Leben

"Es wird mein letzter Sommer" Fasten bis in den ersehnten Tod

Claus und Helga Reitmann waren 62 Jahre lang glücklich verheiratet.

Claus und Helga Reitmann waren 62 Jahre lang glücklich verheiratet.

Mehr als 60 Jahre ist Claus Reitmann glücklich verheiratet - dann stirbt plötzlich seine Frau. Der Hamburger will ihr in den Tod folgen. Er beschließt, nichts mehr zu essen und zu trinken. Sein Fall entfacht die Debatte über selbstbestimmtes Sterben neu.

Claus Reitmann glaubt an Gott - und er glaubt daran, dass Sterben sein gottgegebenes Recht ist. Der 88-Jährige will nicht auf den Tod warten, so wie alle anderen in seinem Pflegeheim. Er hat kein Interesse an Sitzyoga, Gedächtnistraining oder Chorsingen. "Ich brauche das nicht mehr", schreibt er in sein Tagebuch. Acht Monate nach dem Tod seiner Frau Helga will auch er aus dem Leben gehen - selbstbestimmt und mit Würde. "Ich habe mich entschieden. Es wird mein letzter Sommer sein." Allein beim Gedanken daran durchflutet ihn Zuversicht. Er glaubt fest daran, dass er seine geliebte Helli im Jenseits wiedersieht. "Für mich gibt es keine Angst vor dem körperlichen Ende", schreibt er. "Ich bin bereit. Ich fange an!" 41 Tage später stirbt Claus Reitmann. Er hat sich zu Tode gehungert.

Frauke Luckwaldt mit ihrem Vater Claus Reitmann. Die beiden hatten ein sehr inniges Verhältnis.

Frauke Luckwaldt mit ihrem Vater Claus Reitmann. Die beiden hatten ein sehr inniges Verhältnis.

Wer in Deutschland sein Leben beenden will, muss erst am Gesetzgeber vorbei. Suizid ist zwar nicht strafbar - doch die Beihilfe zur Selbsttötung, etwa durch die Verabreichung entsprechender Medikamente, gilt als Straftatbestand. Einer der wenigen tolerierten Wege für todkranke und alte Menschen, selbstbestimmt zu sterben, ist das Sterbefasten. Frauke Luckwaldt hat ihren Vater auf diesem Weg begleitet. Die 59-Jährige erfuhr bei einem Mittagessen von seinem Entschluss. "Das war jetzt meine letzte Mahlzeit", sagte er damals zu ihr. Noch heute erinnert sich die Tochter gut daran, wie euphorisch der 88-Jährige war. "Im Nachhinein denke ich, dass er da ein bisschen blauäugig rangegangen ist - aber ich letztendlich auch."

Zwar gilt der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit unter Ärzten als relativ sanfter Eingriff in den Sterbeprozess - laut einer Studie der Universität Göttingen aus dem Jahr 2015 befürwortet eine breite Mehrheit der befragten Hausärzte und Palliativmediziner diesen Weg der Selbsttötung. Doch auch das Sterbefasten bleibt nicht ohne Symptome. Nicht selten leiden Betroffene unter Schwindel, Übelkeit oder Apathie. Infolge der langsamen Austrocknung des Körpers versagen allmählich die Nieren. Auch Muskelkrämpfe sind möglich. Für Frauke Luckwaldt ist es belastend, ihren Vater so zu sehen. "Ich habe auf dem Flur gestanden und geweint, weil ich nicht wusste, ob er morgen noch da ist."

"Er wollte allein sein, wenn er stirbt"

Doch Claus Reitmann ist noch da - sein Sterben zieht sich länger hin als üblich. In der Regel setzt der Tod bei Fastenden innerhalb von 14 Tagen ein. Bei dem 88-Jährigen dauert der Kampf gegen das Leben fünf Wochen. Fast jeden Tag führen Vater und Tochter lange Gespräche. Und jedes Mal, wenn Frauke Luckwaldt von einem ihrer Besuche nach Hause kommt, muss sie sich erst einmal zurückziehen, ihre Gedanken aufschreiben - einfach alles loswerden. "Irgendwann hat er gesagt, dass ich nicht mehr wiederkommen soll", erinnert sie sich. "Ich glaube, er wollte diese Einsamkeit. Er wollte allein sein, wenn er stirbt." Als es schließlich so weit ist, empfindet die Tochter kein Bedauern - nur Erleichterung. "Ich dachte: 'Wie schön für ihn, dass er es jetzt endlich geschafft hat.'"

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Dass ihr Vater einen ungewöhnlichen langen Sterbeprozess erleben musste, hat wohl auch mit dem Widerstand zu tun, den sein Entschluss bei einigen Eingeweihten auslöste: Immer wieder verabreicht die Pastorin des Heims dem Fastenden entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch Flüssigkeit, teils halbe Liter - und sie will ihm ins Gewissen reden. "Als sie meine verstorbene Mutter mit einbezogen hat und zu meinem Vater sagte: 'Wenn Ihre Frau Sie jetzt so sehen könnte …', da ist er irgendwann richtig böse geworden", erinnert sich Frauke Luckwaldt. Geht es ums Sterben, akzeptiert die Kirche keinen freien Willen - Selbstmord gilt als schwere Sünde. Das Motiv des Sterbewilligen ist dabei unerheblich.

