI) als sinnliche Verfremdung des Gewohnten (ou-topische Qualität ~ „Etwas fehlt.“) = sinnliche Erkundung positionierend: regulieren & entlasten fixieren & einüben glauben & beschwören = für wahr halten (Sinn als Besitz) dispositionierend: deregulieren & zutrauen auftauen & erproben zweifeln & neu-nachdenken = wahrnehmen (Sinn als Ziel) Abb. 2: Die Ästhetische Dimension im Spannungsfeld von Sinnvermittlung und Sinnsuche (Arens-Fischer, Renvert & Ruping 2010) Bedeutung und Funktion der Ästhetik zur Reflexion und Gestaltung betrieblicher Arbeitskontexte Wie selbstverständlich werden ästhetische Mittel genutzt, um eine ganzheitliche ästhetische Erfahrung im Sinne einer Corporate Identity (also einer Identität der Organisation) zu entwickeln, in der das als faktisch Wahrgenommene, dazu Imaginierte und dabei Gefühlte integriert werden kann. Geschieht dies nicht in einseitiger Verpflichtung des ästhetischen Instrumentari- præview Nr. 1 | 2011 Die Autoren Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Arens-Fischer ist Leiter des Departments für Duale Studiengänge der Hochschule Osnabrück. Prof. Dr. Bernd Ruping ist Leiter des Institutes für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück. Eva Renvert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Institutes für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück. Kontakt: e.renvert@hs-osnabrueck.de Literatur Adorno, Th. W. (1974). Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Arens-Fischer, W., Renvert, E. & Ruping, B. (2010). Zur Bedeutung der Ästhetik in der Analyse und der nachhaltigen Gestaltung betrieblicher Arbeitskontexte. Tagungsband 56, Kongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft 24. – 26. März 2010. Darmstadt. Boerner, S. (1994). Die Organisation zwischen offener und geschlossener Gesellschaft. Athen oder Sparta. Berlin: Duncker & Humblot. Böhle, F., Pfeiffer, S. & Sevsay-Tegethoff, N. (Hrsg., 2004). Die Bewältigung des Unplanbaren. Wiesbaden: VS. Gebert, D., Boerner, S. & Lanwehr, R. (2001). Innovationsförderliche Öffnungsprozesse: Je mehr desto besser? In: Die Betriebswirtschaft, 61 (2), 204 - 222. Gebert, D. (2004). Innovation durch Teamarbeit. Stuttgart: Kohlhammer. Pfeiffer, S. (2004). Arbeitsvermögen – Ein Schlüssel zur Analyse (reflexiver) Informatisierung, Wiesbaden: VS. Schürmann, E. (2008). Sehen als Praxis – Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 9 Fritz Böhle, Markus Bürgermeister Innovationsarbeit und Innovationsprozess – künstlerisch, erfahrungsgeleitet, spielerisch Fritz Böhle, Markus Bürgermeister Bestrebungen zur Förderung von Innovationen in Unternehmen richten sich zumeist auf individuelle Fähigkeiten oder die Organisation. Kaum beachtet wird dabei, dass Innovationen in Arbeitsprozessen entstehen. Die „Innovationsarbeit“ ist das Verbindungsglied zwischen individuellen Fähigkeiten einerseits und der Organisation von Innovationsprozessen andererseits. Sie ist ein bisher nicht beachteter „Missing Link“. Innovationsarbeit Arbeit ist nach dem in Wissenschaft und Praxis vorherrschenden Verständnis ein zielgerichtetes, planmäßig-rationales Handeln. Der Grundsatz „erst planen, dann ausführen“ ist jedoch bei Innovationsarbeit nicht anwendbar. Der konkrete Verlauf und das Ergebnis sind offen und unbestimmt. Dies besagt nicht, dass bei Innovationsarbeit planmäßiges Vorgehen keine Rolle spielt. Doch sieht man nur dies, werden Innovationen nicht gefördert, sondern gefährdet. Das FuE-Vorhaben KES-MI hat sich zum Ziel gesetzt Innovationsarbeit genauer zu bestimmen. Dabei wurden drei besondere Elemente herausgearbeitet: das künstlerische, das erfahrungsgeleitete und das spielerische Handeln. Das Element des künstlerischen Handelns (vgl. den Artikel von Michael Brater in diesem Heft) macht darauf aufmerksam, dass Innovationsarbeit besondere subjektive Haltungen erfordert. Neues kann weder durch Routine noch durch äußeren Zwang entstehen. Es muss vielmehr – auch dann, wenn es als „äußere Anforderung“ auftritt – zu einem „inneren Anliegen“ werden. Damit verbindet sich die grundsätzliche Offenheit für Unbekanntes und hierauf bezogene Inspirationen aus der Umwelt. Und schließlich kommt es darauf an, nicht nur Erfolge, sondern auch Misserfolge als Inspiration zu nutzen. Das Element des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns (Böhle 2009, Böhle et al. 2004) zeigt, in welcher Weise bei Innovationsarbeit das Ergebnis erst durch das praktische Handeln eruiert wird. Grundlegend hierfür 10 ist ein exploratives und dialogisch-interaktives Vorgehen. Das „Neue“ entsteht demnach durch ein schrittweises „Herantasten“, bei dem das jeweilige Ergebnis eines Arbeitsschrittes auf den weiteren Verlauf einwirkt und ihn beeinflusst. Ein Gegenstand oder ein Problem wird somit nicht einseitig „bearbeitet“; es entsteht vielmehr ein „Dialog“, bei dem die Wirkungen des eigenen Handelns gerade auch Unerwartetes und Überraschendes auslösen. Um zu erkennen, welche Wirkungen und Möglichkeiten sich aus einem Arbeitsschritt ergeben, ist eine subtile sinnliche Wahrnehmung notwendig. Es müssen „Informationen“ wahrgenommen werden, die nicht exakt und eindeutig definiert sind und die nur durch ein besonderes Gespür wahrgenommen werden können. Das „Erahnen“ einer möglichen Entwicklung spielt hier ebenso eine Rolle wie die Entwicklung von „Vorstellungen“ über bisher noch Unbekanntes. Solche Wahrnehmungen sind eng verbunden mit einem bildhaften und assoziativen Denken. Das Element des spielerischen Handelns (Böhle 2006) bezieht sich auf das empirisch oft beobachtete Phänomen, dass Neues gerade dann entsteht, wenn dies nicht bewusst angestrebt wird. Dies resultiert weniger aus dem viel zitierten Zufall, sondern aus einer – zumeist unbewussten – Umdefinition der Arbeitssituation in eine Spielsituation. Ein Merkmal des Spiels ist, dass im Unterschied zur Arbeit kein außerhalb des Spiels liegender Zweck angestrebt wird. Dieser kann sich – wie beispielsweise bei den pädagogischen Wirkungen des kindlichen Spiels – ergeben, er ist aber nicht das Ziel der Spieler. Die Abwendung von „äußeren“ Ziel- und Zwecksetzungen bei gleichzeitiger Konzentration auf den Selbstzweck spielerischen Handelns macht es möglich, Lösungswege auch ohne Erfolgsgarantie „mit allem Ernst und Sachverstand“ zu verfolgen. Damit verbindet sich das für das Spiel charakteristische Eintauchen in einen „geschützten Raum“. Und zugleich macht das Spiel darauf aufmerksam, dass Offenheit und Unbestimmtheit nicht gleichbedeutend mit Regellosigkeit sind. Regeln müssen jedoch so angelegt sein, dass Offenheit und Unbestimmtheit nicht verhindert, sondern vielmehr als Anreiz und Anstoß für selbstständiges Handeln wirksam werden. Innovationsarbeit ist in Forschung und Entwicklung der Kern der Arbeit. Bei einem breiten Verständnis von Innovation ist Innovationsarbeit aber auch ein Element aller Arbeitsbereiche. Innovationsarbeit gibt eine Antwort auf die Frage, „wie“ bei Innovationen gearbeitet wird. Die hierzu komplementäre Seite ist der Innovationsprozess. Er beschreibt, „was“ bei Innovationen geschieht. Innovationsprozess Im Rahmen des betriebswirtschaftlich und ingenieurmäßig ausgerichteten Innovationsmanagements werden vier Phasen von Innovationsprozessen unterschieden: Ursprungsidee, Forschung und Entwicklung, Einbringung in den Markt, Durchsetzung im Markt. Der Innovationsprozess verläuft demnach in klar definierten, abgrenzbaren Phasen, auf die sich jeweils unterschiedliche Instrumente der Planung, Steuerung und Kontrolle beziehen können. Richtet man demgegenüber den Blick auf Grenzen der Planung und betrachtet diese als substanzielles Element und Potenzial von Innovationsprozessen, ist eine solche Phasenaufteilung unzureichend. Erweiterungen sind für die Phasen Ursprungsidee sowie Forschung und Entwicklung notwendig. Die Impulse für Innovationen KES-Innovationsarbeit – Handlungsdimensionen können sich aus konkreten praktischen Problemstellungen Künstlerisch Erfahrungsgeleitet Spielerisch oder Visionen über zukünftige Subjektive Haltung Aktion Situationsdefinition Entwicklungen ergeben. Die Ideenfindung erfordert in beiOffenheit für Unbekanntes Explorativ-entdeckendes Absichtslose ZweckerVorgehen als schöpferischer reichung („Eintauchen“) („Möglichkeitssinn“, den Fällen jeweils unterschiedProzess Inspiration im Prozess) liche Vorgehensweisen und „Kreatives Scheitern“ und Sinnliche Wahrnehmung Emotional involviert in Ressourcen. Zugleich ist sie und Imagination des Ver„Kreative Zerstörung“ geschütztem Raum aber nur ein Teilaspekt. Ebenso wendungszusammenhangs wichtig ist die Sammlung, BeErahnen (Gespür) der imma- Offen und ungewiss Inneres Anliegen, urteilung und letztlich Ausnenten Entwicklungslogik persönlicher Ausdruck innerhalb von Regeln wahl der Ideen, die aufgegriffen und weiterverfolgt werden. KES-Innovationsarbeit – Handlungsdimensionen præview Nr. 1 | 2011 Dies kann zu Beginn eines Innovationsprozesses stattfinden oder auch erst in dessen Verlauf folgen. So können aufgrund nicht vorhersehbarer praktischer Erfahrungen Entscheidungen revidiert werden, oder endgültige Entscheidungen können bewusst offen gehalten und vom praktischen Verlauf des Innovationsprozesses abhängig gemacht werden. An die Stelle eines linearen, phasenhaften Ablaufs treten damit rekursive und parallel verlaufende Prozesse. Im Besonderen betrifft dies auch das Verhältnis zwischen Forschung und Entwicklung. Im Phasenmodell beinhaltet die Entwicklung die praktische Umsetzung von Forschungsergebnissen (z. B. Prototyp). In der Praxis enthält die Entwicklung jedoch ein eigenständiges Innovationspotenzial. Neue Problem- und Fragestellungen können auftauchen und zu eigenständigen Lösungswegen sowie neuen Anforderungen an die Forschung führen. Aus dieser skizzenhaften Betrachtung von Innovationsprozessen lassen sich unterschiedliche Typen von Innovationsarbeit ableiten. Sie können sich auf den Innovationsprozess insgesamt oder nur auf einzelne Elemente wie beispielsweise Forschung oder Entwicklung beziehen. Die Autoren Prof. Dr. Fritz Böhle leitet den Bereich Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg. Dr. Markus Bürgermeister ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg. Kontakt: markus.buergermeister@ phil.uni-augsburg.de Literatur Böhle, F. (2009). Weder rationale Reflexion noch präreflexive Praktik. Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln. In Böhle, F. & Weihrich, M. (Hrsg.): Handeln unter Unsicherheit (S. 203-230). Wiesbaden: VS. Böhle, F. (2006). High-Tech-Gespür. Spiel und Risiko in der erfahrungsgeleiteten Anlagensteuerung. In Gebauer, G., Poser, S., Schmidt, R. & Stern, M. (Hrsg.): Kalkuliertes Risiko. Technik, Spiel und Sport an der Grenze (S. 249-267). Frankfurt a.M.: Campus. Böhle, F., Pfeiffer, S. & Sevsay-Tegethoff, N. (2004). Die Bewältigung des Unplanbaren. Fachübergreifendes erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen. Wiesbaden: VS. 11 Organisation von Innovation – Management des Informellen Eckhard Heidling, Judith Neumer, Stephanie Porschen Künstlerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit kann sich in Innovationsprozessen nur dann produktiv entfalten, wenn die Formalisierung von Abläufen und Prozessen begrenzt wird. Notwendig ist ein Management des Informellen. Im Projekt KES-MI wurden hierzu unterschiedliche Gestaltungsansätze entwickelt. Eckhard Heidling, Judith Neumer, Stephanie Porschen Situativ-experimentelles Projektmanagement Innovationsprozesse werden heute überwiegend projektförmig gestaltet, organisiert und umgesetzt. Projekte mit hohem Innovationsgrad haben besondere Merkmale: æ Es wird zwar ein zeitlicher Horizont fixiert, die genaue Terminierung wird jedoch zwischen den Projektpartnern abhängig vom Verlauf der einzelnen Projektphasen ausgehandelt. æ Die Art des Vorgehens ist häufig unscharf und entsprechend wenig planbar. æ Die Art der Steuerung muss ein hohes Maß an flexiblen Umorientierungen erlauben, um unterschiedliche und bei Projektbeginn kaum vorhersehbare Wege zum Innovationsziel offen zu halten. æ Die Zielbestimmung gibt statt eines vorab klar umrissenen Ergebnisses einen Rahmen vor, dessen Präzisierung im Projektverlauf erfolgt. Der Erfolg industrieller Innovationsprojekte hängt entscheidend davon ab, die Potenziale offener und unbestimmter Situationen und Prozesse zu nutzen und damit künstlerische, erfahrungsgeleitete und spielerische Innovationsarbeit zu fördern. Ein situativ-experimentelles Projektmanagement ist hierauf eine Antwort. In den Mittelpunkt rückt die offene Planung. Sie gibt einen Rahmen vor, der durch das konkrete Handeln der am Projekt beteiligten Akteure ausgefüllt wird. Ein wichtiges Prinzip ist, keine Denkverbote aufzustellen. Dies führt dazu, dass der Innovationsprozess nicht durch Pfadvorgaben begrenzt ist und methodisch bisher nicht bekannte Wege beschritten werden können. Misserfolge werden von Seiten des Managements nicht mit Schuldzuweisungen gegenüber den Beschäftigten verbunden, sondern explizit als Erkenntnisgewinn verbucht. Ein wichtiges Element der Projektsteuerung ist, Austauschprozesse zwischen den beteiligten Akteuren zu organisieren, in denen die Überzeugungskraft von Argumenten statt der hierarchischen Stellung über die jeweils nächsten Schritte im Projektverlauf entscheidet. Dabei sind Räume und Gelegenheiten für einen informellen Austausch über die jeweiligen Problem- und Fragestellun- 12 gen häufig sehr viel wichtiger als offizielle Sitzungen. Darüber hinaus besteht eine zentrale Aufgabe für das Projektmanagement darin, offene Strukturen zu schaffen. Dies bedeutet etwa, Teilaufgaben für Mitarbeiter zu definieren und in einem bestimmten Rahmen zeitliche und inhaltliche Freiräume zu geben. Der Verzicht auf explizite Vorgaben (Zielhierarchien, Messbarkeit aller Projektschritte u.a.) fördert die Begeisterung