Der Mann aus den Anden will seine Kunst „als Heilungsritual“ verstanden wissen

Antonio Paucar, Nachfahre peruanischer Ureinwohner, verwebt und vereint in der Berliner Galerie Thumm kunstvoll die „schweigenden Stimmen“ seines Volkes.

Antonio Paucar  in der Berliner Galerie beim Flechten einer symbolstarken Alpaka-Wollspirale  
Antonio Paucar in der Berliner Galerie beim Flechten einer symbolstarken Alpaka-Wollspirale Galerie Barbara Thumm/Jens Ziehe

Eben noch saß er auf dem Fußboden der Galeriehalle und flocht eine wollene Spirale. Fast sah es so aus, als würden seine langen ebenholzfarbenen Haare mit hineingeraten in das schwarz-weiße Flechtwerk.

Antonio Paucar hat ein Gebilde geschaffen, das uns Europäer an die Op Art eines Vasarely erinnert. Mag sein, dass er den ungarisch-französischen Klassiker der frühen Moderne irgendwie auch im Hinterkopf hatte, schließlich studierte der Peruaner fast fünf Jahre an der Berliner Universität der Künste bei Rebecca Horn, der Magierin und Poetin der deutschen Konzeptkunst.

Sehr wahrscheinlicher aber flocht er diese markante Spirale als Symbol für die universale, auf die Einheit von Mensch, Natur und Kontinuität gerichtete Lebenseinstellung der Ureinwohner in den Anden, die einst von den Bergen aus in die kosmischen Gefilde blickten und ihre Götter befragten. Die Spirale, erzählt er, symbolisiere das duale und das andine (wellenförmige) Denken – umfassend und auf die Gemeinschaft gerichtet. Sie verbinde Reflexion und Aktion, Vergangenheit und Gegenwart als Zyklus, im Gegensatz zum linearen westlichen Konzept mit seiner unidirektionalen Vorstellung von Zeit. „Die Spirale lädt“, sagt der Künstler, „zur Meditation, die Energie erzeugt und in Verbindung mit dem All, mit der Natur, mit Pacha Mama (Mutter Erde) steht.“

Installation der seit Urzeiten traditionellen Alpaka-Wollfarben: Schwarz, Weiß, Braun
Installation der seit Urzeiten traditionellen Alpaka-Wollfarben: Schwarz, Weiß, BraunAntonio Paucar/Galerie Thumm/Jens Ziehe

Paucar ist der Sohn indigener Eltern, er kommt gut zurecht mit dem Pendeln zwischen seinem hochgelegenen Anden-Dorf, wo er die meiste Zeit mit seiner Familie lebt und sein Atelier hat, fernab der derzeitigen gewaltsamen politischen Verwerfungen in Lima; und Berlin, der Stadt mit seinen vielen Freunden, auch Sammlern und der Kreuzberger Galeristin Barbara Thumm. Vor neun Jahren stellte er bei ihr schon einmal aus. Ich erinnere mich ganz intensiv an ein Video: Paucar hing da, eingesponnen in einen Kokon aus weißer Alpaka-Wolle, kopfunter in den Bäumen an einem grasbewachsenen Berghang  seiner Heimat.

Paucar fügt Teigbuchstaben zu Namen ermordeter indigener Aktivisten gegen die Regenwaldabholzung am Amazonas.
Paucar fügt Teigbuchstaben zu Namen ermordeter indigener Aktivisten gegen die Regenwaldabholzung am Amazonas.Antonio Paucar/Galerie Barbara Thumm/Jens Ziehe

Auch jetzt ist es wieder die Wolle der sanftmütigen, zutraulichen Alpakas. Die formte er zu weichen, flauschigen Skulpturen aus an der Galeriewand herabbaumelnden Wollsträngen: schwarze, braune, weiße, in der Mitte zusammengeflochten zum typischen  Schlangen- und Rauten-Muster in der Kleidung, den Mützen und Decken der Anden-Bewohner. In dieser schönen Arbeit steckt allerdings eine tiefe Traurigkeit. Die kapitalistische Marktwirtschaft verlangt von den peruanischen Alpaka-Bauern fast nur noch weiße Wolle, die sich weltweit verkaufen lässt und je nach den Modetrends gefärbt werden kann. Das aber hat zur Folge, dass die braunen und schwarzen Alpakas verschwinden, es nur noch weiße Herden an den Andenhängen gibt.

