Interview

«Wir sind auf dem Weg zur Empörungsdemokratie»

Der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen spricht über das Debakel unserer digitalen Gesellschaft. Einerseits freut man sich über die blitzschnelle Verfügbarkeit von Informationen und Ideen aus dem Internet, andererseits verteufelt man dessen Dauerkonfrontation.

Claudia Schwartz
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«Es gibt mit Blick auf politische Autoritäten eine Art Schizophrenie des Publikums», sagt der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen. (Bild: Peter-Andreas Hassiepe)

«Es gibt mit Blick auf politische Autoritäten eine Art Schizophrenie des Publikums», sagt der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen. (Bild: Peter-Andreas Hassiepe)

Herr Pörksen, Ihr neues Buch leiht sich den Titel aus dem «Zauberberg», wo im Kapitel «Die grosse Gereiztheit» eine «namenlose Ungeduld», eine Neigung «zu giftigen Wortwechseln» und «zügellosem Hin- und Hergeschrei» diagnostiziert wird. Ist die digitale Gesellschaft, sind wir reif fürs Sanatorium?

Thomas Mann beschreibt ja in diesen irrsinnig komischen Passagen seines Buches, wie Menschen einen Blutsturz erleiden, weil sie sich gestritten haben, die ausrasten, weil der Tee zu kalt ist, die wie im Wahnsinn die immer gleichen Gesellschaftsspiele veranstalten. Es ist eine Parabel, die vom Ende der Idylle handelt, vom Ende der Isolation; es hat sich die Luft der Epoche geändert.

Im «Zauberberg» herrscht eine Vorkriegsstimmung!

Und damit endet die Analogie. Ich beschreibe keine Vorkriegsstimmung, sondern ein Klima der Beunruhigung, der Verstörung, der Mobilmachung. Heidegger hat es einmal auf den Punkt gebracht: Thomas Mann versuchte zu zeigen, wie unser Dasein von der Umwelt gelebt wird. Man könnte heute sagen, dass unsere gesellschaftliche Atmosphäre von unseren Medien gelebt, geprägt, verändert wird.

Ist denn die Stimmung bezüglich des Internets schon komplett gekippt von der Euphorie zum Pessimismus? Werden Sie in Ihrer Funktion des Medienwissenschafters unweigerlich zum Pessimisten?

Ich vertrete in diesem Buch keine Form von Netzpessimismus, schwanke selbst und renne fast täglich zwischen dem einen Extrem des apokalyptischen und jenem anderen des euphorischen Denkens hin und her. Wir stellen einerseits fest, was für ein ungeheures Geschenk an Information, an blitzschneller Verfügbarkeit von hochinteressanten Ideen wir durch das Internet haben, und sind gleichzeitig entsetzt über ein live gestreamtes Video, das eine Kloake aus Hass und Bösartigkeit aus dem Netz emporspült.

Täuscht der Eindruck, dass im Moment eher die düsteren Bilder unser Nachdenken über das Netz bestimmen? Ingrid Brodnig etwa hat ein ganzes Buch dem «Hass im Netz» gewidmet.

Wenn wir an die neunziger Jahre zurückdenken, waren es die euphorischen Bilder. Heute nach Brexit, Trump, Fake-News, den Debatten um Desinformationskampagnen von unterschiedlichster Seite ist es eher ein pessimistisches Bild, das vorherrscht.

Was verursacht diesen Meinungsumschwung?

Wir sehen Gedanken- und Bewusstseinsströme in neuartiger Direktheit, Bestialisches, Banales, Relevantes, Irrelevantes. Diese Dauerkonfrontation mit dem Unterschiedlichsten löst eine Stimmung der Gereiztheit aus: Wir sind gereizt, weil unsere Idee von Wahrheit pulverisiert wird, gereizt, weil gerade noch verehrte Helden und Vorbilder auf einmal im grellen Licht der Smartphone-Videos sich als total gewöhnliche, vielleicht auch als äusserst unangenehme Wesen zeigen. Wir sind gereizt, weil wir sehen, wie zivilisierende Diskursfilter wegbrechen und fast alles sagbar geworden zu sein scheint. Wir sind gereizt, weil wir auch erleben, dass wir selbst, egal ob prominent oder nicht prominent, angreifbar werden auf der Weltbühne des Netzes.

Und hier kann nun jeder mitreden, jeder kann seine Meinung veröffentlichen und mit Vervielfältigung rechnen.

Ich glaube, dass tatsächlich eine Publikative eigenen Rechts entstanden ist: die fünfte Gewalt der vernetzten vielen. Und die hat viele unterschiedliche Gesichter. Mal geht es um das Mobbing-Spektakel, um die öffentliche Vernichtung Unschuldiger, um die völlig asymmetrische Attacke aus Anlass einer minimalen Grenzüberschreitung. Und dann wieder werden ernstzunehmende Enthüllungen skandalisiert, Folterfotos bekanntgemacht, Polizeiübergriffe dokumentiert.