der Beschäftigten, Ideen zu entwickeln. Solche Prozesse sind weniger durch leitende und stärker durch moderierende Aufgabenstellungen des Projektmanagements geprägt. Agile Entwicklungsprozesse und kooperativer Erfahrungstransfer Mit den inzwischen weit verbreiteten agilen Entwicklungsprozessen sollen Kreativität, Selbstverantwortung und Freude am Arbeitsplatz gefördert werden. Für erfolgreiche Innovationsprojekte sind darüber hinaus geeignete Rahmenbedingungen für den Austausch von Erfahrungswissen erforderlich, das in weiten Teilen impliziten Charakter aufweist. Dies kann mit einer in laufende Prozesse eingebetteten Form der erfahrungsgeleiteten Kommunikation, dem sog. kooperativen Erfahrungstransfer, ermöglicht werden. Die Führung, Anleitung und Begleitung von all dem ist mehr mit Jonglieren denn Kontrollieren verbunden. Es geht um Fingerspitzengefühl für Unterstützungsbedarf und sinnvollen Freiraum für die Beteiligten, aber auch dessen Grenzen. Der Raum in den hier untersuchten Fällen besteht aus Gelegenheitsstrukturen, die mit einigen Instrumenten für agile Entwicklungsprozesse gefüllt sind: Auftakttreffen zu Beginn einer Entwicklung ebenso wie tägliche kurze Abstimmungsrunden (Stand-up-Meetings) während der Entwicklungszeit sind die ersten Ankerpunkte für beständige Kommunikation, bei der Teilnehmerkreis und Dauer abgewogen werden. Weitere Kommunikationsankerpunkte sind die Reflexionsrunden technischer Natur in Review Meetings nach jedem Entwicklungsabschnitt oder Retrospective Meetings am Ende eines Projektes zur Entwicklungsdynamik insgesamt. Die Abschätzungen, die im Laufe des præview Nr. 1 | 2011 Entwicklungsvorhabens notwendig sind, werden beispielsweise mit Estimation Poker spielerisch ermittelt. Die an einer Entwicklungsaufgabe beteiligten Mitarbeiter geben auf den Karten Einschätzungen zu ihrem persönlichen Arbeitsaufwand. Das „Kartenlegen“ dient zur Einschätzung über den Aufwand des Gesamtprojektes und zudem als Stimulus für den Wissensaustausch. Für den Wissensaustausch ist ferner ein Kooperationsmodell wie die Paarprogrammierung sehr hilfreich: Hier sitzen zwei Entwickler gleichberechtigt an einem Rechner und arbeiten gemeinsam an einer Aufgabe. Dadurch werden ein Lernen beim gemeinsamen Tun und die aktive Verschränkung der Wissenswelten mit einem konkreten Bezug auf das Arbeitsergebnis – also ein kooperativer Erfahrungstransfer – möglich. Ausbaufähig sind diese Ansätze durch weitere personalpolitische und arbeitsbezogene Kooperationsmodelle wie z. B. das Tandemmodell: Hier werden die Wissenswelten je eines Mitarbeiters aus dem Soft- und dem Hardwarebereich miteinander verbunden. Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozess Entscheidungen im Innovationsprozess sind immer mit Unsicherheit behaftet. Diese kann dadurch bewältigt werden, dass Entscheidungen „handelnd“ im laufenden Arbeitsprozess getroffen werden. Vor allem bei inkrementellen Produktinnovationen, Veränderungen im Fertigungsprozess oder Arbeitsprozessoptimierungen fallen Entscheidungen oft vor Ort in der Fertigung und im Produktionsprozess, nicht in davon abgetrennten Bereichen (wie etwa in der Entwicklung oder in Planungsmeetings). So kommen beispielsweise Fertigungsmitarbeiter durch konkretes Ausprobieren auf Ideen, die einem Ingenieur am Bildschirm nicht zugänglich sind. Die Entscheidung für oder gegen eine Veränderung fällt in der direkten Auseinandersetzung mit dem Material und der Zusammensetzung der einzelnen Produktkomponenten. In der Zusammenarbeit von technischem Büro und Fertigung wird nicht immer „nur“ zuerst geplant und dann die Praxis verändert, auch das Gegenteil ist der Fall: Die technischen Zeichner kommen in die Fertigung und profitieren von der praktischen Expertise der dortigen Mitarbeiter – man begibt sich gemeinsam auf die Suche nach neuen Möglichkeiten am Produkt und die planerische Zeichnung richtet sich nach der praktischen Umsetzung, nicht umgekehrt. Entscheiden im laufenden Arbeitsprozess spielt sich vor allem im nicht-formalisierten oder nicht-formalisierbaren Bereich ab und setzt ein spezifisches Management des Informellen voraus. Die Aufgabe des Managements ist es zum einen, arbeitsorganisatorische Voraussetzungen für Entscheidungen im laufenden Arbeitsprozess zu schaffen: durch die Förderung und die tatsächliche Delegation von Entscheidungskompetenzen, durch die organisatorische Verankerung von Gelegenheitsstrukturen für informelle Kooperation und direkte Interaktion über Abteilungsgrenzen hinweg, durch das Einrichten von „Zonen der Ungestörtheit“ und angemessenen Zeitkontingenten für die Suche nach alternativen Ideen. Zum anderen ist es die Aufgabe des Managements, Entscheidungen im laufenden Prozess zu legitimieren. Wesentlich dafür sind das aktive Aufgreifen der praktisch gefundenen Lösungswege, die Wertschätzung informeller Kooperation und Kommunikation und das Vertrauen in das Erfahrungswissen der Mitarbeiter. Die Autoren Dr. Eckhard Heidling ist Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF München). Judith Neumer und Dr. Stephanie Porschen sind Wissenschaftlerinnen am ISF München. Kontakt: stephanie.porschen@isf-muenchen.de Literatur Böhle, F., Bolte, A., Bürgermeister, M., Heidling, E., Neumer, J. & Porschen, S. (2010). Mitarbeiter als Manager des Informellen. In Jacobsen, H. & Schallock, B. (Hrsg.): Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements (S. 378-388). Stuttgart: Fraunhofer Verlag. 13 Wie Künstler vorgehen Das Konzept des künstlerischen Handelns Michael Brater „Kreative“ Mitarbeiter zu haben, ist heute für jedes Unternehmen ein wichtiger Erfolgsfaktor; unter den Bedingungen der „Wissensökonomie“ angeblich sogar der entscheidende, denn hier verschaffen allein die Mitarbeiter mit ihrem Können, ihrer Motivation und ihrer „Kreativität“ dem Unternehmen die entscheidenden Wettbewerbsvorteile (Gorz 2004). „Kreativ“ nennt man jemanden, der einfallsreich ist, neue Ideen hat, auf originelle Gedanken kommt, der Ungewöhnliches, Innovatives tun und denken kann, und man scheint sich stillschweigend einig zu sein, dass es sich dabei um eine persönliche Eigenschaft handelt, die jemand (mehr oder weniger stark) hat oder eben nicht hat. Im Rahmen des Projektes „Dienstleistung als Kunst“ hatten wir Gelegenheit, Menschen zu interviewen, die zweifellos zu den ganz besonders „Kreativen“ gehören, nämlich professionelle Künstler verschiedenster Kunstrichtungen. Wir wollten von ihnen wissen, wie sie vorgehen, wenn sie ein Kunstwerk erschaffen (oder inszenieren oder aufführen usw.). Wir wollten herausfinden, ob es so etwas wie ein charakteristisches „künstlerisches Vorgehen“ gibt, eine „künstlerische“ Weise des Handelns, die zu „kreativen“ Ergebnissen führt, also zu etwas nie Dagewesenem, zu Kunstwerken eben. Diese Frage löste bei vielen Künstlern erst einmal Unbehagen aus. Denn natürlich hat jeder seinen persönlichen Stil, seinen ganz eigenen Weg, und den pflegt er auch als Unterscheidungsmerkmal zu seinen Kollegen. Und in der Tat, es ist schwer, sich vorzustellen, dass sich im blutrünstigen Vorgehen etwa von Matthew Barney und der subtilen Landart von Andy Goldsworthy Gemeinsamkeiten finden lassen. Zwar nennen sich beide Künstler und bringen auch nach allgemeiner Überzeugung „Kunst“ hervor, aber dafür gibt es in der Gegenwart gerade keine übergreifenden Kriterien, Regeln oder Anforderungen. In klarer Abgrenzung zur kunsthistorischen Fragerichtung interessierte uns nun gerade nicht, was Barney zu Barney macht, also das Individuelle und Besondere seines Stils „im Unterschied“ zu dem von Goldsworthy. Sondern wir wollten umgekehrt wissen, ob sich hinter diesen offenkundigen und augenfälligen Verschiedenheiten so etwas wie ein gemeinsames Muster des „künstlerischen Handelns“ jenseits des Vorgehens einzelner Künstler identifizieren lässt. Wir führten zwölf explorative Interviews, die wir nach den methodischen Schritten der „Grounded Theory“ analysierten, immer orientiert an der Frage: Lassen sich in der offenkundigen Verschiedenheit übergreifende Strukturen des Handelns finden? Hier zusammengefasst die wichtigsten Ergebnisse: æ Wenn Künstler beginnen, wissen sie nicht, was dabei herauskommen wird. Sie haben keine klare Vorstellung vom Ergebnis und keinen fertigen Plan. Sie lassen sich auf eine offene, unbestimmte Situation ein und kennen weder das Ziel noch den Weg. Und sollten sie doch eine Vorstellung haben, kann sie sich noch vielfach ändern, bleibt sie offen für Überraschungen. Der Maler Gerhard Richter sagt das so: „Ich (...) möchte am Ende ein Bild erhalten, das ich gar nicht geplant hatte (...) 14 ich möchte ja gern etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann“. æ Aber dennoch bringen Künstler in ihre Arbeit ein persönliches Interesse, eigene Fragen und Motive, eigene Ideen ein. Die sind allerdings nicht klar umrissen, eher eine Stimmung, eine Ahnung im Unbekannten. Es kann auch sein, dass äußere Anlässe oder das Material die Aufmerksamkeit oder das Interesse wecken. Jedenfalls sind Künstler immer persönlich beteiligt. æ Eine Möglichkeit, ohne klares Ziel, ohne eindeutige Orientierung vorzugehen ist: zu spielen. Manche Künstler probieren im Material etwas ohne Absicht aus und beobachten, was passiert. Sie machen etwas damit, betrachten es, verfolgen, was sich ändert, und lernen so ihr Material gründlich kennen. Das Vorgehen bleibt dabei offen und unbestimmt, es kann jederzeit noch alles anders werden. æ Dazu gehört der ständige, konsequente Wechsel von Tun und Wahrnehmen der Folgen dieses Tuns. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten, aus ihnen wiederum neue Fragen und ein neuer Eingriff ins Material. Dieser Prozess hat immer noch kein Ziel, aber er trägt sich gewissermaßen selbst, wie ein Forschungsprozess, bei dem sich aus jeder Antwort immer wieder neue Fragen und Möglichkeiten ergeben. Es entfaltet sich ein Dialog zwischen dem Künstler und seinem Material. Das Material arbeitet mit. æ Die Wahrnehmung ist nicht nur „objektbezogen“, sondern sie ist erweitert um die Dimension emotionaler und Stimmungs-Qualitäten, um das „Spüren“, um die Wahrnehmung von „Ausdruck“, von „Atmosphäre“ (Böhme 2001). æ Aus dieser offenen, spielerischen Auseinandersetzung mit dem Material, aus dem wachen, aufmerksam gespannten „Herumprobieren“ kann – meist plötzlich – dem Künstler etwas entgegenkommen, das sein Interesse weckt, das ihn fasziniert, „anspringt“, an dem er dranbleiben will, dem er zumindest ein Stück weit folgt. Damit hat sich aus dem offenen Prozess eine Art Ziel, zumindest eine Spur, eine Intention ergeben, die jetzt das weitere Vorgehen leitet und strukturiert. æ Dieser Augenblick kann eintreten, muss aber nicht. Er lässt sich nicht herbeizwingen. Kommt er nicht, kann der Künstler in eine Krise rutschen. Die Krise gehört zum Künstlersein offenbar dazu. Sie kann auch eintreten, wenn man glaubt, jenen Augenblick der Faszination erlebt zu haben – um einige (mitunter längere) Zeit später zu bemerken, „dass es das nicht war“: Die gefundene Idee trägt nicht, wird langweilig, schal. Oder es ist Krise, weil man nicht mehr weiter weiß, sich tot fühlt. Manche meinen auch: Die Krise kommt, weil sie merken, dass sie einer Idee nachgelaufen sind, die mit ihrem ursprünglichen Motiv bei genauerem Hinsehen gar nichts zu tun hat. præview Nr. 1 | 2011 æ Die Krise kann länger dauern oder kürzer. Zu ihrer Überwindung gibt es kein Rezept. Der Künstler leidet. Aber er weiß: Wenn er aufgibt, kann er die Krise nie lösen. Also macht er weiter. Manchmal kommen ihm Zufälle zu Hilfe. Jedenfalls muss er es schaffen, sein angefangenes Werk mit ganz anderen, völlig neuen Augen zu sehen. Er muss mit dem Suchen aufhören und sich für das Finden öffnen (Picasso). æ Von Spielen kann nun keine Rede mehr sein. Kunst ist jetzt die Arbeit, die Fülle des Wahrgenommenen zu sichten, zu verdichten, sich zu entscheiden und immer wieder dialogischexplorativ wahrzunehmen, was sich zeigt. æ Dabei kann – wiederum nicht: muss – das Material transparent, zum „Bild“ werden für einen ideellen Zusammenhang, es kann über sich hinausweisen auf etwas, das dem Künstler wichtig ist, das er selbst daran vielleicht entdeckt. Manchmal bemerkt er, dass das, was entstanden ist, mit seinen ursprünglichen Fragen und Motiven im Zusammenhang steht. Vielleicht betrachtet er aber sein „Werk“ auch nur und stellt fest, dass es so „stimmt“, dass es fertig ist. Dieses künstlerische Handlungsmuster als Weg zum Neuen und Originellen zeigt, dass Kreativität keine persönliche Eigenschaft, keine Frage des individuellen Einfallsreichtums ist, sondern dass es durchaus so etwas wie ein Muster kreativen Handelns gibt. Dazu muss man sich auf offene, unbestimmte Situationen einlassen und sie aushalten, weil man nur so das überwinden kann, was es schon gibt. Die Lösung liegt nicht in dem, was man sich ausdenkt, sondern in dem, was im (spielerischen) Handeln am Material wahrgenommen werden kann, wenn man sich dem Unbestimmten, Ungewissen aussetzt, Krisen aushält und so lange ohne willkürliche Vorstellungen wartet, bis „das Material spricht“. Dann aber muss man zuhören. Das künstlerische Handlungsmuster kann nicht nur erhellen, wie Mitarbeiter „kreativ“ und „innovativ“ handeln können. Es zeigt auch, wie man unter Unsicherheit und Ungewissheit – Kennzeichen postmoderner Gesellschaften – handlungsfähig bleiben kann. Wie es möglich ist, offene Situationen zu bewältigen und sich auf den Wandel einzulassen. Kunst ist die Arbeit, die Fülle des Wahrgenommenen zu sichten, zu verdichten, sich zu entscheiden und immer wieder dialogisch-explorativ wahrzunehmen, was sich zeigt. Der Autor Prof. Dr. Michael Brater leitet das Institut Kunst im Dialog an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Kontakt: michael.brater@alanus.edu Literatur Böhme, G. (2001). Aisthetik. München: Wilhelm Fink. Gorz, A. (2004). Wissen, Wert und Kapital. Zürich: Rotpunktverlag. 