Die Männer in den graublauen Tarnuniformen arbeiten hart. Ihre Gummiknüppel fliegen im Viertelsekunden-Takt, sie schlagen auf die Fersen, Unterschenkel und Kniekehlen des Menschen ein, der auf einem Tisch liegt und mit umgedrehten Armen festgehalten wird. Sie wischen sich den Schweiß ab, einer zieht sein T-Shirt aus. Ein anderer, mit den Achselstücken eines Oberstleutnants, bearbeitet eifrig die Fußsohlen des Opfers, richtet sich schwer atmend auf: „Wachwechsel!“
Am Freitag, dem 29. Juni, die WM in Russland war im vollen Gange, verprügelten über ein Dutzend Justizvollzugsbeamte der Strafkolonie IK-1 in Jaroslawl den Häftling Jewgeni Makarow. Und sie nahmen die Gewaltorgie ungewollt auf Video auf. Nachdem die Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“ diese Aufnahmen vergangenes Wochenende veröffentlichte, brach in Russland ein Sturm der Entrüstung aus. Auch die Staatsmacht scheint diesmal ernsthaft gewillt zu sein, hart gegen die Sadisten in russischer Uniform durchzugreifen.

Opfer wurde schon öfter gequält

Das Opfer auf dem Foltervideo ist Menschenrechtlern kein Unbekannter. Jewgeni Makarow gehört zu den drei Häftlingen der Kolonie IK-1, die sich schon vergangenes Jahr darüber beschwerten, dass in ihr Gefängnis regelmäßig Spezialeinheiten des Föderalen Strafvollzugs-Dienstes (russisch kurz FSIN) einrücken, um die Gefangenen „prophylaktisch“ zusammenzuschlagen.
Aber wie die Internetzeitung meduza.io schreibt, hatten ihre Proteste nur eine Konsequenz – sie landeten im Karzer. Eine staatsanwaltliche Untersuchung endete wie üblich: Die Vollzugsbeamten seien handgreiflich geworden, weil die Gefangenen ihrerseits Gewalt gegen sie angewendet hätten.
Aber das Video aus Jaroslawl hat eine Bresche geschlagen. Schon 2014 trat ein Gesetz in Kraft, das alle Haftanstalten verpflichtet, Überwachungskameras zu installieren. Außerdem muss das Wachpersonal nonstop laufende Videokameras tragen, die Aufnahmen sollen für Anwälte und Menschenrechtler zugänglich sein. Aber folternde Vollzugsbeamte umgehen die Kontrolle, sie verprügeln ihre Opfer in „toten Winkeln“, die die Kameras nicht erfassen, frisieren die Aufnahmen oder zerstören die Geräte einfach.

Anwältin erhielt Drohungen

Diesmal gelang es Makarows Rechtsanwältin Irina Birjukowa, das Foltervideo sicherzustellen und an die Presse weiterzuleiten. Zwar erhielt die Anwältin von mehreren der gefilmten Schläger Drohungen und verließ deshalb Russland. Aber das russische Ermittlungskomitee sah sich genötigt, ein Strafverfahren einzuleiten.
Sechs der zwölf identifizierten Täter sind verhaftet worden, drei haben gestanden. Auch andere Fälle wurden ruchbar. In Brjansk verhaftete man einen weiteren Gefängniswärter, der einen Gefangenen zu Tode gefoltert hatte; in Woronesch führten die Beschwerden zweier Studenten, die auf einer Polizeistation verprügelt worden waren, ebenfalls zu einem Strafverfahren. Valentina Matwijenko, die Vorsitzende des russischen Föderationsrates, bezeichnete den Fall in Jaroslawl als „abscheuliches Verbrechen“ und forderte eine radikale Reform des Vollzugsdienstes FSIN: Es solle die Häftlinge weiter überwachen, deren Resozialisierung aber müsse ein ziviler Dienst übernehmen.

Jeder fünfte Russe wird gefoltert

Gewalt durch Beamte gilt in Russland als flächendeckendes Übel. Nach Angaben der Rechtsschutzorganisation „Komitee gegen Folter“ wird jeder fünfte Russe in seinem Leben gefoltert. „Unser Gefängnissystem will nicht umerziehen, sondern nur bestrafen. In Baracken für 40  müssen 120 Gefangene leben, der Reihe nach schlafen, für kleinste Verstöße gegen die Vorschriften gibt es Karzer“, sagt Sergei Babinez, Leiter der Ermittlungsabteilung des „Komitees gegen Folter“ unserer Zeitung. Auch die Gefängniswärter lebten unter miserablen Umständen und würden schlecht bezahlt. „Die Situation ist ständig auf der Kippe zur Gewalt.“
Hinzu kommt: Polizisten prügelten Festgenommene, um von ihnen ein Geständnis zu erzwingen und damit das geforderte Plansoll an aufgeklärten Verbrechen möglichst schnell zu erfüllen. „Deren Rate liegt bei uns bei sagenhaften 70 Prozent, selbst Scotland Yard hält mehr als 30 Prozent für unmöglich“, sagt Babinez.

Rüffel aus Straßburg

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Russland aufgefordert, den inhaftierten ukrainischen Filmemacher Oleg Senzow medizinisch zu versorgen. Senzow, der sich seit mehr als zwei Monaten im Hungerstreik befindet, müsse sofort in ein Krankenhaus gebracht und seinem Zustand entsprechend versorgt werden, teilte das Straßburger Gericht mit. Der EGMR legte Senzow nahe, seinen Hungerstreik zu beenden. Senzow war 2014 auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim festgenommen worden. Er wurde anschließend zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt. afp