Antonio Paucar in der Villa Aurora, Santa Monica, im Video „The Dreams of Feuchtwanger“, 2014/2023 
Antonio Paucar in der Villa Aurora, Santa Monica, im Video „The Dreams of Feuchtwanger“, 2014/2023 Antonio Paucar/ Galerie Barbara Thumm

„Weaving and uniting silenced voices“ nennt Paucar seine Ausstellung. Das heißt auf Deutsch: „Stumm gemachte Stimmen verweben und vereinen“. Dafür formte er ein Tableau aus roter Erde, rissig getrocknetem Schlamm im Amazonasgebiet. Aus einem Berg mit Teigbuchstaben fügte er in weiten Bahnen durchs wüste Land Namen aneinander zu einer Kette. Es sind die der ermordeten indigener Führer des Kontinents, die sich des abermaligen Landraubes, 500 Jahre nach der Kolonisation, widersetzten. Es sind die Namen getöteter Aktivisten, die sich gegen die Abholzung des Regenwaldes und die totalitäre Politik lateinamerikanischer  Machthaber stemmten. Die Vergangenheit werde Gegenwart und zerstöre die Zukunft, sagt Paucar.

Paucars Drohnenkampf in den Hügeln der Pacific Palisades bei Santa Monica: Videosequenz aus „The Dreams of Feuchtwanger“, 2014/2023 
Paucars Drohnenkampf in den Hügeln der Pacific Palisades bei Santa Monica: Videosequenz aus „The Dreams of Feuchtwanger“, 2014/2023 Antonio Paucar/ Galerie Barbara Thumm

Und er hat ein Video gedreht, in der Feuchtwanger-Villa im kalifornischen Santa Monica. Ein Stipendium machte es möglich. In der Bibliothek der Villa Aurora, in der einst der aus Nazideutschland via Paris und Moskau in die USA geflohene jüdische Dichter Lion Feuchtwanger lebte, kämpft Paucar mit einem Schlagstock, wie ihn vielleicht die Inkas nach 1500 im vergeblichen Kampf wider die Konquistadoren eingesetzt hatten, gegen eine Überwachungsdrohne. Der Immigrant Feuchtwanger, daran erinnert der Künstler aus den Anden mit seiner drastischen Aktion, wurde ab 1950 in der McCarthy-Ära verhört „wegen  des Verdachts antiamerikanischer, linker Unterwanderung“. Das abstruse Duell setzt Paucar draußen, in den karg bewachsenen Sandhügeln der Pacific Palisades fort, bis die Drohne zerschmettert am Boden liegt.

Alles in der Kunst des Anden-Mannes ist metaphorisch und hat zugleich aktuelle Brisanz. Und alles modern Konzeptionelle ist immer auch so gedankenverwoben wie emotional mit seinen indigenen Wurzeln verbunden. Antonio Paucar will seine Kunst „als Heilungsritual“ verstanden wissen. „Für eine Welt, die immer stärker von struktureller Gewalt und einer schwindenden Wertschätzung des Lebens geplagt wird.“ In einem Gedicht schreibt er: ,,Lasst uns Schafe, Lamas und Alpakas zählen / Vicunjas, Kühe, Vögel, Bäume, Steine und mehr / Denn wenn wir anders träumen, können wir vielleicht die Welt und uns selbst verändern.“

Weaving and uniting silenced voices. Galerie Thumm, Markgrafenstr. 68, Kreuzberg, Di–Sa 12–18 Uhr, Finissage am 13. Oktober