15 Claudia Munz, Elisa Hartmann, Jost Wagner Dienstleistung – die Kunst Kunden zu verstehen Claudia Munz, Elisa Hartmann, Jost Wagner Eine unentschlossene Kundin kommt in ein Reisebüro und möchte „irgendwo ans Meer“ reisen. Bisher wurden ihr bei ähnlichen Anfragen üblicherweise nach einigen Fragen zu den Rahmenbedingungen erste Vorschläge zur Entscheidung vorgelegt. Im aktuellen Fall aber ist es anders: Sie kann gar nicht genau sagen, woran es liegt, dass sie sich diesmal „atmosphärisch“ besser verstanden und aufgehoben fühlt. Einige Spuren werden ihr aber deutlich. So macht ihr der Dienstleister des Reisebüros erst einmal gar keine Vorschläge. Er versucht stattdessen, im ausführlichen Gespräch mit ihr genau zu verstehen, worum es ihr geht, welche Vorlieben sie hat, welche guten bzw. schlechten Erfahrungen sie mit früheren Reisen gemacht hat, welchen Bezug sie zu unterschiedlichen Reisezielen hat. Kurz, er versucht gemeinsam mit ihr ihrem Anliegen genauer auf die Spur zu kommen und ein Bild davon zu entwickeln, welchen „Sinn“ der Urlaub über den Erholungseffekt hinaus für sie hat. Außerdem wird ihm in diesem Prozess deutlich, wie die Kundin „tickt“. Natürlich klärt er auch die Rahmenbedingungen der Reise. Außerdem setzt er Signale, die der Kundin das Gefühl geben, auf gleicher Augenhöhe mit ihm zu kommunizieren. So dreht er beispielsweise den Monitor seines PCs so, dass er gemeinsam mit der Kundin darauf schauen kann. Er gibt ferner der Kundin zu verstehen, dass es ihm nicht auf einen schnellen Abschluss ankommt, sondern 16 darauf, die Kundin wirklich zufriedenzustellen. Nachdem sich im ersten Anlauf noch keine überzeugende Lösung zeigt, schlägt er vor, die Kundin solle die Sache noch einmal überschlafen, zu Hause im Internet selbst ein wenig „herumspielen“ und darauf achten, was ihr dabei gefällt, welche Richtungen für sie denkbar sind. Beim nächsten Besuch haben sich die Wünsche der Kundin konkretisiert. Sie selbst schlägt vor, doch mal der Idee „Mallorca“ näherzutreten. Der Dienstleister erwidert, daran habe er auch schon gedacht, sei sich aber nicht sicher gewesen, ob die Kundin dagegen Vorbehalte habe. Nun prüfen beide diese Idee und gestalten sie dann gemeinsam aus; der Dienstleister bringt dabei anschaulich seine eigenen Erfahrungen mit verschiedenen Hotels ein, spiegelt der Kundin, wie er ihr Anliegen verstanden hat und wie er sie und ihre Vorlieben einschätzt. Am Ende finden beide gemeinsam eine die Kundin überzeugende Lösung. Betrachtet man dieses Beispiel eines Dienstleistungsprozesses nur vom Ergebnis her, ist es unspektakulär und konventionell. Die entscheidende „andere“ Qualität liegt hier in der Prozessund Beziehungsqualität, die durch eine bestimmte Haltung, Vorgehensweise und „handwerklichtechnische“ Umsetzung des Dienstleisters möglich wird und die wir – in Anlehnung an das Vorgehen von Künstlern – „Dienstleistung als Kunst“ nennen. Bei diesem Ansatz, der im Verbundpro- jekt „Dienstleistung als Kunst – Wege zu innovativer und professioneller Dienstleistungsarbeit (KunDien)“ sowohl theoretisch wie praktisch entwickelt wird, handelt es sich um eine radikal individualisierende Vorgehensweise, die sich auf einen offenen Prozess mit dem Kunden einlässt, um dadurch eine nur für genau diesen Kunden passende Lösung zu finden. Dies birgt einerseits große Chancen, die Dienstleistungsqualität zu steigern und die weit verbreitete Kundensehnsucht nach wirklichem Wahr- und Ernstgenommenwerden zu erfüllen. Andererseits ist uns bewusst, dass es durchaus Kundenanliegen gibt, die mit stärker standardisierbaren Lösungen befriedigt werden können. Wie Dienstleistungsarbeit genau zu definieren ist und worin ihre Besonderheiten gegenüber der klassischen Produktionsarbeit liegen, lässt sich aufgrund der Vielfältigkeit von Dienstleistungen nur schwer auf einer allgemeinen Ebene beantworten. Wir sprechen daher vom „Dienstleistungscharakter“ von Arbeit und gehen dabei vom Modell eines Kontinuums aus: Der Dienstleistungscharakter von Arbeit steigt, je weniger das Ergebnis der Leistung vorab zu definieren ist, je offen prozesshafter die Leistungserbringung vonstattengeht und je mehr das Gelingen der Dienstleistung auf das aktive Mitwirken des Kunden angewiesen ist. Je „dienstleistungshafter“ sich also eine Kundensituation darstellt, desto „künstlerischer“ müssen Dienstleister vorgehen können. In erster Linie ist dabei die veränderte künstlerische Haltung der Dienstleister entscheidend. æ Sie haben den Mut, sich auf Ungewissheit einzulassen und die Überzeugung, dass der Dienstleistungsprozess als offener Prozess anzulegen ist, der nur gemeinsam mit dem Kunden gelingt. æ Sie handeln aus der Gewissheit, dass es nicht in erster Linie darum geht, schnelle Lösungen zu suchen, sondern das Kundenanliegen optimal so zu klären, dass sich die angemessene Lösung „zeigt“. æ Sie verzichten auf einen exklusiven Expertenstatus. æ Sie vertreten einen eigenen Qualitätsanspruch und verstehen sich nicht als Experten für die Ausführung von Kundenwünschen, sondern als Partner eines „Arbeitsbündnisses“ mit dem Kunden. æ Sie sind davon überzeugt, dass eine langfristige Kundenbindung Vorrang vor kurzfristigen ökonomischen Interessen hat. „Dienstleistungskünstler“ wenden darüber hinaus eine spezifische künstlerische Vorgehensweise an. æ Sie sichern die Bereitschaft und Fähigkeit ihrer Kunden zur gleichberechtigten Mitwirkung im Dienstleistungsprozess bzw. stellen diese ggfs. durch „Professionalisierung“ der Kunden her. æ Sie achten auf den „Gesamt-Ausdruck“ ihrer Kunden, d.h. sie nehmen mehr als nur deren verbale Botschaften wahr, sie vollziehen spürend mit, was sich bei den Kunden zeigt. præview Nr. 1 | 2011 æ Sie halten den gemeinsamen Entwicklungs- æ Die Art der Kundenanfrage muss so beschaf- prozess in Bewegung – sie sind Experten der Prozess- und Beziehungsgestaltung. æ Sie sind „Atmosphärengestalter“ und sorgen für ein partnerschaftliches, vertrauenschaffendes Klima. æ Sie vermeiden vorschnelle Schlussfolgerungen und Lösungsangebote und halten den Prozess so lange wie nötig offen. æ Sie setzen Impulse und nehmen die Reaktion ihrer Kunden darauf genau wahr. æ Sie greifen geistesgegenwärtig sich im Prozess zeigende Impulse auf. æ Sie lassen „Krisen“ im Prozess zu und befragen diese auf ihren produktiven Beitrag. fen sein – oder so geöffnet werden –, dass sie tatsächlich einen offenen Prozess und Interpretations- und Handlungsspielräume erlaubt. Damit ihnen dies gelingt, verfügen „Dienstleistungskünstler“ über Techniken nondirektiver Prozesssteuerung, umfassende Wahrnehmungsfähigkeiten, Techniken der Gesprächsführung, sie sprechen die Sprache der Kunden, können ihnen Lösungsvarianten anschaulich darstellen, wissen, wie sie den Kunden den gesamten Prozess transparent machen und sie können konstruktiv mit (Interessens-)Konflikten umgehen. Für die Realisierung einer derartigen „künstlerischen“ Dienstleistungsarbeit sind drei Bedingungen unerlässlich: æ Die souveräne Beherrschung der fachspezifischen Seite muss selbstverständliche Basis sein – erst wer sich sicher fühlt, kann frei handeln. æ Die Rahmenbedingungen – sowohl von Seiten des Dienstleistungsunternehmens wie des Kunden – müssen Offenheit ermöglichen. Dies aber bedeutet in der Konsequenz eine gewaltige Veränderung der bisher vorherrschenden Art von Dienstleistungsarbeit: Eine rigide kurzfristig-ökonomische Ausrichtung mit z. B. betrieblichen Umsatzvorgaben sowie zu geringe Verantwortungsspielräume der Dienstleistenden konterkarieren das Ziel künstlerischer Dienstleistung. Diese jedoch hilft gerade den langfristigen ökonomischen Erfolg zu sichern, weil eine dauerhafte Kundenbindung erreicht wird und die Weiterempfehlung durch zufriedene Kunden die beste Werbestrategie darstellt. Dafür lohnt es sich, für den Erwerb der Kompetenzen für Dienstleistung als Kunst neue Wege in der Aus- und Weiterbildung zu gehen. Die Autoren Claudia Munz, Elisa Hartmann und Jost Wagner sind Mitarbeiter/innen des Vereins für Ausbildungsforschung und Berufsentwicklung München (VAB e.V.). Kontakt: jost.wagner@gab-muenchen.de 17 intærview Durch Kunst kann man lernen: Es kommt auf mich an! Gespräch mit Helga Weiß, dm drogerie markt, Bereichsverantwortliche für Aus- und Weiterbildung præview: Welche Rolle spielt Kunst in der Ausbildung bei dm? Weiß: Zentrales Element unserer Ausbildung ist das sogenannte Abenteuer Kultur, ein TheaterWorkshop, in dem unsere Lehrlinge unter der Anleitung von erfahrenen Schauspielern, Regisseuren und Theaterpädagogen ein Stück entwickeln und aufführen. Ausgangspunkt bei der Entwicklung dieses Ausbildungsbausteins war die Frage, was die Kunst vor dem Hintergrund der Herausforderungen und Probleme des Jugendalters leisten kann. Es war ein Experiment, wir haben den Schauspielern keine Vorgaben gemacht, sondern sie einfach mit den jungen Menschen arbeiten lassen. Und wir waren sehr begeistert über das Ergebnis, denn es hat sich herausgestellt, dass gerade für die biografische Phase des Jugendalters im Theaterspielen ganz viel drin steckt. Die Auseinandersetzung mit einer Rolle, die scheinbar erst mal ganz fremd ist und an der man dann plötzlich ganz viel über sich selbst lernen, neue Seiten an sich entdecken kann. Aber auch das Lernen im sozialen Miteinander. Damit ein Stück auf die Bühne kommen kann, müssen die Lehrlinge zusammenarbeiten. Es ist nicht etwas, was sie sich als Fertigprodukt im Fernsehen anschauen, sondern jeder Einzelne muss sich einbringen, damit nachher etwas entsteht, das andere sehen können. Die jungen Menschen erleben: Es kommt auf mich an! Ich muss mitkriegen, wann mein Einsatz ist, wann ich auftreten und wieder abtreten muss. Und ich muss mich gleichzeitig so mit den anderen verbinden, dass ein Gesamtbild entsteht. Das ist besser als jedes Teamentwicklungsseminar. Auch weil Theater ja eine sehr unmittelbare Kunstform ist: Ich muss mich mit meinem Körper einbringen, es steht kein Instrument dazwischen, da bin nur ich, der in die Rolle geht und dieser Ausdruck verleiht. Und das ist gerade für Jugendliche sehr wichtig: zu üben, wie sie sich ausdrücken können, wie sie das, was in ihnen vorgeht, in Worte und Ausdruck fassen können. Zehn Jahre gibt es nun schon Abenteuer Kultur und es ist eines der nachhaltigsten Lernprojekte, die ich überhaupt kenne. 18 præview: Die Lerneffekte, die Sie nennen, sind ja vor allem jugendpädagogischer Natur. Inwiefern stehen diese denn in Zusammenhang mit der Vorbereitung auf die Arbeit in einem Dienstleistungsunternehmen wie dm? Weiß: Dienstleistung ist in erster Linie Dienst am Menschen. Natürlich, wir verkaufen Drogerieartikel, aber für wen tun wir dies letztendlich? Nicht für uns, sondern für die Kunden. Die Begegnung mit dem Kunden steht daher für uns im Zentrum unserer Arbeit. Diese will immer wieder neu gestaltet werden. Das fängt schon bei der Frage an, mit welchem Gesicht, also welchem Ausdruck ich durch den Laden gehe – der Kunde nimmt das wahr. Oder aber wie ich reagiere, wenn mich ein Kunde anspricht. Kann ich mich ausdrücken? Oder ergreife ich die Flucht, weil ich Angst habe, mich mit ihm zu unterhalten? Ich glaube, was dm von anderen Dienstleistungsunternehmen unterscheidet, ist genau das: dass sich unsere Kolleginnen und Kollegen in den Filialen der Begegnung mit dem Kunden jeden Tag immer wieder neu und vielfach stellen – und dabei erleben: Es kommt auf mich an! Und auf diese Begegnung bereiten die Erfahrungen des Theaterspielens ja gerade vor: dass man lernt, sich aus- zudrücken, zu kommunizieren. Aber auch, sich selbst und andere genau und bewusst wahrzunehmen. Wenn der Kunde erlebt, dass er wahrgenommen wird, schafft das schon eine ganz andere Form der Beziehung. Die Kunden kommen nicht zu uns wegen unserer Preise oder einer besonderen Zahnpasta, sondern weil unsere Dienstleistung eine bestimmte Form der Beziehung zum Kunden ist. præview: Was verstehen Sie vor diesem Hintergrund unter einer guten Dienstleistung? Weiß: Also auf jeden Fall nicht, dass der Kunde König ist. Wir rollen keinen roten Teppich aus und machen keinen Bückling. Gute Dienstleistung bedeutet, eine Partnerschaft mit dem Kunden auf gleicher Augenhöhe einzugehen, in einen Dialog zu treten. Wir gehen auch nicht auf jeden Kundenwunsch ein – auch wenn wir etwa mit dem Verkauf von Zigaretten und Silvesterknallern viel Geld verdienen könnten, sondern wir treten mit dem Kunden in einen Austausch, in einen Dialog, etwa in Form von Kundenforen. Und wir fragen uns auf der anderen Seite immer wieder: Was ist unser Anliegen? Worum geht es uns eigentlich? Was erleben wir als stimmig? Und was eben nicht! Dienstleistung bedeutet für uns eben nicht zu dienern, sondern den Dienst zu leisten, den wir als Arbeitsgemeinschaft auch leisten wollen. præview: Könnte man die dafür notwendigen Fähigkeiten nicht auch einfach in einem Kommunikations- oder Verkaufstraining lernen? Weiß: Diese Trainings können schnell den Charakter einer Dressur bekommen. Da lernt man irgendwelche abstrakten Regeln, aber nichts über sich selbst. Wir verlangen von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ja nicht, sich nach vorgegebenen Mustern zu verhalten, etwa immer ständig zu lächeln, sondern sie sollen ihren authentischen Weg finden, mit den Kunden umzugehen. Deswegen spielen wir bei Abenteuer Kultur nicht einfach Shakespeare oder Goethe rauf und runter, sondern jede Gruppe von Lehrlingen findet für sich individuell immer ihr Thema, findet ihr Stück und findet ihre Texte – und das kann Goethe sein, das kann aber auch ein moderner Literat oder ein Songtext sein. Gleichzeitig gibt es auch keine allgemeinen und vorgegebenen Lernziele, sondern jeder Teilnehmer durchläuft seinen ganz individuellen Lernprozess, nimmt etwas anderes aus der künstlerischen Arbeit mit: Einer lernt vielleicht, dass er sich viel besser ausdrücken kann als er dachte, und der andere kann sich wieder besser körperlich bewegen – was auch immer. Das ist hoch individuell und das ist immer persönlich! Beim Verhaltenstraining würde ich lernen: Hebe den rechten Arm auf diese und jene Art, weil das sympathisch macht, und wenn Du dich so hinstellst, macht das unsympathisch. Aber das hat nichts mit dem Menschen und seiner Persönlichkeit zu tun. Der Unterschied zwischen Verhaltenstrainings und selbstentdeckendem, selbstentwickelndem Lernen ist genau der: Im künstlerischen Tun kann ich in dem, was ich tue, mein Mensch-Sein, mich als Mensch entdecken. præview: Sie beschäftigen ja jedes Jahr Hunderte von Schauspielern bundesweit. Rechnet sich dieser Aufwand denn überhaupt? Weiß: Wir bekommen immer wieder Besuch von anderen Unternehmen, denen wir Abenteuer Kultur vorstellen. Als eine der ersten Fragen kommt immer die nach den Kosten und dem Nutzen. Und die Gäste sind dann immer sehr überrascht, wenn ich antworte: „Ich kann Ihnen genau sagen, was uns das Ganze kostet, ich kann Ihnen aber nicht sagen, was es bringt.