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Gottfried Böhm zum 100. Geburtstag: Ein jegliches hat seine Zeit

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Ein Foto aus den ersten Tagen, Neviges 1968.
Ein Foto aus den ersten Tagen, Neviges 1968. © Inge und Arved von der Ropp Stiftung/ DAM

Der Architekt Gottfried Böhm feiert seinen 100. Geburtstag. Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt ehrt ihn mit einer Ausstellung über eines seiner bedeutendsten Bauwerke, die Kirche von Neviges.

Ein ausgreifender Strich, unverkennbar. Diese anmutige Linie, so erinnert man sich. Vom Oval der Elan, so war es schon einmal, länger her bereits, 2006, da ehrte das Deutsche Architekturmuseum (DAM) Gottfried Böhm, es war in seinem 86. Lebensjahr. Denn alles hat seine Zeit.

Am Donnerstag feiert der Baukünstler in Köln seinen 100. Geburtstag. Für das DAM ein Anlass, ihn abermals zu würdigen. Denn ein jegliches hat seine Zeit, auch Aufbewahren, wie es an derselben Stelle heißt. Und so steht man im DAM in einer Ausstellung über eines der frühen und zugleich bedeutendsten Bauwerke Böhms, die Wallfahrtskirche von Neviges. Allein um „Neviges“ geht es – doch um was für einen Kosmos.

Deshalb hängen an den Wänden des DAM Fotografien, die das Bauwerk zeigen, erste Pläne, Abbildungen, die den Wettbewerb schwarzweiß dokumentieren, Abbildungen, die den gegenwärtigen Zustand belegen – vor allem aber diejenigen Ansichten, die in Erinnerung geblieben sind, die grandiosen Zeichnungen des Baumeisters, ob mit Kreide, Kohle oder, ebenfalls handverlesen, aus dem Bleistiftgebiet. Suggestive Vorstellungen, expressive Visionen, denn Gestaltungskraft bezog Böhms Baukunst aus einer bildhauerisch geschulten Hand.

Neviges, mit 800 Sitzplätzen und 2200 Stehplätzen der zweitgrößte Sakralbau im Erzbistum Köln, wurde zum Sinnbild einer Betonskulptur. Auf einem ansteigenden Pilgerweg entstand in einem Zeitraum von fünf Jahren ein Bauwerk des Brutalismus, so haben es jetzt im DAM Miriam Kremser und Oliver Elser rekonstruiert, nachdem Böhms Entwurf im ersten Wettbewerb noch unterlegen war. An den Wänden die 1962/63 ausgezeichneten Entwürfe, die für die Zeit typischen Vorschläge. Das Gotteshaus als Scheune. Als Pavillon à la Mies van der Rohe. Als gefaltete Pyramide. Oder aber als eine feste Burg, wie Böhm sie vor Augen hatte. Die Anekdote will es, dass der fast erblindete Kölner Erzbischof Frings sich für Böhms Vorschlag entschied, weil er dessen skulptural durchgeformtes Modell mit den Händen ertasten konnte.

Den Beton kneten. So war es unbedingt bereits an anderer Stelle im Bergischen Land gewesen, in Bensberg, wo Böhm 1959 mit dem rohen Baustoff das Rathaus errichten ließ, hier bereits eine wuchtige Betonskulptur, in diesem Fall eine pathetische Stadtkrone säkularer Selbstdarstellung, ein theatralisches Monument auch, wie ebenfalls im DAM dokumentiert, erläutert mit den Worten der seinerzeitigen Architekturkritik. Ein jegliches hat seine Zeit.

Gottfried Böhm 2008.
Gottfried Böhm 2008. © Christian Schaulin

Diese Betonarchitektur im Bergischen Land, die Grundlinien der ursprünglichen Anlage weiterinterpretierend, wurde, wie vieles, was Böhm in den 60er Jahren gebaut hat, errichtet im Zeichen der Burg, als freie Plastik in historischer Umgebung.

Dass Gottfried, 1920 geboren in Offenbach als Sohn eines der großen Kirchenbaumeister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Dominikus, ursprünglich Bildhauer werden wollte, ist seiner Baukunst abzulesen. Als erster deutscher Architekt wird er 1986 mit der bedeutendsten Architekturehrung der Welt ausgezeichnet, dem mit dem Nobelpreis verglichenen Pritzker-Preis. Gewürdigt wird ein Architekt, dessen Gebäude nach den Gesetzen von Körperlichkeit und Präsenz durchgebildet sind.