«Politik unter den Bedingungen medialer Überbelichtung, wie sie im digitalen Zeitalter unvermeidlich stattfindet, ist eine viel stärker gehetzte Politik.»

Sie reden in diesem Zusammenhang von einer Empörungsdemokratie.

Ich würde sagen, wir sind im Moment in einer Übergangsphase von der Mediendemokratie alten Typs, gekennzeichnet durch klares Agenda-Setting und Gatekeeping von Journalistinnen und Journalisten, hin zu einer Empörungsdemokratie; jeder kann sich nun zuschalten.

Wie verändert sich damit das Verhältnis zu Autoritäten?

Es gibt mit Blick auf politische Autoritäten eine Art Schizophrenie des Publikums. Wir wollen verehren, und wir wollen entzaubern, beides gleichzeitig. Und wir haben alle in Form von Smartphones und unserem Medienzugang perfekte Entzauberungsmittel. Auch das forciert die Unruhe, wir können uns nicht mal mehr eine radikal ernüchterte Verehrungswilligkeit bewahren. Nehmen wir als Beispiel den einstigen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, als Folge einer Kinderlähmung im Rollstuhl sitzend. Er verbarg die Tatsache seiner Erkrankung, und eine Mehrheit glaubte: Der Mann kann gehen. Diese Bildkontrolle gelang ihm, es gibt nur drei Fotos, die ihn im Rollstuhl zeigen, und erst 2013 ist ein Filmdokument aufgetaucht. Heute diskutieren wir ganz selbstverständlich über die Frage, welches Antibiotikum Hillary Clinton nach ihrem sofort öffentlich gemachten Zusammenbruch während des Wahlkampfes bekommen hat. Wir haben ein Ausmass an überbelichteten Verhältnissen, unter denen die Helden verzwergen.

Welche Folgen hat das für heutige Politiker, deren Aufgabe ja das öffentliche Handeln ist?

Dass sie in einer ganz neuen Dimension angreifbar werden, weil ein Absolutismus der Transparenz regiert, der nicht guttun kann. Politik unter den Bedingungen medialer Überbelichtung, wie sie im digitalen Zeitalter unvermeidlich stattfindet, ist eine viel stärker gehetzte Politik; diese Sichtbarkeit bedeutet Verwundbarkeit, erzeugt eine Leichtigkeit der Attacke. Wir sind da auch als Publikum hochgradig ambivalent.

Sie haben das Phänomen der Skandalisierung angesprochen. In der NZZ haben Sie einmal im Zusammenhang mit Missbrauch für die Skandalisierung des Skandals plädiert. Wie ordnen Sie hier die #MeToo-Bewegung ein?

Es ist unmöglich, das pauschal zu sagen, sondern man muss darüber auf den Einzelfall bezogen diskutieren. Skandalisierung hat unvermeidlich ein Doppelgesicht, hat mal aufklärerische, mal antiaufklärerische Züge. Ich bin nicht auf der Seite der Funktionalisten, die jede Skandalisierung gut finden und sagen, es kommt immer eine Wertedebatte heraus, die im Ergebnis Normen stabilisiert. Ich bin auch nicht auf der Seite der Negativisten, die Skandalisierung grundsätzlich ablehnen, sondern ich bin ein Situationist und meine, wir müssen die Situation kennen, wir müssen fragen: Gibt es ausreichend Gründe, ist es daher in Ordnung, einen Verdacht öffentlich zu machen? Das Thema Gewalt gegenüber Frauen und dasjenige des Missbrauchs sind viel zu lange gesellschaftlich überhört worden. Der Journalismus, der öffentliche Raum – da gehört für mich der Fall Wedel dazu – ist für die Aufdeckung von Missbrauch letztlich absolut entscheidend.

Andrerseits sprechen Sie in Ihrem Buch auch von der Skandalisierung als etwas Totalitärem. Worin äussert sich solcher Totalitarismus?

Es gibt natürlich den skandalisierenden Übereifer, das Hochjazzen minimaler Grenzüberschreitungen. Wir haben das gesehen bei Christian Wulff. Da kümmerten sich tatsächlich drei deutsche Journalisten der «Financial Times» um die Frage, ob Christian Wulff im Gymnasium seine Mitschüler mit After-Eight-Schokolade bestochen haben könnte, um Schülersprecher zu werden. Das ist ein Beispiel für wütendes, latent terroristisches Skandalisierungsinteresse, wo man sagen kann: Wo ist die gesellschaftliche Relevanz? Das Totalitäre liegt in der Idee, über ein scheinbar sprechendes Detail die ganze Person zu erledigen. Dabei wird über Nonsense gesprochen.

«Wir haben eine Informationssituation, in der Ungewissheit zum medial produzierten Dauerzustand wird.»

Woher aber kommt es, dass solche Informationen, egal ob sie wahr, unwahr, relevant oder irrelevant sind, dann doch immer wieder so scheinbar bedeutungsvoll werden?