“ Denn die individuellen Lernergebnisse lassen sich nicht messen und wiegen. Die Entscheidung Abenteuer Kultur einzusetzen, entzieht sich der klassischen Controlling-Logik. Es ist vielmehr eine unternehmerische Frage: Wir sind überzeugt, dass sich dieses Investment in die Persönlichkeitsbildung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lohnt, auch wenn wir das nicht mit Zahlen belegen können. præview: Setzen Sie auch in anderen Bereichen Kunst als Bildungsmittel ein? Weiß: Momentan sind wir in einer Phase, in der ganz viele unserer jungen Filialleiter selbst an Abenteuer Kultur teilgenommen haben und sagen „Das hat mir so viel gebracht, ich will mehr von diesen Erfahrungen machen können“. Daher sind wir gerade stark auf der Suche, wie man die künstlerische Arbeit auch stärker in der Weiterbildung von Erwachsenen einsetzen kann. Wir haben viele Fragen im Unternehmen, die uns intensiv beschäftigen. Führungsfragen, Fragen nach dem Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft, Fragen nach dem Selbstverständnis, ja der Rolle unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und da sind wir auf der Suche nach den Kunstarten und -formen, die hier angemessen und weiterführend sind. Helga Weiß arbeitet seit 1973 bei dm drogerie markt, zunächst in Filialverantwortung, später im Außendienst und anschließend im Bereich Marketing und Beschäftigung. Seit 1999 ist sie Bereichsverantwortliche für Aus- und Weiterbildung bei dm. Das Interview führten Michael Brater und Jost Wagner. præview Nr. 1 | 2011 19 Die Autoren Jutta Bloem ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Duale Studiengänge der Hochschule Osnabrück und an der Berufsakademie Emsland. Vom Erhandeln des Anderen Benjamin Häring ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück. Kontakt: b.haering@hs-osnabrueck.de Ein theatraler Einblick in Veränderungspotenziale von Organisationen Jutta Bloem, Benjamin Häring Die Stärkung der Innovationskraft in Organisationen setzt mit Bezug auf den organisationalen Status quo ein anderes Handeln voraus – sonst bliebe alles, wie es ist. Doch sind die betrieblichen Akteure bereit, anders zu handeln? Sind sie bereit, etablierte Verhaltensroutinen aufzugeben und Energie in andere Handlungsoptionen zu investieren und diese unter der Unsicherheit des Ergebnisses zu erkunden? Erkennen sie überhaupt die Möglichkeit, anders zu handeln? Einem Anders-Handeln stehen meist Barrieren im Weg. Dieses sind Barrieren organisationalen Ursprungs, die in den Organisationsstrukturen und -prozessen wurzeln, sowie Barrieren personalen Ursprungs, die sich auf die Wahrnehmung und Bewertung der Veränderungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Organisation sowie der Bewertung der eigenen Kompetenzen beziehen (vgl. Arens-Fischer et al. 2009). Insofern ist ein Anders-Handeln zu erhandeln. Theatrale Methoden unterstützen den Prozess des Erhandelns anderer Verhaltensoptionen sowie des Erhandelns organisationaler Veränderungen und die wechselseitigen Bezüge zwischen organisationalen Strukturen und Prozessen und personalem Verhalten. Der erste Ansatz ist dabei zunächst die Öffnung der Wahrnehmung und der (An-)Erkennung betrieblicher Veränderungsfähigkeit und Veränderungsbedürftigkeit mit ästhetischen Mitteln (vgl. ArensFischer et al. 2009). In diesem Beitrag werden „Veränderungslandkarten“ und das „Fixieren des Nicht-Sondern“ als zwei Methoden der Theaterarbeit in Unternehmen aus dem Forschungsprojekt THINK vorgestellt. Im Rahmen des aktionsforschungsorientierten Ansatzes der Theatralen Organisationsforschung haben die Methoden sowohl eine analytische Qualität im Sinne einer Organisationsdiagnose als auch eine gestalterische Qualität im Sinne eines auslösenden Momentes der Veränderung (vgl. Arens-Fischer et al. 2010). Hinsichtlich der gestalterischen Dimension sensibilisiert die Anwendung der Methoden die Organisationsmitglieder für die Veränderungsfähigkeit und -bedürftigkeit und stärkt so die Veränderungsbereitschaft. Veränderungsräume innerhalb der Organisation Im Rahmen der Methode der „Veränderungslandkarten“ werden die Akteure aufgefordert, ihre Organisation zur Erhebung des Status quo zu beschreiben. Als Orientierungslinien dienen 20 die Fragen „Welche Veränderungsmöglichkeiten sehe ich innerhalb der Organisation?“ und „Welche Veränderungsmöglichkeiten besitze ich selbst in der Organisation?“. Die Mitarbeiter werden angeregt, ihre organisationalen Strukturen sowie ihre Handlungs- als auch Gestaltungsspielräume innerhalb der Organisation zu beobachten. Sie sollen sich innerhalb ihrer subjektiven Wahrnehmung differenziert mit dem eigenen Kontext und mit dem Bezug zur Gesamtorganisation auseinandersetzen. Die Ergebnisse werden mithilfe von Symbolen und Farben auf Papier visualisiert. Dabei werden insbesondere Bereiche hervorgehoben, von denen der betriebliche Akteur glaubt, direkt durch sein eigenes Handeln in seinem Handlungsraum Veränderungen etablieren zu können, sowie organisationale Bedingungen, die den bisherigen Status quo der Organisation fixieren. Die ersten Auswertungen der Intensivstudien zeigen, dass durch die Anwendung der Methode sowohl die Veränderungsfähigkeit als auch die Veränderungsbedürftigkeit der Organisation offen gelegt werden. Dabei weisen die Veränderungslandkarten durchaus auf vielschichtige organisationale Wirkzusammenhänge hin. Interessant ist nun, dass trotz der Offenlegung der Verhältnisse die Akteure häufig weder ihre Organisation noch sich selbst als Teil dieser in veränderungsbereitem Zustand erleben. Anstatt Visionen über alternative Verhaltensweisen und Strukturen zu entwickeln, erfolgt meist eine Beschönigung beziehungsweise eine Umbewertung der Situation. Dies kann als Indiz gewertet werden, dass die Wahrnehmung des organisationalen und personalen Veränderungsbedarfs häufig nicht ausreicht, die Veränderungsbereitschaft der Akteure zu schaffen. Sie müssen jenseits der Wahrnehmung über praktisches Erleben dazu befähigt werden, imaginäre Spielräume abseits der bekannten Routinen und Abläufe erschließen zu können. Die Sensibilisierung der Akteure für die Imagination dient in diesem Zusammenhang dazu, die eingespielten Routinen nicht notwendig als Status quo zu begreifen, sondern ihre individuelle Imagination für die Gestaltung von Veränderungen zu nutzen. Erfahrungsräume für Organisationsakteure Die Wahrnehmung von Veränderungsbedarfen sowie die Bereitschaft, Veränderungen zu initiieren, kann mittels der Methode des „Fixierens des Nicht-Sondern“ befördert werden. Dazu wird ein Teilnehmer gebeten, seine subjektiven Beobachtungen und Erfahrungen über den eigenen Handlungsraum anhand der Veränderungslandkarte zu erläutern und zur Disposition zu stellen. Seine Ausführungen dienen als Spielmaterial, aus dem eine kurze, prägnante Szene entwickelt wird. Der Betroffene spielt dabei zunächst sich selbst und inszeniert einen anderen Teilnehmer als Antagonisten (Gegenspieler). Die Szene wird vor dem Plenum gezeigt. Die Methode setzt nun an dieser Darstellung der Originalszene an: Jeder Beobachter des Plenums wird aufgefordert eine Verhaltens- oder Prozessalternative einzuspielen, die der Protagonist als Betroffener nicht gezeigt hat. Dabei spiegeln die Beobachter dem Betroffenen in bewusst überspitzter, verkürzter Version, was sie bei dem Betroffenen hinsichtlich Auffälligkeiten, Haltungen und Prozessroutinen wahrgenommen haben. Auf diese Weise entsteht zum einen eine Variation von Wahrnehmungen zum Zustand der Organisation und den Verhaltensroutinen ihrer Mitglieder in Bezug auf die konkrete Situation. Zum anderen entsteht ein Pool aus Veränderungsvarianten, die durch die Sitzungsteilnehmer als Impulse zur Veränderung eingespielt wurden. Die Veränderungsvarianten werden abschließend von dem Betroffenen auf dem Hintergrund seines Handlungsraumes reflektiert und hinsichtlich des Nutzens und der Umsetzbarkeit analysiert. Die Vorschläge sind dabei als Orientierungshilfen aufzufassen, die Impulse für mögliche Veränderungen auf der personalen sowie der organisationalen Ebene setzen. Zusammenfassend wird deutlich, dass der Ansatz der theatralen Arbeit in dem bewussten Heraustreten aus dem Kontinuum der routinierten Wirklichkeit besteht. Die Teilnehmer begeben sich während der Intensivarbeit in einen theatralen Spielprozess, der bestimmten Regeln folgt, um anschließend mit den Ergebnissen in Form von Impulsen aus dem Prozess in die be- triebliche Wirklichkeit zurückzukehren (vgl. Dörger & Nickel, 2008). Die theatrale Arbeit leistet auf diese Weise zweierlei: zum einen einen Beitrag zur Beförderung der bewussten Wahrnehmung von Veränderungsbedürftigkeit und zum anderen einen Beitrag zur Veränderungsfähigkeit, da im theatralen Prozess Verhaltens- und Organisationsalternativen erprobt werden. Die Schlüsselelemente dieser Arbeit bilden die Partizipation der Akteure und die Aktivierung ihres præview Nr. 1 | 2011 Reflexionspotenzials. Die Akteure werden im Spielprozess zum Übenden und damit zu einem lernenden Part der Organisation. Literatur Arens-Fischer, W., Renvert E. & Ruping, B. (2009). Der Beitrag des Unternehmenstheaters zur Unternehmensentwicklung: Personales Verhalten in Organisationsstrukturen und -prozessen reflektieren. In Raab, G. & Unger, A. (Hrsg.): Der Mensch im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Handelns (S. 543559). Tagungsband der Gesellschaft für Wirtschaftspsychologie. Lengerich: Pabst Science Publishers. Arens-Fischer, W., Renvert, E. & Ruping, B. (2010). Szenische Aktionsforschung. In Jacobsen, H. & Schallock, B. (Hrsg.): Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements (S. 190-199). Stuttgart: Fraunhofer Verlag. Dörger, D. & Nickel, H.-W. (2008). Improvisationstheater – ein Überblick: Das Publikum als Autor. Milow: Schibri-Verlag. 21 Die Tiefendimension von Organisationskulturen musikalisch erfassen Music – Innovation – Corporate Culture Forscher und Berater in Organisationen sind oft wie taube Beobachter, die in einen Raum kommen, in dem jemand Geige spielt. Sie beobachten, sie nehmen die Schwingungen mit Messgeräten auf und können daraus bisweilen sogar Rückschlüsse auf Tonlage und Form der Musik ziehen. Sie werden jedoch nie von der Sinneswahrnehmung des Klangs erfahren, nie davon, was Musik als Gehörtes an Erfahrung bietet oder auslöst (Hayek 2006), denn sie orientieren sich an den üblichen engen Rationalitätsmodi Kognition/Sprache und Messbarkeit. Bisher arbeiten Organisationsanalysen weitgehend mit kognitiven Modellen: Sie erfassen den rationalen Teil von Organisationen, indem sie sich vor allem auf direkt erkennbare Parameter und auf Zählbares beziehen. Je flacher jedoch Hierarchien werden und je komplexer damit die Organisation, umso mehr werden jene weichen Faktoren der Vergemeinschaftung bedeutend, die Tiefe haben. Die Erforschung der „Tiefendimensionen“ von Organisationskulturen geht indessen weit über rationale Modelle der Organisationsforschung hinaus (Horsmann et al. 2007). Eine neue Sprache für die Tiefendimension von Organisationskulturen Können die Kulturen, in denen die Organisationsmitglieder leben bzw. arbeiten, klanglich „hörbar gemacht“ bzw. musikalisch verstanden werden, so kann das im Arbeitsalltag fast ausschließlich genutzte Kommunikationsmedium Sprache sensorisch-emotional ergänzt werden. Tiefendimensionen von Organisation und Innovation werden über den Kanal der Musik erfahrund für die Reflexion der Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nutzbar. Musik eröffnet neue Erfahrungshorizonte des Organisierens und Managens: Da sie selbst komplex ist, kann sie komplexe organisationale Ebenen 22 Michaela Margiciok, Michaela Wendekamm, Oliver Bluszcz, David Vossebrecher, Gisela Humpert, Wolfgang Stark (v.l.) Wolfgang Stark, David Vossebrecher, Oliver Bluszcz, Gisela Humpert, Michaela Wendekamm, Michaela Margiciok sowie zeitliche und performative Aspekte des Organisierens spiegeln, die in statischen Organisationsmodellen fehlen. Sie kann jenseits von Sprachcodes Feedback auf struktureller und emotionaler Ebene geben. Musikalisches Feedback regt – vor allem bezogen auf Elemente wie soziale Interaktion, Emotion, Werte und Prozesse (Performanz) – Lern- und Entwicklungsprozesse der Organisation an und ermöglicht eine positive Neuordnung. Fähigkeiten zur Selbstreflexion sind entscheidend für Innovativität, Erfolg und organisationales Überleben (Moldaschl 2006). Durch die Verbindung von Organisationskultur und Musik lassen sich neue Wege zur Entwicklung innovativer Unternehmen und sozialer Systeme entdecken, wenn auch die Erfahrungsbestände für Innovation erschlossen werden, die nicht nur kognitiv repräsentiert sind. Muster innovativer Organisationen – in ihrer Tiefenstruktur bislang