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Jahrestag an der Problemschule "Wir sind stolze Rütli-Schüler"

Ein Jahr nach dem verzweifelten Brandbrief aus dem Lehrerkollegium gibt die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln Einblick in ihren Schulalltag. Die Hauptschule präsentiert sich von ihrer besten Seite. Dabei haben die Schüler immer noch reichlich Probleme.
Von Jörg Oberwittler

Zwei Jungen hauen aufeinander ein, stürmen durch die Turnhalle und grölen. "Hey, Hassan", ruft der eine und holt plötzlich aus. "Ich hab keinen Bock mehr", schreit Hassan. Es riecht muffig, nach Anstrengung und Schweiß. Dann der Abpfiff vom Trainer. Die Kampfszene gehört zum Boxprogramm. Geschlagen wird heute nur auf den Sandsack oder gegen die Boxhandschuhe des Partners. Rütli zeigt sich von seiner Schokoladenseite.

Genau ein Jahr ist es her, dass ein offener Brandbrief aus dem Lehrerkollegium an die Berliner Schulverwaltung ging, mit der dringenden Bitte, beim Gewaltproblem zu helfen. Lehrerinnen trauten sich ohne ihr Handy nicht mehr ins Klassenzimmer, Papierkörbe flogen wie Fußbälle durch die Flure, Türen wurden eingetreten. Der Rütli-Brief rüttelte heftig am Bild der erfolgreichen Integration von Immigrantenkindern.

Seitdem hat sich in der Lehranstalt einiges getan. Die Papierkörbe sind wieder aufgestellt, die Türen eingehängt, die Lehrer optimistisch, was die Zukunft der Schule anbelangt. Zum Tag der offenen Tür reichen die Schüler Schnittchen und Kuchen, ehemals aufmüpfige Mädchen verteilen in rosa oder roten "Rütli"-Shirts Pressemitteilungen an neugierige Journalisten und schwärmen, wie toll sich ihre Schule entwickelt hat. Alles rosa in Rütli.

Der neue Schulleiter Aleksander Dzembritzki wird nicht müde, selbiges in die Aufnahmegeräte der Reporter zu diktieren. "Alle, die wir hier in der Schule arbeiten, sind stolz auf Rütli", sagt er. Diesen Stolz wolle man mit dem heutigen Tag in die Welt tragen. Geärgert habe er sich über die Stigmatisierung durch die Medien, die Rütli als "Terrorschule" bezeichneten.

Die Schüler stehen bei dieser Ansprache geschlossen hinter ihm. Nun wollen alle eine zweite Chance. Für Rütli gibt es nur einen guten Ruf zu gewinnen. Denn schlimmer als der alte kann er nicht mehr werden.

Nur drei von sechzig erhielten einen Ausbildungsplatz

Die Probleme sind allerdings die alten geblieben. Gerade einmal drei von 60 Abgängern fanden im vergangenen Jahr einen Ausbildungsplatz. Als das Wort "Rütli" fiel, seien sie von einigen Arbeitgebern gleich wieder nach Hause geschickt worden, erzählt Dzembritzki.

Damit sich dies ändert, haben er und die 25 Lehrer einiges unternommen. Drei Sozialarbeiter, die Arabisch und Türkisch sprechen, arbeiten seit Mai vergangenen Jahres an der Schule. Sie gehen in die Familien, haben ein offenes Ohr für die Sorgen der Eltern und bieten konkrete Hilfe an. Drei junge Lehrer sind an die Schule gekommen, bringen neuen Schwung und frische Ideen mit. Neue Arbeitsgemeinschaften haben sich mit Unterstützung von außen gebildet: eine Box-AG, die Rütli-Wear, ein Tanzprojekt.

Für den engagierten Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) ist das immer noch zu wenig. "Die Hauptschule ist die Restesammelschule und die Jugendlichen wissen das. Das ist demotivierend." Viel zu langsam gehe die Reform zum zweigliedrigen Schulsystem, die ein Gymnasium und eine kombinierte Haupt- und Realschule vorsieht, in Berlin voran. Ein großes Problem sieht Buschkowsky zudem in der Durchmischung der Klassen. So berichtet zum Beispiel eine Schülerin, in ihrer Klasse seien früher nur arabisch-stämmige Jugendliche gewesen, die im Unterricht ständig "Scheiße gebaut" hätten.

Im zweiten Stock toben Schüler durch die Gegend, Streitschlichter informieren stolz über ihre Erfolge, Lehrer beißen in frisch geschmierte Brötchen. Draußen scheint die Sonne, zwitschern Vögel, legt der Schülersprecher Platten auf. Die Bässe aus den Boxen wummern zum Fenster herein, an dem Sozialarbeiterin Sevilay Yüksel steht.

Die Kraft des Brandbriefs verpufft bereits

Sie befürchtet, dass die Kraft des Brandbriefs aus dem vergangenen Jahr bereits wieder verpufft. Von den drei Sozialarbeiterstellen laufen zwei im Sommer aus - ihre eingeschlossen. "Es läuft alles super, es hat daher keinen Sinn, die Stellen jetzt wieder einzusparen", sagt die junge Frau.

Vorher seien fünf Eltern zu Elternabenden gekommen. Mittlerweile müsse sie sogar Stühle aus dem Nachbar-Klassenzimmer holen. Sie weiß: Nur wenn das Elternhaus in Ordnung ist, können die Schüler gute Leistungen bringen. Yüksel hofft daher nicht nur für sich, dass ihr Vertrag verlängert wird. "Der Bedarf ist zweifellos da und wir haben sichtbare Erfolge."

So zeichnet sich heute in der Rütlistraße vor allem eine Erkenntnis ab: Die Rütli-Hauptschule kann nicht gesunden, wenn das Schulsystem in Berlin weiterhin krankt. "Wir sind uns im Lehrerkollegium alle einig: Die Hauptschule ist nicht mehr zeitgemäß", sagt Hannelore Jung, die seit 33 Jahren hier unterrichtet.

Sechs Stunden Unterricht pro Tag reichten einfach nicht aus. "Wir brauchen auf Dauer die Ganztagsschule", sagt die 57-Jährige. Auch sie ärgert sich über die überspitzte Berichterstattung, als der Brandbrief an die Öffentlichkeit kam. Es sei bereits damals nicht alles schlecht gewesen. Dank der neuen Kollegen könne man sich allerdings besser um die Schüler kümmern.

So hat das gewaltige Medienecho auch sein Positives gebracht: Von dem enormen Bekanntheitsgrad kann die Schule profitieren. "Glauben Sie, dass wir Rütli jetzt hängen lassen?", sagt Bezirksbürgermeister Buschkoswky.

Das wissen auch die Schüler. "Die Sache hat vieles verbessert", sagt die 16-jährige Iman. Nach den Osterferien beginnt sie mit ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz. Sie will Kinderkrankenschwester werden. "Mir macht das Rütli-Image keine Angst. Ich werde um meinen Ausbildungsplatz kämpfen", sagt sie, zieht an ihrem rosa Rütli-Shirt und fügt hinzu: "Wir sind stolze Rütli-Schüler!"

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