Ich glaube ganz grundsätzlich, anthropologisch gesprochen: Menschen sind gewissheitsbedürftige, bestätigungssüchtige Wesen. Das ist keine sehr gute Nachricht. Nun haben wir aber eine Informationssituation, in der Ungewissheit zum medial produzierten Dauerzustand wird: Sehr viel Information unklarer Herkunft aus diffusen Quellen führt dazu, dass Gerüchte und Falschnachrichten leichter verfangen. Wir Menschen wollen Gewissheit, können sie doch nicht herstellen und versuchen sie verzweifelt, verstört, wütend zu konstruieren. Was sich hier zeigt, ist eine Art Informations-Desinformations-Paradox. Immer mehr Information macht die erfolgreiche Desinformation wahrscheinlicher.

Und in unserer Überforderung flüchten wir uns dann einfach in die von Eli Pariser beschriebene Filterblase?

Dieses Schreckensbild ist, wenn man die Tatsache der Vernetzung anerkennt, absurd. Natürlich können jetzt auch die bekennenden katholischen Nichtschwimmer mit einem Interesse an Hirschgeweihen ihre geschlossene Facebook-Gruppe gründen. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht wissen, dass bereits schon einen Klick entfernt ganz anders gedacht und gelebt wird. Wir können uns unter den Bedingungen der Vernetzung nicht gegen Konfrontation mit anderen Ansichten abschotten. Schon wenn wir einen Artikel lesen und in die Kommentarspalten kommen, stossen wir auf ein Multiversum der Wirklichkeiten: böse Kommentare, lobende Kommentare, weitere Meinungen. Das ist eigentlich die Erfahrung des digitalen Zeitalters: dass wir unsere Informationswelt aussuchen können in einem Höchstmass an Freiheit und Eigenwilligkeit und gleichzeitig mit der Informationswelt der anderen konstant konfrontiert sind. Das nenne ich den Filterclash.

«Vernetzung verstört, weil die Gesamtgeistesverfassung der Menschheit auf einmal in den eigenen Kommunikationsradius hineinrückt.»

Könnte auch diese unvermittelte ständige Konfrontation zur Aggression im Netz beitragen?

Absolut. Vernetzung verstört, weil die Gesamtgeistesverfassung der Menschheit auf einmal in den eigenen Kommunikationsradius hineinrückt. Es ist die Bewusstseinslage eines fragilen Fundamentalismus, die so entsteht. Man lebt in seinem Selbstbestätigungsmilieu, man kann sich versichern: Ja, wir sind im Recht, und andere denken genauso. Gleichzeitig ist man konfrontiert damit, dass schon ein paar Klicks entfernt eine ganz andere Wirklichkeit beherrschend ist. Ich denke tatsächlich, das erzeugt Wut und Irritation.

Also noch mehr Überforderung. Wie sollen wir mit dieser Situation umgehen?

Wir erleben eine ungeheure Ausweitung der publizistischen Verantwortungszone, die aus meiner Sicht noch überhaupt nicht durchdacht, nicht verstanden ist. Jeder prägt die Gestalt des Öffentlichen mit. Jeder ist mitverantwortlich für das kommunikative Klima auf diesem Planeten. In Deutschland wird im Moment die juristische Lösung propagiert. Ich glaube allerdings, das Recht ist nur das letzte Mittel; Verengung auf das Juristische ist einer Demokratie nicht würdig. Wir müssen Diskursformen trainieren. Und hier beginnt wirklich die Bildungsaufgabe, die wieder auf Abkühlung, Mässigung, Austausch, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments – das ist ja Habermas’ Hoffnung ­– setzt.

Sie plädieren für die Ideale der Freiheit und Mündigkeit?

Das ist eine konkrete Bildungsutopie, die Idee der redaktionellen Gesellschaft. Ich sage: Wir haben mit dem guten Journalismus ein publizistisches Wertegerüst und ein Handwerk, das heute zu einem Bestandteil der Allgemeinbildung werden sollte. In den Prinzipien des guten Journalismus – arbeite wahrheitsorientiert, prüfe erst, publiziere später, sei skeptisch, versuche der Verführung durch Ideologien zu entgehen, benutze mehrere Quellen, unterscheide klar zwischen Werbung und Berichterstattung, skandalisiere nur, was tatsächlich relevant ist –, in solchen Maximen verbergen sich die Kommunikationsregeln, die aus meiner Sicht heute für die Allgemeinheit gelten sollten. Vielleicht noch eine ganz wichtige: Höre auch die andere Seite.

Bernhard Pörksen ist Medienwissenschafter an der Universität Tübingen. Sein neues Buch «Die Grosse Gereiztheit – Wege aus er kollektiven Erregung» erscheint am 19. Februar im Hanser-Verlag. Es ist erhältlich im regionalen Buchhandel. Hier können Sie es bei Amazon bestellen.