nur schwer erkennund darstellbar – können auf einer neuen Reflexionsebene erfahrbar gemacht werden. Organisationen unter komplexem Anforderungsdruck mit innovativen, lernfähigen Organisationskulturen arbeiten mit Improvisationsprozessen (Cunha & Cunha 2006), die auch im Jazz oder in Teilen der Neuen Musik identitätsbildend sind (Dell 2002). Solche Konstellationen erfordern hoch qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit hohen Freiheitsgraden, um Innovationspotenziale erkennen und flexibel agieren zu können, erfordern jedoch keine komplexen Strukturen (vgl. Abb.). Innovationsmuster und Organisationen musikalisch verstehen Prozesse des Organisierens können durch Musik in indirekter, nicht-repräsentationaler Weise neu erfahrbar werden. Im Projekt MICC werden Ergebnisse der Organisationsanalysen und der Musterentdeckung in Form musikalischer Feedbacks verfügbar gemacht, um Reflexions- und Handlungsräume zu eröffnen, die Lernpotenziale der Organisation stimulieren. Als methodisches und inhaltliches Scharnier zwischen Organisation und Musik dient die Erkennung und Darstellung von Mustern (engl. patterns)1. Patterns sind die kontextbezogene Beschreibung hoch typischer Problemlösungen, die sich in Organisationen als erfolgreich (viabel) erwiesen haben, sie explizieren implizites handlungsrelevantes Wissen. Als Kommunikationsformat bilden Patterns einen kooperativen Lernprozess ab und transportieren Werte. Da es Patterns in improvisierter (und komponierter) Musik wie auch in Organisationen gibt, haben sie eine verbindende Funktion. Als Verfahren „musikalischen Denkens über Organisationen“ werden Organisationspartituren entwickelt und eingesetzt. Generell sind Partituren Formen des Erschließens von Sinn in der Musik: Wenn wir eine Beethoven-Symphonie strukturell verstehen wollen, besorgen wir uns eine Partitur und lesen beim Hören mit. Die Partituren der Neuen Musik (Mitte des 20. Jahrhunderts) jedoch sagen nicht mehr den genauen Verlauf der Musik vollständig vorher: Sie sind Simple People Complex People nicht repräsentational, sonComplex Structure Machine Bureaucracies Intelligent Bureaucracies dern „diagrammatisch“ angeSimple Structure Simple Organisations Improvising Organisations legt. Die Interpreten spielen nicht nur die Noten nach, sonKomplexität in Organisationen (Cunha & Cunha 2006) dern müssen aus der Partitur Improvisationen als Muster innovativer Organi- eigene Handlungsformen entwickeln. Dieses sationen sind nach Cunha et al. (2006) beab- Verfahren ist für Innovation in Organisationen sichtigte, aber ungeplante Abweichungen von wertvoll, weil hier „unscharfe“ Anweisungen zu Routinen. Eben dadurch können unerwartete „scharfen“ Ergebnissen führen sollen: eine beProblemlösungen und Entwicklungsmöglichkei- absichtigte, aber nicht planbare Nutzung von ten erkannt/genutzt werden. Über das Brechen Freiheitsgraden. vorhandener Regeln wird eine neue „Figur“ erreicht. præview Nr. 1 | 2011 So werden mit dem Medium der Musik neue Reflexionsebenen für die Analyse organisationaler Zusammenhänge, Prozesse und Ereignisse erschlossen. Organisationale und musikalische Muster verbinden sich zu einer Mustersprache der Organisationen, die Zugänge zur Tiefendimension von Organisationen erlaubt (Baitsch & Nagel 2008). Des Weiteren können organisationale Mustersprachen dazu genutzt werden, Abläufe und Prozesse (z.B. zur Krisenbewältigung) neu zu gestalten. Insofern sind Partituren Elemente eines Instrumentenportfolios, das Musik nicht nur als Analogie nimmt, sondern die Sensibilität für und die Ermöglichung von Improvisationsprozessen im Sinne lernender Organisation neu erklingen lässt. Die Autoren Wolfgang Stark ist Professor für Organisationspsychologie und -entwicklung, Oliver Bluszcz, Gisela Humpert, David Vossebrecher und Michaela Wendekamm sind wissenschaftliche Mitarbeiter, Michaela Margiciok ist studentische Hilfskraft am Labor für Organisationsentwicklung der Universität Duisburg-Essen. Kontakt: wolfgang.stark@uni-due.de 1 Angelehnt an das Konzept der Mustersprache von Christopher Alexander (Alexander et al. 1977). Literatur Alexander, C. et al. (1977). A Pattern Language. New York: Oxford University Press. Baitsch, C. & Nagel, E. (2008). Organisationskultur – das verborgene Skript der Organisation. In Meissner, J., Wolf, P. & Wimmer, R (Hrsg.), Praktische Organisationswissenschaft. Heidelberg: Carl Auer. Cunha, J., Cunha, M. & Chia, R. (2006). Routine as Deviation. Working Paper, Fac. de Economia, Universidade Nova, Lisboa, Portugal. Cunha, M. & Cunha, J. (2006). Towards the Improvising Organization. Business Leadership Review. Vol 3 Issue 4. Dell, C. (2002). Prinzip Improvisation. Köln: Walther König. Hayek, F.A. (2006). Die sensorische Ordnung. Tübingen: Mohr Siebeck. Horsmann, C., Pundt, A., Martins, E. & Nerdinger, F.W. (2007). Beteiligungskultur als Kontextfaktor für das Ideenmanagement. Wirtschaftspsychologie, 9 (2), 103-114. Moldaschl, M. (2006). Innovationsfähigkeit, Zukunftsfähigkeit, Dynamic Capabilities. Managementforschung, 16, 1-36. 23 Der Autor Christopher Dell, als international bekannter Vibraphonist Grenzgänger zwischen Jazz und Neuer Musik, leitet das Institut für Improvisationstechnologie (Berlin) und entwickelt im Projekt MICC Konzepte musikalischen Verstehens für Organisationen. Kontakt: cd@christopher-dell.de Organisation musikalisch denken Christopher Dell Organisation wird im Rückgriff auf ihre Kultur nicht als substanzielle Form oder neutraler Behälter verstanden, in dem organisationale Akteure handeln. Vielmehr wird Organisation performativ gedacht, d.h. sie entsteht durch Ausübung – Wiederholung, Routine, Rituale, Muster – und ihr Wissen ist tacit. Als performativer Akt ist Organisation prozesshaft und entwickelt sich durch ein Handeln, das an Wertvorstellungen, Materialien und Strukturen geknüpft ist. Das Erforschungswürdige an diesem Konzept ist, dass wir meist kein bewusstes Konzept der Performanz von Organisation haben, also von dem, was wir als Kultur einer Organisation „machen“ – uns fehlt mithin die Urteilskraft für das Relationale, Situative und Performative. 24 Das Erforschen der impliziten Formen des Wissens ist bereits seit langem Bestandteil der Organisationstheorie. Neu ist, das künstlerische Forschen in diesen Komplex mit einzubeziehen. Im künstlerischen Forschen geht es mithin um die Ausweitung der Forschung in ihrer kategorialen Bestimmung und deren Auffächerung. Anders gesagt: Künstlerisches Forschen fragt neu nach den ontologischen Bedingungen von Forschung, also der Beschaffenheit des Forschungsgegenstands, der Form der Episteme und den damit verknüpften methodologischen Ansätzen. Forschung in der Kunst wird von Borgdorff (2009) als „performative Perspektive“ bezeichnet, Donald Schön beschreibt sie als „Reflexion in der Aktion“. Die Trennung von Objekt und Subjekt wird hier problematisiert, denn die Distanz des Forschenden zum Gegenstand ist minimiert – im Gegenteil sucht der Forschende in performativen Kontakt mit den Dingen zu kommen, um aus praktischen Situationen heraus Wissen zu destillieren. Dieser Ansatz geht davon aus, dass die künstlerischen Praktiken selbst ein Reservoir an Wissen bereitstellen, die es für die Forschung fruchtbar zu machen gilt. Wenn Handlung reflexiv gemacht wird, impliziert dies, dass „Konzepte und Theorien, Erfahrungen und Auffassungen (…) mit Kunstpraktiken verwoben“ (ebd.) sind. Warum aber Musik? Weil ihr Sinn sui generis aus dem relationalen Zusammenhang, aus einer Topologie ihrer strukturellen Momente entsteht. Und: diese Relationalität muss hervorgebracht werden. Der Sinn von Musik entfaltet sich erst aus der Relationalität von Rhythmus, melodischer Anteile, harmonischer Verläufe, Klangfarbe etc., die nicht allein als physikalische Vorgänge von akustischen Schwingungen, sondern als ein „sinnvolles“ Konglomerat wahrgenommen werden können. Wichtig ist, dass jeder mitmachen kann: Strukturen dieser Vorgänge bilden für alle Hörer gleichermaßen eine Grundlage. Sie können jenseits tertiärer Eigenschaften „Anlass für zusammenhängende Erfahrung“ (Vogel 2007) sein und bilden so wahrnehmungsstrukturierende Modelle, die nicht nur Spezialisten der Musik, sondern auch jedem Laien zugänglich und plausibel sind. Diese Modelle sorgen dafür, dass die Hörer eine Praxis, ein Tun nachvollziehen und daraus eine Form der Kohärenz ableiten können. Dieser Nachvollzug ist jedoch stark subjektiv gefärbt, eine Eigenschaft, die durch die præview Nr. 1 | 2011 Tatsache, dass in dem MICC Projekt organisationale Strukturen auf einen musikalischen Verlauf projiziert werden und umgekehrt, noch verstärkt wird. Wichtig bleibt: Die Musik bedeutet nicht die Organisation, sondern das Tun eines musikalischen Spiels wird nachvollzogen oder im Schreiben der Partitur vorgedacht. Der Erfahrungsraum des Musikmachens oder Musikhörens wird also umgekehrt zum strukturierenden Moment einer Reflexion über Organisation. Das ist wichtig, denn wir gehen ja davon aus, dass Musikhören ebenso wie das daran angeschlossene oder vorgeschaltete Partiturenzeichen nicht bloß rezeptiv oder interpretatorisch zu verstehen ist, sondern dass darin Elemente einer Praxis enthalten sind, die sich daran beteiligen, musikalischen Sinn überhaupt erst zu „produzieren“. Der Fokus auf die Produktion von Sinn, auf das Verfahren des Musizierens selbst rückt ein spezifisches Verfahren der Musikproduktion in den Blick: das der Improvisation. Dieses Verfahren ist für Organisationen zunehmend interessant. Aktuell beobachten wir, wie sich die Perspektiven im Komplex der Organisationstheorie verschieben. Auf der Basis eines „organisationalen Lernens“ wurde ein „Prozess der Erhöhung und Veränderung der organisationalen Wert- und Wissensbasis, die Verbesserung der Problemlösungs- und Handlungskompetenz sowie die Veränderung des gemeinsamen Bezugrahmens von und für Mitglieder innerhalb der Organisation“ in Gang gesetzt (Probst & Büchel 1994). Damit ändert sich auch die Organisation von Organisation. Organisation ist nicht mehr nur als Planung und Ausbildung von Routinen, sondern vor allem als organisatorischer Wandlungsprozess zu verstehen. Innerhalb dieses Komplexes ist in neuester Zeit ein Untersuchungsfeld emergiert, das Improvisation als Kompetenz des konstruktiven Umgangs mit dem Unerwarteten stärker in den Blick nimmt. „Organizational Improvisation is one of the more recent theoretical developments, and one which is only now beginning to capture the imagination of organization theorists“ konstatieren Kamoche et al. (2002). Dies hätte einen Paradigmenwechsel in der Organisationstheorie zur Folge: In ihr wird herkömmlicherweise Planung „als langfristig der Improvisation überlegene und erstrebenswerte Form der Problemlösung definiert, während die Improvisation eine untergeordnete Rolle spielt. Aufgrund von Planungsgrenzen wird in den Unternehmen in einem Maße improvisiert, welches über dem der theoretischen Darstellungen liegt.“ (ebd.) Schön (1983) rekurriert in seiner Beschreibung des „reflexiven Praktikers“ auf die Arbeit von Musikern, und zwar Jazzmusikern im Speziellen, weil diese Improvisation nutzen und so im Unvorhersehbaren Kohärenz zu erzeugen in der Lage sind: „Sie (die Musiker) können das hauptsächlich deshalb tun, weil sie sich bei ihrem kollektiven Bemühen um eine einfallsreiche musikalische Gestaltung eines metrischen, melodischen und harmonischen Schemas bedienen, das allen Beteiligten vertraut ist und dem Musikstück eine vorhersehbare Gestalt verleiht. (…) Indem die Musiker ein Gespür für die Richtung bekommen, in der sich das Musikstück aufgrund ihrer zusammenwirkenden Beiträge weiterentwickelt, gewinnen sie daraus einen neuen Sinn und passen ihr Musizieren diesem neuen, von ihnen begleiteten Sinn an.“ Die Analyse des reflektierten Handelns geht somit von einer bestimmten Organisationspraxis aus, und zwar der der organisationalen Improvisation. Fassen wir zusammen: Musikalische Logik fügt sich nicht aus wahrheitserhaltendem Schließen zusammen, sondern aus der Relationalität einer spezifischen Nachbarschaftsordnung musikalischer Elemente. Matthias Vogel (2007) spricht in diesem Zusammenhang von medialen Praktiken. „Im Mittelpunkt medialer Praktiken stehen tradierte und erlernbare Tätigkeitstypen, die wahrnehmbare Ereignisse hervorbringen, wobei Produzenten und Rezipienten dieser Ereignisse sich nicht an deren physikalischen Eigenschaften, sondern an deren beobachterrelevanten Eigenschaften orientieren“. Literatur Borgdorff, H. (2009). Die Debatte über Forschung in der Kunst. In Rey, A & Schöbi, S. (Hrsg.), Künstlerische Forschung, S. 23-51. Zürich: ZHdK. Hagedorn, V. (2008). Musik vergisst man nie. DIE ZEIT, 29.05.2008, Nr. 23. Kamoche, K., Cunha, M.P. & Cunha, J.V. (Hrsg., 2002). Organisational Improvisation. London: Routledge. Probst, G. & Büchel, B. (1994). Organisationales Lernen: Wettbewerbsvorteil der Zukunft. Wiesbaden: Gabler. Schön, D. (1983). The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action. New York: Basic Books. Vogel, M. (2007). Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns. In Becker, A & Vogel, M. (Hrsg.), Musikalischer Sinn, S. 327. Frankfurt: Suhrkamp. 