Allerdings streiten auch Kleriker darüber, ob Sterbefasten überhaupt eine Form des Suizids darstellt oder vielmehr ein Beschleunigen des natürlichen Sterbevorgangs ist. Der Gesetzgeber ist da eindeutiger. Als Variante des selbstbestimmten Sterbens steht auch der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, sofern die Entscheidung tatsächlich aus eigenem Willen heraus getroffen wurde, nicht unter Strafe. Unsicherheit herrscht jedoch - vor allem bei Angehörigen, aber auch Ärzten und Pflegern - in der Frage, ob und wann die Begleitung dieses Prozesses illegal ist. Immerhin unterlassen sie es, den Sterbenden aktiv vorm Tod zu bewahren und könnten deshalb wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden.

Widerstand gegen Paragraf 217 StGB

Im Dezember 2015 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Änderung des Gesetzes zur Suizidbeihilfe. Seither macht sich derjenige strafbar, der "in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt". Ärzte, Vereine und Hospize, die ihre Patienten in dieser Hinsicht beraten oder sie bei der Selbsttötung unterstützen, fürchten seither rechtlichen Konsequenzen. Ob auch Sterbefasten unter den Paragrafen 217 fällt, ist nicht eindeutig geregelt. Noch heute, zweieinhalb Jahre nach der Gesetzesänderung, beschäftigt das Thema das Bundesverfassungsgericht. Mehrere Beschwerden gegen die Regelung sind bereits abgelehnt worden; eine davon stammte von Wolfgang Klosterhalfen.

Der CDU-Abgeordnete Michael Brand war einer der Initiatoren des Gesetzes zum Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe.

Der CDU-Abgeordnete Michael Brand war einer der Initiatoren des Gesetzes zum Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe.

(Foto: picture alliance / dpa)

Der Düsseldorfer Medizin-Psychologe erläuterte dem Gericht auf 110 Seiten, warum er glaubt, dass das Gesetz "ein unverschämter Eingriff ins Privatleben von Bürgern" ist, "die sich in Hinblick auf eine Selbsttötung nicht kirchlichen Moralvorstellungen verpflichtet fühlen". Der Paragraf 217 sei letztlich das Ergebnis "beharrlicher und erfolgreicher kirchlicher Lobbyarbeit" und untergrabe "staatlich garantierte Grundrechte". Einer der Initiatoren des Gesetzestextes, der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand, widerspricht vehement. Der Staat, erklärt er n-tv.de, habe eine Schutzpflicht gegenüber dem Bürger - und die schließe auch ein, den Sterbewilligen vor einem Trugschluss zu bewahren, "den er nicht mehr zurückholen kann".

Die wenigsten Menschen, die einen Selbstmordversuch überlebt hätten, würden es danach noch einmal versuchen, argumentiert er. Insofern dürfe die Suizidhilfe nicht zu einem ärztlichen Angebot wie jedes andere werden. "Angebot schafft auch beim Thema Sterbehilfe Nachfrage", sagt Brand. "Das Versprechen vom sauberen und schnellen Tod erscheint manchem verlockend. Aber wir wollen das nicht erleichtern, sondern gerade die Selbstbestimmung in einer sensiblen Phase schützen. Wir wollen den Missbrauch stoppen und stattdessen die Hilfen in der Palliativmedizin ausbauen." Das Gesetz, so der CDU-Politiker, ziele nicht aufs Sterbefasten ab, sondern auf ein "Geschäft mit dem Tod" - so wie es etwa in Schweizer Sterbehäusern praktiziert wird.

In was für einer Gesellschaft leben wir?

Trotzdem führt die Regelung dazu, dass Menschen wie Claus Reitmann, die ihrem Leben im hohen Alter und wohlüberlegt ein Ende setzen wollen, nicht viel mehr Möglichkeiten bleiben, als sich über Wochen in den Tod zu hungern - inklusive aller Nebenwirkungen, deren Linderung durch qualifiziertes medizinisches Personal eine rechtliche Grauzone bleibt. Doch Brand kontert. Man dürfe in der Debatte um selbstbestimmtes Sterben eine Frage nicht übersehen: "Was wäre das für eine Gesellschaft, in der einem alten, schwachen Menschen durch die Öffentlichkeit, gewollt oder ungewollt, das Signal gesendet wird: 'Wenn du dein Leben gelebt hast, dann kannst du auch gehen'?"

Frauke Luckwaldt ist fest überzeugt davon, dass sie das Leben ihres Vaters nicht mehr hätte verbessern können. "Ihn zu begleiten, war das Einzige, was ich noch für ihn tun konnte", sagt sie. "Ich konnte ihn nicht retten, ich konnte ihm auch seine Frau nicht wieder herzaubern. Das Einzige, was ich machen konnte, war für ihn da sein und seinen letzten Wunsch erfüllen."

Die 59-Jährige erinnert sich gut daran, wie sehr der Alltag im Pflegeheim ihren durch einen Schlaganfall bewegungseingeschränkten Vater abgeschreckt hat. "Da gab es keine Lebensfreude mehr, keine geistige Ansprache", sagt sie. In seinem Tagebuch hält Claus Reitmann die immer gleichen Abläufe fest. "Es ist alles geregelt", schreibt er kurz vor seinem Tod, "duschen um 7.30 Uhr, Strümpfe anziehen um 8.15 Uhr. Dazwischen halbnackt auf dem Bett sitzen und warten. Frühstück wird gebracht. Wieder neues Personal - das Brot ist nicht vorgeschnitten - ich kann es so nicht essen und lasse es wieder zurückgehen. 'Keinen Hunger heute?' - Was soll ich sagen? Nein danke, ich habe keinen Hunger mehr."

Quelle: ntv.de

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