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Aus: Ausgabe vom 07.08.2020, Seite 1 / Titel
Anschlaggserie in Berlin

Kamerad Staatsanwalt

Anschlagsserie gegen Linke in Berlin-Neukölln: Leiter der »Abteilung Staatsschutzdelikte« wegen möglicher Befangenheit abgezogen. Hinweise gab es schon 2017
Von Claudia Wangerin
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Beim Anschlag auf das Auto des Linken-Politikers Ferat Kocak waren Menschenleben gefährdet

Nachdem die Ermittlungen zur Brandanschlagsserie in Berlin-Neukölln über Jahre hinweg erfolglos verlaufen waren, steht ein Staatsanwalt unter Befangenheitsverdacht: Der bisherige Leiter der Abteilung Staatsschutzdelikte, Matthias Fenner, soll einem Verdächtigen aus der rechten Szene signalisiert haben, von seiner Seite gebe es nichts zu befürchten, denn er stehe der AfD nahe. Jedenfalls behauptete der Beschuldigte Tilo P. das nach Informationen des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) bereits 2017 in einem überwachten Chat.

Am Mittwoch übernahm die Generalstaatsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen zu der Anschlaggserie gegen linke Projekte und Einzelpersonen, die 23 Brandstiftungen und weitere Delikte umfasst. In einem der Verfahren seien Umstände zutage getreten, die die Befangenheit eines Staatsanwalts als möglich erscheinen ließen, teilte die Behörde mit. Sowohl Fenner als auch der für die konkreten Ermittlungen zuständige Staatsanwalt würden in andere Abteilungen versetzt, hieß es. Generalstaatsanwältin Margarete Koppers habe entschieden, sämtliche Ermittlungsverfahren zu übernehmen, in denen es um Straftaten gegen Menschen gehe, die sich in Berlin-Neukölln gegen Neonazis engagierten.

Die Protokolle der Telefonüberwachungsmaßnahme sind laut RAV Teil der Akten zu den Neuköllner Anschlägen, deren Betroffene sich zum Teil Rechtsbeistände nahmen, als die Ermittlungen auch nach Jahren nicht zu konkreten Ergebnissen geführt hatten. Allerdings erhielten die Anwälte längere Zeit nur begrenzt Einblick in die Ermittlungsakten. Weder der konkret ermittelnde Staats­anwalt S. noch die beteiligten Beamten der Berliner Staatschutzpolizei hätten das 2017 überwachte Gespräch zum Anlass genommen, »hieraus Konsequenzen zu ziehen«, erklärte der RAV am Donnerstag. Gleichzeitig seien der Anwältin des betroffenen Bezirkspolitikers Ferat Kocak (Die Linke) zentrale Aktenbestandteile vorenthalten worden – obwohl sie wiederholt entsprechende Anträge gestellt habe. Kocaks Auto hatte dicht neben einer Gasleitung am Haus seiner Eltern gestanden, als es Anfang 2018 in Brand gesetzt worden war – ein Anschlag, der möglicherweise gar nicht mehr stattgefunden hätte, wenn im Fall der Serie bereits 2017 konsequent ermittelt worden wäre. Kocak nannte am Donnerstag einen Untersuchungsausschuss zu extrem rechten Umtrieben in Sicherheitsapparat und Justiz »unabdingbar«.

Die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus sieht das ähnlich: »Erstens gibt es jetzt noch mehr Verdachtsmomente, dass die Sicherheitsbehörden tendenziös oder gar nicht richtig ermittelt haben«, sagte der Linke-Fraktionsvorsitzende Carsten Schatz am Donnerstag laut der Deutschen Presseagentur. »Zweitens zeigt der Vorgang, dass die interne Untersuchung der Polizei mit der Sonderermittlungsgruppe Fokus gescheitert ist.« Die Ermittlungen hätten keine nennenswerten Erkenntnisse gebracht. »Wir können uns auch vorstellen, dass man einen Sonderermittler einsetzt oder es eine externe Untersuchung in einer anderen Form gibt. Das muss dann aber eine unabhängige Person oder Stelle sein, und es muss einen klaren Untersuchungsauftrag geben«, so Schatz. »Dann könnte man anschließend in einem Untersuchungsausschuss die Fäden noch mal aufnehmen.« Die beiden Instrumente schlössen sich nicht aus.

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Leserbriefe zu diesem Artikel:

  • Henning Gans, Leipzig: Augiasstall ausmisten Consules videant, ne quid detrimenti capiat res publica (Die Konsuln mögen zusehen, das der Staat keinen Schaden nehme). Einen Herakles hatte die Berliner Justiz seit langem nötig! Wenn der Staat vorg...

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