25 Neue Horizonte für Innovationsarbeit Wie ein archetypisches Muster Innovationsprozesse strukturiert und stützt Karin Denisow, Nina Trobisch Es ist eine prominente Weisheit: Innovationen brauchen Mut und Kreativität, Altes abzulegen und Neues anzufassen. Dafür existiert eine repräsentative Struktur: Die typische Schrittfolge für Wachstum und Wandel ist nicht aus Softwareprogrammen ableitbar, sondern im Monomythos der Heldenfahrt verdichtet. Das Forschungsprojekt „Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip“ legt mit dem Zugriff auf das kulturelle Archiv der Menschheit einen jahrtausend bewährten Erfahrungsschatz frei und eröffnet damit neue Dimensionen für Innovation. Die „Lessons Learned“ aus den Projekten des Lebens Der „rote Faden der Ariadne“, „die Gralssuche“, „die Büchse der Pandora“: Das sind geflügelte Worte. Allesamt entstammen sie der Mythologie und liegen leicht auf der Zunge. Als Grundform kollektiver Wirklichkeitsdeutung bündeln Mythen und Märchen die Essenz der Menschheitserfahrung in Metaphern. Diese Narrationen bergen universelle Einsichten, in deren Sinnbildern seit Jahrtausenden Wissen und Erfahrung gesammelt wird. Von Generation zu Generation weiter gegeben, zuerst mündlich, dann gedruckt, verfilmt, sind sie nun auch via Internet verbreitet. Hier finden wir eine ursprüngliche Form des Wissensmanagements. Vom Monomythos und seiner Adaption für die Gegenwart Im 20. Jahrhundert ging der amerikanische Kultur-Ethnologe Josef Campbell der Struktur weltweiter Heldenmythen auf den Grund. Seine vergleichenden Forschungen führten ihn zu einer bahnbrechenden Entdeckung: Nicht an Herkunft noch Besitz misst sich ein Held, sondern an der Bereitschaft, sich auf eine tief greifende Transformation einzulassen. Heldenmythen komprimieren dramatische Geschichten von Entwicklung und Veränderung. Unabhängig von Kulturkreis und Jahrhundert, diesen Prozessen wohnt ein konstantes Muster inne. Mögen die Stories und Protagonisten des Heldenmythos’ in „tausend Gesichtern“ erscheinen, darunter liegt ein immer ähnliches inneres Raster. Dieses dem Heldenmythos immanente Muster (Monomythos des Helden) macht sich das Projekt „Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip“ zunutze und adaptiert die archetypische Schrittfolge für unternehmerische Kontexte der Gegenwart (Heldenprinzip). Sie folgt dabei dem Spannungsbogen der klassischen Dramaturgie; das Geschehen wird unterteilt in drei Akte, untergliedert in Szenen. Im „Aufbruch“ steht Ruf versus Weigerung. Notgedrungen oder aus freien Stücken, das Wagnis des Ungewissen beginnt. Das ist nur möglich, wenn 1. Akt: Der Aufbruch 3. Akt: Die Rückkehr man sich einlässt auf Fremdes, Unbequemes, Schwieriges. Der Mentor sichert Der Ruf Meister zweier Welten die notwendigen Ressourcen, damit die erste SchwelDie Weigerung le ins Unbekannte überDer schwierige Rückweg windbar wird. Der Weg der Der Mentor Bekannte Welt Prüfungen „im Land der Überwinden der 1. Schwelle Überwinden der 2. Schwelle Schwelle Abenteuer“ umreißt die herausfordernden Aufgaben Unbekannte Welt und Hindernisse, die der Der Weg der Prüfungen Die Belohnung Protagonist bewältigt oder auch noch nicht. In der entDie entscheidende Prüfung scheidenden Prüfung wird die stärkste Angst besiegt. Die Belohnung gibt die Kraft, die zweite Schwelle 2. Akt: Im Land der Abenteuer zurück in die Normalität zu überwinden. Bei der „RückInnovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip 26 kehr“ zeigt sich, wie der schwierige Rückweg die erworbenen Fähigkeiten stabilisiert. Das Gewonnene und Erworbene wird in den Alltag integriert. Als Meister zweier Welten ist man handlungsmächtig, wenn der neue Zustand alltägliche Selbstverständlichkeit ist. Zum postheroischen Management „Arm das Land, das Helden nötig hat!“ heißt es in Bertolt Brechts „Galileo Galilei“. Aber: Ob in den Geschichten oder in der Geschichte, immer gibt es Menschen, die sich be- und gerufen fühlen, Verantwortung zu übernehmen und über sich hinauszuwachsen. Zu allen Zeiten wird es Umstände geben, die der Veränderung oder Erneuerung bedürfen, trotz Risiken und Gefahren. Der Heldenweg ist das Annehmen unwägbarer Herausforderungen. Indem Menschen und auch Organisationen sich auf den Weg des Wandels begeben, werden sie kompetent. In diesem Sinne ist die Grundstruktur des Heldenmythos für heutige Innovationsprozesse relevant und liegt paradoxerweise näher am postheroischen Management als vermutet. Denn auch Dirk Baecker (2006) nutzt die Kraft der inneren Bilder, um seine Postulate für zeitgemäßes, sinnstiftendes Wirtschaften zu untermauern. Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip Innovation aus der Unschärfe und der Unplanbarkeit zu schöpfen, dafür gilt es Konzepte zu generieren. Der Weg des Helden ist eine Projektionsfläche, die für jeden Entwicklungsprozess nutzbar ist. Innovationen gehören dazu. Innovationen sind in unserem Verständnis von Menschen getragene Veränderungsprozesse, die sich im Spannungsfeld von ökonomischen, ökologischen und sozialen Einflüssen entfalten. Innovationen können sich auf Prozesse, Strukturen, Produkte beziehen – aber immer spielen sie sich auch dazwischen ab. In den Spannungsfeldern dieser Zwischenräume liegt der kreative Gestaltungsraum. Unsere Arbeit mit den Unternehmen zeigt, wie fruchtbar es ist, sich auf die universale Grundstruktur des Heldenmythos für gegenwärtige Transformationsprozesse zu besinnen; sowohl für die Organisation als auch für den Einzelnen. Hier stehen drei förderliche Komponenten im Vordergrund: 1. Der Dreischritt des Entwicklungsbogens Verlassen der alten bekannten Welt (Aufbruch) – Neues Agieren in einer unbekannten Welt (Die Landschaft der Prüfungen) – Ankommen in der alten veränderten Welt (Rückkehr). Dieses Muster ist einprägsam und nachvollziehbar, es schafft ein Maß an Sicherheit in der Unsicherheit. Den Beteiligten des Innovationsprozesses gibt es ein Gerüst für das aktive, kreative Handeln in unbekannten Situationen und setzt den Rahmen für den damit einhergehenden Erwerb neuer Kompetenzen. 2. Die Dramatik des Spannungsbogens Zielplanungen und Meilensteine determinieren wirtschaftliche Prozesse. Obwohl es eine Vielzahl von betriebswirtschaftlichen und sozialen Methoden gibt, Entwicklungsprozesse rational zu gestalten – da werden Ziele vorgegeben, da werden Problemlösungen moderiert, da wird Change-Management kultiviert – fehlt dennoch irgendetwas! Parallel schwingen ganz eigene „Logiken“ im Untergrund. Denn das Auf und Ab eines Innovationsweges ist geprägt von Höhen und Tiefen, Krisen und Erfolgen, die Raum beanspruchen und Beachtung finden müssen. Das Heldenprinzip ignoriert die Spannungsfelder nicht, sondern sensibilisiert für Ambivalenzen, Konflikte und Polaritäten und behandelt sie als produktiven Bestandteil. 3. Die Kraft der archetypischen Bilder und Quellen Der Monomythos wirkt implizit und explizit. Seine Fährte ist tief im Menschen eingespurt. Die Beteiligten folgen ihr bewusst und unbewusst, durch und mit dem Handeln (performativ), durch Ansprache auf tieferen Ebenen, die dort etwas zum Klingen bringt. Das Grundmuster tragen auch die Beteiligten eines Innovationsprozesses in sich und greifen auf das kulturelle Gedächtnis, die kollektive Intelligenz der Menschheit zu. Die Metaphern haben bis heute kaum an ihrer Strahlkraft eingebüßt. In der Kommunikation entstehen dadurch mächtige innere Bilder, die sich mit anderen Menschen teilen lassen. Karin Denisow, Nina Trobisch nach dem Heldenprinzip mit ihrer archetypischen Quelle, ihrer spannungsreichen Struktur, ihren kraftvollen Bildern und ihren ästhetischen Praktiken als Orientierungsmuster einer zukunftsfähigen Innovationskultur dient. Die Unternehmen nutzen es als praktisches Wissen und Handwerkzeug. Aus diesem Blickwinkel fördert sie, als Kompositionsprinzip von Veränderung, das non-lineare schöpferische Denken und das kreative Handeln; die zentralen Komponenten der Innovationsarbeit. Denn: Was wir schon wissen, ist nicht neu. Was neu ist, wissen wir noch nicht. Die Autorinnen Dr. Karin Denisow ist Geschäftsführerin der LUMEN | Organisationsentwicklung. Inspiration. Coaching. GmbH Berlin. denisow@lumen-gmbh.com Nina Trobisch ist Forschungsleiterin des Projektes „Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip“ am Zentralinstitut für Weiterbildung an der Universität der Künste Berlin. ziw-trobisch@udk-berlin.de Literatur Baecker, D. (2006). Postheroisches Management. Berlin: Merve Verlag. Campbell, J. (2002). Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a.M.: Insel Verlag. Hüther, G. (2006). Die Macht der inneren Bilder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rebillot, P. (2008). Heldenreise. Books on Demand GmbH. Fazit Die Forschungsarbeit in den beteiligten Unternehmen zeigt, dass die Innovationsdramaturgie præview Nr. 1 | 2011 27 Was Führungskräfte mit dem risikoreichen Weg des Helden verbindet Einblick in die Praxis Karin Denisow, Nina Trobisch Der Forschungsverbund HELD stellt sich die Aufgabe, das Heldenprinzip als universelles Muster für Wachstums- und Wandlungsprozesse sowohl in der Begleitung von Unternehmen als auch von Einzelpersonen zu erproben und methodisch zu untersetzen. Hier sei von der Arbeit mit Führungskräften unterschiedlicher Unternehmen berichtet. Dramaturgischer Aufbau der Seminarreihe Modul 1 | 1. Akt | Aufbruch Modul 2 | 1. Akt | Aufbruch Modul 3 | 2. Akt | Land der Abenteuer Modul 4 | 2. Akt | Land der Abenteuer Modul 5 | 2. Akt | Land der Abenteuer Modul 6 | 3. Akt | Rückkehr Modul 7 | 3. Akt | Rückkehr Was ist der Ring of Leadership? In der Annahme, dass ein tief greifender Entwicklungsprozess mehr als nur ein zweitägiges Seminar braucht, entschieden wir uns, einen „Workshopzyklus in 7 Schritten“ zu konzipieren, alle zwei Monate ein zweitägiges Modul. Diese Module folgen der Struktur des Heldenprinzips. Nacheinander stehen ein bis zwei Szenen im Fokus, die in ihrer tieferen Bedeutung beleuchtet, mit Sinnbildern angereichert und in ihrem praktischen Bezug zum Führungsalltag umgesetzt werden. Zwischenstand: Blitzlichter aus den Modulen 1 bis 5 Modul 1 | Aufbruch: Ziel war auf der einen Seite, die Grundstruktur zu vermitteln, um den Boden für die kommende Arbeit zu bereiten. Hierfür erfanden die Teilnehmenden nach der Dramaturgie des Heldenprinzips Stories, die sie in szenischen Improvisationen umsetzten. Schnell und schöpferisch schrieb sich das Muster ein und führte zu wunderschönen assoziativen Szenen. Auf der anderen Seite ging es um die Erarbeitung des eigenen Rufes. Jeder der Teilnehmenden hatte ein unklares Gefühl der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Eine Expedition ins Innere, eingebettet in Übungen zu Eigenund Fremdwahrnehmung, führte in einem gemeinsam geschaffenen Gemälde zu einer Annäherung an den Ruf. Die Unschärfe, das Schwebende des Rufs wurde so greifbar. Modul 2 | Aufbruch: Thematisiert wurden die Weigerung und die Begegnung mit dem Mentor. Künstlerische Artefakte zum Thema Führung verdeutlichten die inneren Ansprüche der Gruppe an Führung sowie die Komplexität der Führungsaufgabe. In einer anschließenden spielerischen Erfahrungssequenz zeigten sich die individuellen Differenzen zwischen Anspruch und Realität. Zur Bearbeitung dieser deutlich gewordenen Ambivalenzen wurde in einem ausführlichen Reflecting Team Setting die Gruppe dem Einzelnen zum Mentor. Modul 3 | Land der Abenteuer: Die Überwindung der ersten Schwelle erfordert ein hohes Maß an Sensibilisierung für die eigenen Muster und Glaubenssätze sowie die Bereitschaft, auf die blinden Flecken zu schauen. Dieser Übergang wurde durch die Arbeit mit der eigenen Stimme, Bewegung im Raum und Kryptogrammen unterstützt. Die Schwelle zeigte sich symbolisch durch eine riesengroße hohe Wand, auf der die Schwellenhüter dem „Helden“ Einhalt geboten. Es wurde erlebt, dass das Überwinden der Schwelle vor allem einen großen inneren Mut braucht. Wer fühlte sich angesprochen? Die Bewerber hatten bereits Führungsseminare besucht, waren aber unzufrieden mit den Ergebnissen. Neugierig auf kreative Methoden und offen dafür, ihre Führungskompetenz durch ästhetisches Arbeiten und kulturelle Schätze zu stärken, öffneten sie sich dem Konzept, das sowohl die Führungsrolle als auch die individuelle Entwicklung fokussiert. Heute setzt sich der Ring of Leadership aus zwölf Führungskräften vielfältiger Branchen und Unternehmen zusammen (sechs Männer/sechs Frauen). Was eint Führungskräfte und Helden? Menschen auf dem Heldenweg: Unwägbarkeiten säumen ihren Pfad, sie lassen sich davon nicht schrecken. Hindernisse erschweren den Auftrag, sie überwinden sie situativ. Ungewisse Probleme fordern sie heraus, sie lösen sie kreativ. Ihr Ziel ist erreicht, wenn die Errungenschaft in der Praxis verankert ist. Auf den ersten Blick scheint Führungsentwicklung also das ideale Feld für die Anwendung, auf den zweiten Blick aber ist es ein komplexes Unterfangen, die archetypische Reihenfolge mit der Vielfalt individueller Prozesse zu kombinieren, die persönliche Entwicklung mit der Aufgabe als Führungskraft in Balance zu halten und künstlerische und analytische Methoden, in Resonanz zu einer vorgegebenen Dramaturgie, in Einklang zu bringen. 28 Modul 4 | Land der Abenteuer: Um die absolute Ungewissheit dieser Situation erfahrbar zu machen, führten wir die Gruppe an einen unbekannten Ort, den Klangwelten in den Berliner Unterwelten. Dort ertasteten sie – nicht sehend – den fremden Raum und erkundeten ungewöhnliche Klänge. In diesem Modul kristallisierte sich heraus, dass es beim Erschließen von Neuland viel weniger um die Außergewöhnlichkeit der Herausforderung geht, sondern um eine offene, aufgeschlossene und durchaus vorsichtige, ja tastende Haltung. Modul 5 | Land der Abenteuer: Die Mühsal des Loslassens alter Verhaltensmuster wird in einer Performance erfahren: Die Teilnehmer bewegen sich in einer Matrix (Seitz 20061). Ein Bewegungselement kommt zum nächsten. Immer wieder werden ähnliche Situationen geübt. Wandlung und Variation ist möglich. Gefühle wie Langeweile, Ärger, Leere, Sinnlosigkeit sind hilfreich, um das Neue zu wagen, auszubrechen. Im performativen Element wird die Unmittelbarkeit des Wandels spürbar sowie die Schwierigkeit, im Alltäglichen seine Optionen zu nutzen. Zusammenfassung Den dramaturgisch aufgestellten Seminarzyklus bestimmen vier Elemente: 1. Das narrative Element: Das Seminar bildet die Akte und Szenen ab, unabhängig davon, wo jeder Einzelne gerade steht. Die Teilnehmer machen sich mit Inhalt und Wesen ihrer Geschichte und den Geschichten der Anderen vertraut. 