Die Baumeisterdynastie Böhm haben die Söhne fortgesetzt, Stephan, Peter und Paul. Denn die Böhms können das, auch deshalb hat man Paul den Bau der von Anfang an umkämpften, mit unbeirrbarem Engagement durchgesetzten, Häme und Hass abgetrotzten Moschee in Köln-Ehrenfeld anvertraut, die heute allerdings von der Ditib beherrscht wird. Auch sie eine Skulptur, wie so vieles, was im Zeichen der Böhms errichtet wurde.

Gottfried Böhm selbst hat sich immer wieder neu orientiert, verschiedene Stilepochen prägen sein Werk: die eher malerische der 50er Jahre; die expressiv-plastische der 60er und 70er; es folgte die der großen, der rhetorischen, der auch zur Transparenz tendierenden Gesten der 80er und 90er Jahre. Ein bleibendes Motiv, dass sich Böhms Architektur häufig dazwischen gezwängt hat, um die Fuge zwischen Historie und traditionsbehafteter Moderne zu nutzen.

Mit dem Paderborner Diözesanmuseum (1975) rückte er einen Koloss aus Stahl und Bleiverkleidung auf eine Weise an den romanischen Dom heran, dass der Zorn der Bürger keinen Fußbreit dazwischen bekam. Arroganz der modernen Architektur? Oder drückte sich darin nicht womöglich auch ein realistisches Bewusstsein aus, wo doch erst die Neuzeit die Freistellung mittelalterliche Dome herstellte, ihre Isolierung.

Böhms Bleistiftzeichnung auf Transparentpapier zeigt 1967 die Westansicht von Neviges.
Böhms Bleistiftzeichnung auf Transparentpapier zeigt 1967 die Westansicht von Neviges. © Gottfried Böhm / DAM

Wie sehr Böhm immer wieder den Kontext berücksichtigte, zeigte, vollkommen unspektakulär, seine Wallfahrtskirche in Wigratzbad (1975), errichtet in der Art von Pilgerzelten. Wer sie je aufsuchte, dem tat sich nicht nur ein Ort der Abkehr auf. Er betrat einen lichtdurchfluteten Raum, der sich der bäuerlichen Landschaft des Allgäus öffnete. Von außen die dunkelgrünen Dächer aus Blech wie Ausnüchterungszellen kirchlicher Inbrunst.

Böhms Ungleichzeitigkeit stand häufig im Zentrum des Volkszorns, auch in Saarbrücken, beim Pavillon auf der Zentralachse des dreiflügeligen Barock-Schlosses. Unübersehbar eine Stahlglas-Konstruktion, erkennbar aber auch ein hochaufragender Mittelrisalit. Als Provokation aufgefasst wurde ebenfalls sein Züblin-Haus, ein basilikales Verwaltungsgebäude, 1984 fertiggestellt, am Rande Stuttgarts. Böhm baute in Luxemburg eine Dependance der Deutschen Bank (1992), ein Gebäude der großen Gesten, stark instrumentiert mit postmodernem Dekor, wie manches, was er in den 70er, auch in den 80er Jahren entwarf. In dieser Zeit entstand in Itzehoe dagegen ein Theater, wie beschwingt wirkend, mit einer Glaskuppel, einem Zirkuszelt gleich, mit einem Kranz kleiner Pavillons. Gar eine heitere Wagenburg?

Zurück ins DAM, dorthin, wo Böhm geehrt wird, im Karree um das Auditorium, wie auf einem Kreuzgang, noch dazu im Universum des Oswald Mathias Ungers (1926-2007), dort, wo der Gestrenge sich bei seinem Umbau vor vierzig Jahren besonders rigide zeigte. Alles hat seine Zeit. Zu Ungers’ geometrischer Artistik steht Böhms expressive Baukunst in einem dramatischen Kontrast. Trefflich, denn hat nicht gerade Gottfried Böhm immer wieder gebaut unter spannungsgeladenen Umständen?

Auch in Neviges! Doch „Neviges“ muss, so wird es im DAM illustriert, saniert werden, dringend, der Beton hat Risse bekommen, die Außenhaut ist schorfig. Eine schmuddelige Anlage. Fachleute schraffieren unter großem Aufwand das Dach, indem sie die Bretterverschalung des Betons auf einer Dachfläche von 2700 Quadratmeter imitieren, Zentimeter für Zentimeter.