2. Das performative Element: Im Handeln äußern sich Identität und Rolle, Persönlichkeit und Entwicklungsstand einer Führungskraft. Alle Stationen werden emotional und körperlich verankert, handelnd erlebbar. Das aktive emotionale Erleben der Struktur ermöglicht die Integration in das eigene intuitive Handeln. 4. Das mentorale Element: Ein zentrales Moment des Heldenprinzips ist das Erschließen von stützenden Ressourcen. Die Gruppe selbst ist sich ein Kraftquell, eine mentorale Ressource. Klassische Methoden, z. B. das kollegiale Coaching, werden eingesetzt, um das Vertrauen der Teilnehmer untereinander zu fördern. Das Heldenprinzip bietet ein Gerüst, in dem jede/r seine Antworten selbst sucht: Was ist mein Ruf als Führungskraft? Wo liegt der Kern meiner Weigerung? Wie nutze ich mentorale Unterstützung? Welche Schwellen überwinde ich, um neues Verhalten zu erkunden, zu erproben, zu praktizieren? Welchen Gefahren bin ich im Land der Abenteuer ausgesetzt? Diese Dramaturgie ist ein Weg, Persönlichkeitsentwicklung und Führung zusammenzuführen. „Weil man sie kennt, aus Mythen, Märchen – und der eigenen Erfahrung. Ich kann mich mit ihr identifizieren. Sie hilft mir, meine Herausforderungen besser wahrzunehmen, sie täglich neu anzugehen, ohne dabei den Mut zu verlieren.“, sagte Frank M., einer unserer Teilnehmer vom Ring of Leadership in der Evaluation. Die Autorinnen Dr. Karin Denisow ist Geschäftsführerin der LUMEN | Organisationsentwicklung. Inspiration. Coaching. GmbH Berlin. denisow@lumen-gmbh.com Nina Trobisch ist Forschungsleiterin des Projektes „Innovationsdramaturgie nach dem Heldenprinzip“ am Zentralinstitut für Weiterbildung an der Universität der Künste Berlin. ziw-trobisch@udk-berlin.de 1 Seitz, H. (2006). Ereignisse im Quadrat. Matrix für Performances an der Schnittstelle zum Tanztheater. In Lange, M.-L. (Hrsg.), Performativität erfahren. Uckerland/Berlin: Schibri-Verlag. 3. Das künstlerisch-kreative Element: Farbe und Form, Bilder und Materialien, Raum und Klang, Bewegung und Spiel sind Teil des Konzeptes. Die ästhetische Gestaltung sensibilisiert die Wahrnehmung und ermutigt die Teilnehmer, ihren kreativen Potenzialen zu vertrauen und sie auszuloten. præview Nr. 1 | 2011 29 Digitale Spiele als innovatives Medium für Wissenstransfer und Intervention Carsten Busch, Florian Conrad, Martin Steinicke Carsten Busch, Florian Conrad, Martin Steinicke Digitale Spiele bieten eine alternative Möglichkeit, Wissen zu vermitteln und künstlerisch-ästhetische Interventionen, etwa in Workshops, zu unterstützen. Am Beispiel des Heldenprinzips in Workshops für Unternehmen und Führungskräfte werden zwei kombinierbare Ansätze, Blended Game-based Learning und Public Gaming, sowie die bisherigen Erfahrungen mit diesen vorgestellt. Da die Heldenreise als Erzählstruktur nicht nur unbewusst genutzt wird, sondern vielmehr in das Repertoire professioneller Geschichtenerzähler gehört, versteht es sich von selbst, dass sie auch in der Spieleliteratur als eine (Rollings et al. 2003) oder gar die (Howard 2008) Dramaturgie für erfolgreiche und sinnstiftende („meaningful“) digitale Spiele gilt. Daher lassen sich einzelne Szenen und häufig auch die komplette Heldenreise in zahlreichen digitalen Spielen mit einer ausgeprägten Handlungskomponente nachweisen. Bei der Vermittlung des Heldenprinzips als Entwicklungsstruktur bietet die Nutzung solcher digitalen Spiele eine hervorragende Möglichkeit, den Wissenstransfer zu unterstützen. Die Teilnehmer können allein oder im Team eine oder mehrere Szenen spielerisch erleben und dann retrospektiv in Einzelarbeiten oder Gruppendiskussionen reflektieren. Dies ermöglicht und erfordert die tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Heldenprinzip und fördert dessen Verständnis als Grundmuster für Entwicklung. Dabei wird die Fähigkeit der Teilnehmer entwickelt, das Heldenprinzip auch in spielexternen Situationen, wie Arbeits-, Innovations- und Entwicklungsprozessen, anwenden zu können. Zusätzlich wirkt das Erlebnis des Eintauchens in die digitale Spielewelt auf der Metaebene. So werden die Gefühle und Erlebnisse des Spielers zur Heldenreise ins Abenteuerland des Spiels als persönliche Geschichte („Story“) erfahren und mit den zu reflektierenden Inhalten verknüpft. Der anschließende Austausch in der Gruppe verstärkt diese Verknüpfung durch die Kommunikation der eigenen Erlebnisse und das Erfahren der Geschichten anderer Teilnehmer im besten Sinne des Storytellings, dessen positiver Effekt auf den Wissenstransfer hinreichend bekannt ist (Denning 2001, Herbst 2008). 30 Blended Game-based Learning Um erste Erkenntnisse über die mögliche Einbettung von digitalen Spielen in die Interventionen zu erlangen, wurden Tests mit Probanden durchgeführt. Diese entsprachen den potenziellen Zielgruppen für die Interventionen und wiesen als besonderes Merkmal minimale bis gar keine Erfahrungen mit digitalen Spielen auf. Über die Jahre entstanden in digitalen Spielen eine Menge von Konventionen und Quasi-Standards für Spielmechaniken. In unseren Tests erwies sich dies jedoch als immense Schwelle, die zu überwinden den Teilnehmern mitunter große Mühen abverlangte. So gibt es in vielen digitalen Spielen „Tutorials“ – kleine Abschnitte, die den Spieler in die zentralen Konzepte und Mechaniken des Spiels einführen (etwa das Springen und Gegenstände untersuchen oder die Steuerung der Spielkameraperspektive). Diese Tutorials, die von relativ erfahrenen Spielern in wenigen Minuten absolviert werden können, wurden von den Testkandidaten erst nach einer halben Stunde oder mehr gemeistert. Obwohl sich dies positiv auf die Heldenreise der Metaebene auswirkt – je weniger Erfahrung, desto abenteuerlicher das Spielerlebnis – führt es dazu, dass die eigentlichen Spielinhalte in weite Ferne rücken. Gerade Spieltypen mit komplexen Handlungsstrukturen – wie digitale Rollenspiele, die oft besonders gute Beispiele für die Stationen des Heldenprinzips enthalten – erfordern/bieten selbst für erfahrene Spieler häufig 30 oder gar 100 Stunden an Spielzeit. In „Dragon Age: Origins“ etwa können die Szenen des ersten Aktes sehr gut nachvollzogen werden, bis jedoch etwa die „Überwindung der 1. Schwelle“ der Spielhandlung erlebt wird, kann ein erfahrener Spieler bereits 6-8 Stunden im Spiel verbracht haben. Natürlich ist es möglich, den Interventions-Teilnehmern die Geschichten der Spiele einfach zu erzählen, dadurch verliert sich jedoch die eigentlich so besondere, performative Komponente der erlebten Reise. Um auch weniger spielerfahrenen Teilnehmern diese Erfahrung zugänglich zu machen, wird im Projekt HELD mindestens eine Modifikation (Mod) eines digitalen Spiels erstellt werden. Diese Mod wird den Fokus auf die Narration nach dem Heldenprinzip legen und eine geringere Spieldauer aufweisen. ganzer Gruppen von Teilnehmern sind digitale Spiele dieser Art auch hervorragend für den Einsatz als kreativ-ästhetische und vor allem performative Übungen in den Interventionen geeignet. Letztlich kann festgehalten werden, dass die Unterstützung des Wissenstransfers durch digitale Spiele im Allgemeinen sowie im speziellen Kontext der Interventionen im Projekt HELD vielversprechende Möglichkeiten bietet. Hierbei muss jedoch immer – unter Berücksichtigung der Vor- und Nachteile der verschiedenen Optionen – eine für die entsprechende Interventionssituation und das Teilnehmerprofil geeignete Auswahl getroffen werden. Trotz einer solchen möglichen Konzentrierung auf die Stationen der Heldenreise kann und soll die aktive Spielzeit nicht zu stark eingeschränkt werden, denn dies wäre nur auf Kosten des so wichtigen performativen Elements möglich. Daher scheinen sich diese digitalen Spiel- und Interaktionstypen weniger für die Verwendung in den Interventionen selbst anzubieten, als vielmehr für die Nutzung als Vor- und Nachbereitung der zu bearbeitenden Konzepte. In den eigentlichen Präsenzphasen der Interventionen werden die Erlebnisse der Teilnehmer dann als Storytelling in der Gruppe geschildert und die Verknüpfung zum Heldenprinzip diskutiert. Diese Kombination von Präsenz- und Fernlernen wird im Kontext des elektronisch unterstützten Lernens typischerweise als „Blended Learning“ bezeichnet (Graham 2006). Daher bezeichnen wir diesen Ansatz als „Blended Game-based Learning“. Die Autoren Prof. Dr. Carsten Busch ist Professor für Medienwirtschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) in den Studiengängen Medieninformatik und Interaction Design / Game Design. carsten.busch@htw-berlin.de Public Gaming Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht möglich und sinnvoll ist, eine Unterstützung der Präsenzphasen und die Erweiterung des bereits umfangreichen Sortiments an kreativ-ästhetischen und performativen Übungen durch digitale Spiele anzustreben. Denn häufig sind komplexe und teilweise abstrakte Interaktionsmechanismen ein Grund für die enormen Unterschiede der benötigten Spielzeiten und die empfundene Spielbegeisterung bei Nicht- und Vielspielern. Florian Conrad und Martin Steinicke sind wissenschaftliche Mitarbeiter der HTW Berlin. martin.steinicke@htw-berlin.de florian.conrad@htw-berlin.de Literatur Conrad, F. (2009). Public Gaming – Exploring the Potentials of Public User Interfaces in Pervasive Games”, Bachelorthesis, HTW Berlin. Denning, S. (2001). How Storytelling Ignites Action in Knowledge-Era Organizations. Journal of Organizational Change Management, Vol. 14, Nr. 6, S. 609-614. Graham, C.R. (2006). Blended Learning Systems – Definition, Current Trends, and Future Directions. In Bonk, C.J. & Graham, C.R. (Hrsg.), The Handbook of Blended Learning: Global Perspectives, Local Designs. Hersbruck: Pfeiffer. Herbst, D. (2008). Storytelling. Konstanz: UVK Verlag. Howard, J. (2008). Quests – Design, Theory and History in Games and Narratives. London: A K Peters. Rollings, A. & Adams, E. (2003). Andrew Rollings and Ernest Adams on Game Design. Prentice Hall Computer, S. 93. Eine vielversprechende Möglichkeit, diese Barrieren zu umgehen, findet sich im zweiten Ansatz, dem Konzept des Public Gamings. Basierend auf Pervasive Games, einer Verschmelzung virtueller und realer Spielewelten, werden hier die Voraussetzungen und Anwendungsmöglichkeiten für digitale Spiele im öffentlichen Raum beschrieben. Dazu gehören kurzweilige, leicht verständliche Inhalte, verbunden mit intuitiver Bedienbarkeit und möglichst expressiven Benutzerschnittstellen. Das können beispielsweise akustische, haptische, bewegungs- oder gestengesteuerte Eingabe- und unkonventionelle, auch für Zuschauer gut wahrnehmbare Ausgabemedien sein (Conrad 2009). Durch die niedrige Lernkurve und die Möglichkeit zur Einbindung præview Nr. 1 | 2011 31 Vom Entdecken des Neuen durch die „Entüblichung“ des Denkens Dælphi – Blick in die Zukunft der Arbeitsforschung Die Aufgabe der Arbeitsgestaltungs- und Präventionsforschung ist es, heute Konzepte zu entwickeln, um der Wirtschaft und Gesellschaft die Mittel zur Verfügung zu stellen, rechtzeitig den Entwicklungstendenzen der Zukunft zu begegnen. In dieser Kolumne werfen Experten einen Blick nach vorn und skizzieren aktuelle Trends und zukünftige Forschungsbedarfe. Zur Programmatik eines ästhetisch-performativen Ansatzes in der Organisationsforschung und -gestaltung Wolfgang Arens-Fischer, Michael Brater, Karin Denisow, Stefanie Porschen, Bernd Ruping, Wolfgang Stark, Nina Trobisch Die in diesem Heft aufgezeigten Themen eröffnen einen ersten Blick auf ein Spektrum offener Fragen, die mit Hilfe ästhetisch-performativer Zugänge zur Organisation formuliert und beantwortet werden können. Dieser Blickwinkel ist notwendig, weil eine Ökonomie und Arbeitswelt, in der ein Umgang mit Offenheit und Unplanbarkeit immer weiter in das Zentrum rückt, andere Organisationsrahmen und Lenkungsformen erfordern, als sie in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen vorzufinden oder vorstellbar sind. Wachsende Komplexität und Geschwindigkeit in der Veränderung des Wissens und denkbarer Strukturen können weder durch restriktive noch durch beliebige Rahmenbedingungen sinnvoll gestaltet werden. Soll kreative Leistungsfähigkeit gefördert sowie Über- wie auch Unterforderung der Mitarbeiter verhindert werden, gilt es, die Erforschung neuer Wege aus den stark vorstrukturierenden und damit einengenden und manchmal auch widersprüchlichen Arbeitsanforderungen in der Innovationsökonomie mit Hilfe der in diesem Heft beschriebenen neuen und unverbrauchten Zugänge weiterzuverfolgen. Künstlerische Prozesse auf Basis wissenschaftlicher Herangehensweisen genauso wie forschende Zugänge in der Kunst gelangen gerade in der Anwendung in Organisationen zu neuartigen Erkenntnissen und transdisziplinär begründeten Ergebnissen („Artistic Research“) jenseits linear angelegter Analysestränge, die die Verknüpfung einer Maßnahme quasi eins zu eins mit einer erwartbaren Wirkung verbinden. Sie bergen hohes Potenzial für die Entdeckung von organisationaler Veränderungsfähigkeit und Veränderungsbedürftigkeit und damit meist mittelbar auch innovativer Prozesse. Die Anwendung künstlerischer, erfahrungsgeleiteter und spielerischer Analyse- und Kommunikationsmethoden in organisationalen Settings lassen Innovationen durch die Entdeckung des Anderen, des Unerwarteten, des Optionalen erwarten, das neue Wege des Handelns in Unternehmen eröffnet. Vor diesem Hintergrund erscheint die weitergehende Untersuchung von Improvisationsmustern oder der Funktionsweise ästhetischer Prozesse auf Innovationsarbeit im Speziellen und auf das Arbeitshandeln im Allgemeinen zur Gestaltung der Zukunft bedeutsam. Hier schließen sich folgende Forschungsüberlegungen an: 32 Erforschung von innovativer Arbeit Um einer kreativen Innovationsarbeit gerecht zu werden, bedarf es spezifischer Organisationsformen zwischen Geschlossenheit und Offenheit, zwischen Planung und Raum für Unplanbares, die helfen das kreative Arbeitsvermögen der Menschen zu erschließen. Dadurch ergeben sich neue Herausforderungen an die Arbeitsgestaltung – es gilt also herauszufinden, wie sich innovative Arbeit konstituiert. æ Durch welche spezifischen Eigenschaften zeichnet sie sich gegenüber Produktionsarbeit, industrieller Produktion, Verwaltungsoder Dienstleistungsarbeit aus? Welche Rolle spielt hierbei künstlerisches, erfahrungsgeleitetes und spielerisches Handeln? Wann spricht man von Innovationsarbeit als Kernaufgabe, wie gestaltet sich Innovationsarbeit als Randaufgabe? Die These, dass innovative Arbeit neue Anforderungen an das Zusammenspiel von Offenheit bzw. Freiraum und die Lenkung in Organisationen stellt, führt zunächst zu der Frage, wie die Erkennbarkeit ihrer Veränderungsfähigkeit befördert werden kann, damit „man“ sich nicht der Struktur und den Prozessen widerstandslos ergibt. Zudem brauchen Mitarbeiter andere Fähigkeiten, um in neuem Ausmaß zwischen Abstraktem und Konkretem jonglieren zu können. æ Lassen sich informelle Prozesse und der Umgang mit implizitem Wissen fördern? Wie können die Arbeit und die Organisation dazu entsprechend gestaltet werden? Schließlich wirft die Leistungsbewertung bei Innovationsarbeit neue Fragen auf, da unklar ist, was hierbei die eigentliche Leistung ist. æ Was muss eine Bewertung von Innovationsarbeit tatsächlich berücksichtigen? Das, was sich am und im Material zeigt, was als seinsmächtiger Befund dem Gestaltenden entgegentritt wie die Struktur des Marmors, ohne die Michelangelo seinem David nicht diese Dynamik und Vitalität hätte verleihen können – das ist, was den Horizont weitet und die Koordinatensysteme des Gewohnten aushebelt. Die Entüblichung des Denkens und Handelns über die Achtsamkeit für das Vorfindliche wird so Kennzeichen einer der Kunst entlehnten Eingriffs- und Reflexionsweise für organisationale Prozesse. Dabei entstehen ständig neue Variationen impliziten Wissens über das Material, die zugleich an ihm erprobt werden. Mit künstlerischem Handeln werden Ziele nicht erreicht, sondern neue gefunden, und Regeln nicht beachtet, sondern eigene gesetzt. Im künstlerischen Handeln werden (soziale, technische, organisatorische, politische, biografische) Dynamiken aktiv gestaltet. æ Abgesehen davon, dass der künstlerische Prozess selbst nicht ausreichend erforscht ist, stellt sich die Frage, ob und wie unterschiedliche Materialien auf den Prozess zurückwirken und ihn modifizieren bzw. das künstlerische Subjekt als ein in seinem Grunde zutiefst soziales verändern. Ferner sind für viele gesellschaftliche Handlungsfelder Fragen der Anwendung, Übertragung und Ausgestaltung zu klären, etwa im Hinblick auf konkrete Arbeitsprozesse, Organisationsentwicklungen oder die Gestaltung von Bildungsprozessen. Generell ist die Bildungswirkung künstlerischer Prozesse weiterhin umstritten. Schließlich sind weder die subjektgebundenen Voraussetzungen des künstlerischen Handelns klar noch die Formen, in denen man es erlernt, noch seine sozialen Rahmenbedingungen. Das künstlerische Handeln und die Materialität des Gestaltungsprozesses Künstlerische Prozesse haben sich längst von klassischen Materialien und Techniken gelöst. Sie können generalisiert als die Art aufgefasst werden, wie mit jedem Material – vom Rhythmus einer sozialen Interaktion, vom Bild einer situativen Konstellation bis hin zum eigensinnigen Gestus eines Mitarbeiters – umgegangen werden kann, um die darin immanenten Möglichkeiten zu erfassen und Überraschendes, Unvorhergesehenes hervorzubringen, das zuvor gerade nicht in der Vorstellung vorhanden war. Die fluide Organisation – Organisation als Improvisation Das Wissen, wie ein soziales System funktioniert oder wie innovative Prozesse ermöglicht werden, wird als „Practical Body of Knowledge“ meist intuitiv und implizit angewandt und kontinuierlich ergänzt – ist daher immer in Bewegung. Die Analyse und Entwicklung von Mustern (Patterns) hat sich nicht nur zur Beschreibung des impliziten Wissens etabliert, das sich für Herausforderungen des Alltags in Organisationen als erfolgreich (viabel) erwiesen hat. Muster sind auch in vielen anderen Bereichen (z. B. von der bildenden Kunst und Musik bis zur theoretischen Physik, aber auch in Disziplinen angewandter Wissenschaft wie Architektur, Softwareentwicklung oder Pädagogik) die Grundlage der Analyse impliziten Wissens, weil wir – wie Hirnforscher und Psychologen sagen – in Mustern denken und handeln. Muster bilden auch jene „Minimal Structures“, durch die das Potenzial für improvisatorische und kreative Problemlösungen im Handeln entdeckt werden kann. Für die Organisationsforschung gilt hier die Frage: æ Wie kann das implizite Wissen der Muster (a) entdeckt und entziffert, und (b) auf eine Weise notiert werden, dass Flexibilität und Kreativität nicht nur ermöglicht, sondern im organisationalen Kontext geradezu herausgefordert werden? præview Nr. 1 | 2011 Patterns in der Kunst und in Organisationen sind Ergebnisse eines gemeinschaftlichen Prozesses, in dem Potenziale und Lösungsstrategien verdichtet werden, die sich durch die Beschäftigung mit dem Material sowie in den eingeübten Vorgehensweisen, Vorstellungen und Kompetenzen der Handelnden herausgebildet haben. Auf diese Weise verbinden sie betriebswirtschaftlich orientierte Wertschöpfungsprozesse mit Kultur, Wissen und Performanz. Der Prozess der Mustererkennung in Organisationen dient dazu, die Strukturen zu identifizieren und zu dokumentieren, die das Wesen einer Organisation ausmachen und ihr den je spezifischen Stempel aufdrücken. æ Auf welche Weise können Verbindungen zwischen den Mustern gelingen? Ihre lexikalische Struktur, d.h. die Zeichen, semantischen Relationen und Bedeutungs- und Sinnfelder sind zu entschlüsseln. Die grammatikalischen Regeln der Verbindung zwischen Mustern und zwischen Mustern verschiedener Disziplinen sind zu analysieren, um diese in Organisationen im Sinne einer Mustersprache nutzbar zu machen. Ähnlich wie im künstlerischen Prozess, bildet die achtsame Auseinandersetzung mit den organisationalen Befunden, dem Material und den darin eingeschlossenen musterhaften Merkmalen die Grundlage für Variationen und Verbindungen, die – wie in der Improvisation – flexibles, kreatives Handeln und damit Innovationen sowohl bei der (Er-)Findung als auch bei der Umsetzung jenes „Anderen“ ermöglichen, das in der Zweckrationalität linearen Denkens und Agierens gar nicht erst in den Blick gerät. 33 prævokation Die fruchtbarsten Diskussionen entstehen durch den Austausch kontroverser Ansichten. Die Kolumne prævokation ist ein Forum für die Formulierung von pointierten Standpunkten abseits der „herrschenden Meinung“. Der Künstler als Vorbild der Arbeitsforschung? Da ist Musik drin! Die Arbeitsforschung ist multi-, inter-, transdisziplinär. Wir sind es gewohnt, uns als Psychologen, Soziologen, Mediziner, Ökonomen, Ingenieure mit den Perspektiven und „Eigenarten“ der jeweils anderen wissenschaftlichen Disziplinen auseinanderzusetzen, miteinander zu arbeiten und – zunehmend erfolgreich – gemeinsame Ergebnisse zu erzielen. Warum sind uns die Kollegen aus der Kunstund Kulturwissenschaft immer noch so fremd? Weil sie so „anders“ sind! Dabei könnten wir viel von Künstlern, Kreativen und Kulturschaffenden lernen. Künstlerische Arbeitsprozesse, Beschreibungssprachen und Instrumente spielen nach wie vor in Arbeit und Wirtschaft und den entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen keine bedeutende Rolle. Die Kunst- und Kulturbranche selbst ist aber wirtschaftlich ungeheuer bedeutend. Sie bewegt sich dabei nicht in einem Nischendasein außerhalb der Marktkräfte und -dynamiken, im Gegenteil: In Deutschland sind weitaus mehr Erwerbspersonen in Kunst-, Kultur- und Kreativberufen tätig als in der Automobilindustrie. Und doch arbeiten und leben viele Menschen dort so „anders“, als wir es aus klassischer Produktion und Dienstleistung gewohnt sind. Ein Blick auf diese „anderen“ Arbeits- und Lebensentwürfe lohnt durchaus. Der Künstler als Berufsinnovator Das Innovationsmanagement hat zum Ziel, Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass etwas irgendwie geartet Neues entsteht, intentional-zweckorientiert oder zufällig-explorativ. In diesem Sinne ist der Künstler ein Berufsinnovator: Er strebt danach, mit jedem Kunstwerk wieder eine Grenze auszudehnen, eine neue Perspektive zu entdecken, ein neues Stilmittel umzusetzen, zumindest eine neue Variation des Vorhandenen zu erschaffen. Kunst ist Innovation per se. Wie Michael Brater in seinem Beitrag ausführt, managet der Künstler aber die Innovation nicht, er nimmt beobachtend an Entstehungsprozessen teil und begleitet diese quasi „helfend“, aber nicht steuernd. Die „Krise“ ist dabei ein Teil des Innovationsprozesses. Hier sind wir Arbeitsforscher „anders“. Wir managen, entwickeln Handlungsleitfäden, Checklisten, Instrumente und Toolboxen, die unser Wissen über Gestaltungsprozesse kondensieren, interindividuell nutzbar machen und das Risiko des Scheiterns von Innovationsprozessen minimieren sollen. Da passen Versuch und Irrtum, Begleiten statt Steuern, Geschehenlassen statt Planen und das Akzeptieren der Krise als schöpferisches Element nicht ins Bild. Aber vielleicht minimieren wir mit unserem „Innovationsmanagement“ nicht nur das Scheiternsrisiko, sondern auch die Chance auf Sprunginnovation. Künstlerleben als Modell moderner Erwerbsbiografien Der Künstler kann aber auch als Vorbild in anderen Gestaltungsbereichen der Arbeitsforschung dienen. Seit mehreren Jahren rückt beispielsweise die Frage der zunehmenden Diskontinuitäten des Erwerbslebens in den Fokus des Forschungsinteresses. Was wir nun als neue Flexibilisierung, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses oder postindustrielles Prekariat beschreiben, ist bei Künstlern nie anders gewesen und macht den Künstler geradezu aus. Die Normalbiografie eines Künstlers ist unstet, nichtlinear und diskontinuierlich, geprägt von dem Suchen und Beschreiten von immer neuen Wegen. Die Bedingungen der „neuen Arbeitswelt“ nähern sich durch Internationalisierung, Beschleunigung und Pluralismus immer mehr dem an, was das „künstlerische Leben“ schon immer ausgemacht hat: Unsicherheit und Ungewissheit, ein Neben- (und Mit-)einander von Selbstverwirklichung und Selbstausbeutung, Erfolg und Scheitern, Entwicklung und Krise, Flexibilität und Stabilität. Künstler gehen mit diesen Herausforderungen „professionell“ um, nicht weil sie leidensoder widerstandsfähiger sind, sondern weil sie Handlungsmodelle und ein Skillrepertoire besitzen, um diese Diskontinuität und Unsicherheit zu beherrschen, und sich nicht zuletzt eigene Sicherungssysteme (wie die Künstlersozialkasse) geschaffen haben. Hier könnten wir Modelle unmittelbar übernehmen. Kunst als Methodenpool Weitere Gestaltungsbereiche, in denen wir ganz konkret von Künstlern lernen und unmittelbar künstlerische Mittel einsetzen können, liegen im gesamten Emotionsbereich, in dem wir mangels alternativer Methoden widersinnigerweise immer noch mit Verbalisierung arbeiten und damit zwangsläufig rational konstruieren. Oder der Bereich der gesamten handlungsbasierten und erprobenden Intervention, die bei uns nach wie vor ihren Höhepunkt in Rollenspielen und nachfolgender analytischer Reflexion findet. Künstler sind nicht die amüsanten Hofnarren der Arbeitsforschung, sondern bieten genau dort Instrumente, Beschreibungssprachen und Handlungskonzepte, wo wir mit unserem Methodenset nicht weiterkommen. Und wahrscheinlich übersehe ich an dieser Stelle sogar die wichtigsten Impulspotenziale aus der Kunst, weil ich als „traditioneller“ Arbeitsforscher schon wieder viel zu instrumentell und zweckrational denke ... Impressum præview – Zeitschrift für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention 2. Jahrgang 2011 – ISSN 2190-0485 – Erscheinungsort Dortmund Herausgeber: Dr. Rüdiger Klatt, Dortmund Verantwortlicher Redakteur: Kurt-Georg Ciesinger, Dortmund Online-Redaktion: Johannes Jahns Lektorat: Ursula Meyer, Projektträger im Deutschen Zentrum für Luftund Raumfahrt, „Arbeitsgestaltung und Dienstleistungen“, Bonn Druck: Druckerei Schmidt GmbH & Co. KG, An der Wethmarheide 36, 44536 Lünen Layout: Q3 design GbR, Blenkerweg 33, 44265 Dortmund fon 0231. 222 35 91, Q3design@dokom.net, www.Q3design.de Bildnachweis: Porträts: Dörte Schröder, S. 2 (Balcázar); Dagmar Siebecke, S. 3 (Klatt) und S. 34 (Ciesinger); Mike Gallus, S. 11 (Böhle); Josef Walter, S. 15 (Brater) und S. 17 (Wagner, Munz, Hartmann); Yuri Arcurs/fotolia.com, S. 19 (2); Ruth Hommelsheim, S. 25 (Dell); Florian Conrad, Martin Steinicke, Nina Trobisch, S. 29. Bezugsadresse /Kontakt: Redaktion præview gaus gmbh – medien bildung politikberatung Märkische Straße 86-88, 44141 Dortmund, fon 0231/47 73 79-30, fax -55 praeview@gaus.de, www.zeitschrift-praeview.de Die in diesem Heft dargestellten Verbundprojekte werden aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und aus dem Europäischen Sozialfonds der Europäischen Union gefördert. Die Forschungsverbünde KES-MI (FKZ 01FM08008-14), THINK (FKZ 01FM08015-6) und MICC (FKZ 01FM08040-4) werden gefördert im Forschungsschwerpunkt „Innovationsstrategien jenseits traditionellen Managements“, der Forschungsverbund KunDien (FKZ 01FB08011-7) wird gefördert im Forschungsschwerpunkt „Dienstleistungsqualität durch professionelle Arbeit“, der Forschungsverbund HELD (FKZ 01FH09159) wird gefördert im Forschungsschwerpunkt „Balance von Flexibilität und Stabilität in einer sich wandelnden Arbeitswelt“. Die Forschungsverbünde werden jeweils betreut durch den Projektträger im DLR „Arbeitsgestaltung und Dienstleistungen“. Kurt-Georg Ciesinger Redakteur der Zeitschrift præview 34 præview Nr. 1 | 2011 35