„Neviges“, doch nichts Ewiges? Im angeschimmelten Faltenwurf wirft sich ein Gebäude auf. Was auf Abbildungen ranzig oder gar abschreckend wirkt, erweist sich für all diejenigen, die es auch nur einmal besucht haben, als ein Raumwunder, als ein vielgestaltiger Einheitsraum. Objekte unbehausten Lebens zitiert die Kirche auch im Innern. Hier die gleichen Laternen, der gleiche Bodenbelag, holländischer Straßenklinker, verlegt nach römischer Art, mit breiten Fugen wie im Außenraum.

„Neviges“! Mit ihren schroffen Betonklippen beharrt, auch hier, Böhms feste Burg auf dem spirituellen Reiz der Architektur. Modern die Materialien, traditionsgesättigt der Ausdruck, beherrschen doch Zelt-Elemente das Bild. Auch hier, in dem ursprünglich sandgestrahlten Stahlbetonbau, in dem eine Hierarchie der Räume nicht zu existieren scheint, findet der Besucher Hinweise auf eine nomadische Existenz des Menschen vor. Anstrengungen zu einer Sinnsuche, womöglich ewiger Art. Denn der Weg, auch unter diesen Betonklippen, bleibt das Ziel.

Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt: bis 26. April. www. dam-online.de

Höhlenhaft zudem dieses sakrale Bauwerk Böhms, Solidität genauso suggerierend wie eine sich verschanzend-einkapselnde Konzentration behauptend gegenüber den Zumutungen des Profanen. Ein Ort der Einkehr, gewiss – für Böhm Vater, Dominikus, ebenso wie für den Sohn, Gottfried, der beide in verschiedenen Zeichnungen unterbrachte, den Vater korpulent, den Sohn rank und schlank, so zu sehen an den Wänden des DAM.

Böhm ist der letzte Verbliebene unter den großen Architekten der letzten 50, 60, über 60 Jahre, einer von den drei so einzigartigen B: Behnisch (1922-2010), Bienefeld (1926-1996) und eben er. Auch in Neviges begrenzen drei Emporengeschosse den Kirchenraum, fassen den Innenraum ein und ragen, gleich Balkonen, wie in einen öffentlichen Platz. Der Dualismus zwischen Innen und Außen wird beruhigt in einem Raum, der vom Gedanken an spirituelle Schutzzonen lebt. Die Vision von einer solchen Zuflucht, einem Binnenraum, durchdringt die großen Bauten Böhms. Bauen für eine auf sich selbst gerichtete Gemeinschaft: Von diesem Gedanken lebt Böhms Architektur, werden Innen- und Außenraum durchdrungen.

Rückzugsgedanken beherrschen die großen Orte Böhms. Was will man mehr? Ein umfriedetes Introvertiertsein stellt sich ein. Doch keine Euphorie, trotz der Anspielungen auf solche Leitmotive des Expressionismus wie „Kristall“ und „Höhle“. Was sich in der Realität als eine Betonhöhle darstellt, als räumliches Sinnbild des Ursprungs und der Geborgenheit, zeichnete sich schon auf den Blättern Böhms ab wie ein Kristall – also als Sinnbild auch des Aufbruchs.

Im Architektenbetrieb ist Gottfried sicherlich kein Außenseiter gewesen, aber ein anderer geblieben, ein Baumeister, der Orten einen Halt gegeben, der mobilen Unruhe des modernen Menschen ein Obdach angeboten hat, immer wieder, mit unendlich geduldiger Hand. Seine Werke, sein „Neviges“, schon zuvor seine Auferstehungskirche in Köln-Melaten (1962), bekrönen einen terrassierten Hang oder einen steilen Anstieg. Die Bauten sind skizziert in der für das lyrische Pathos des Expressionismus so typischen Manier: aus der Untersicht. Etwas Festes aus dem Staub der Erde.

Immer wieder in dieser Weise hat Gottfried Böhm seine Baukunst inszeniert. Rau die von ihm dabei verwendeten Materialien, spröde die von eingesetzte Betonhaut, den Tastsinn stimulierend – zum Greifen nah das Vergängliche, denn ein jegliches hat seine Zeit.

Heute ist ein Tag, um sich zu verneigen vor Gottfried Böhm.

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