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Geschichte Folter der Roten Khmer

„Niemand, der zu uns kam, hatte eine Chance“

Im Mai 1976 deportierten die Roten Khmer die ersten Kambodschaner in das Lager S-21. Dort wurden sie so lange gefoltert, bis sie irgendein Geständnis ablegten. Dann ging es auf die Killing Fields.
Völkermord - Anführer der Roten Khmer verurteilt

Zwei ehemalige Anführer der Roten Khmer wurden im Jahr 2014 zu lebenslanger Haft verurteilt. Unter ihrer Schreckensherrschaft zwischen 1975 und 1979 wurden 1,7 Millionen Kambodschaner getötet.

Quelle: Reuters

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Das Tuol-Svay-Prey-Gymnasium in der 103. Straße von Phnom Penh war für die neuen Herren der ideale Ort, ihre mörderische Vision einer anderen Gesellschaft in die Tat umzusetzen. Kurz nach ihrer Eroberung der kambodschanischen Hauptstadt 1975 umgaben die Roten Khmer den Komplex mit einem Elektrozaun, stellten 1700 Leute ab und statteten sie mit allem Notwendigen aus.

Die Schulräume wurden in zwei Quadratmeter große Minizellen unterteilt, Wasserbottiche für Waterboarding bereitgestellt, Galgen aufgestellt. Nur auf Toiletten wurde verzichtet. Dafür sollten Eimer reichen. Im Mai 1976 wurden die ersten Häftlinge eingeliefert: mutmaßliche Agenten, Verräter, Volksfeinde. Als solcher galt jeder, der einem bürgerlichen Beruf nachging, Bücher besaß – oder weil er einfach in einer Stadt gelebt hatte. Und seine Familie. Um Zeugen oder – so der paranoide Verdacht – potenzielle Rächer auszuschalten, wurden Frauen und Kinder ebenfalls deportiert.

Chum Mey (l.) und Bou Meng, zwei Überlebende von S-21
Chum Mey (l.) und Bou Meng, zwei Überlebende von S-21
Quelle: dpa

Das Tuol-Svay-Prey-Gymnasium wurde zu „S-21“, einem der berüchtigsten Foltergefängnisse des 20. Jahrhunderts. Bis zu 20.000 Menschen wurden hier bis zum Ende der Herrschaft der Roten Khmer 1979 gequält, mindestens 12.000 überlebten die Folter nicht, bei der Befreiung durch vietnamesische Truppen lebten nur noch 23 Häftlinge, die Hälfte erlag kurz darauf ihren Strapazen.

Einer von ihnen ist Bou Meng. Heute ist er 75 Jahre alt und verbringt noch immer die meiste Zeit in dem Gefängnis, das ihn fast umgebracht hat. S-21 ist heute ein Museum namens Tuol Sleng. Bou Meng sitzt am Eingang und erzählt Besuchern seine Geschichte, mithilfe von Übersetzern. Immer wieder, emotionslos. Er hat ein Buch geschrieben, das er verkauft. Als Ingenieur war er den Steinzeitkommunisten der Roten Khmer suspekt – sie wollten einen steinzeitlichen Bauernstaat: ohne Geld, ohne Bildung, ohne Klassen.

Wie Hunderttausende sollte auch Bou Meng hingerichtet werden. Zuvor wollten die Roten Khmer aber von den vermeintlichen Verrätern ein Geständnis erpressen. Dafür war die Folterhölle von S-21 da. Bou Meng sollte sich zur Kollaboration mit einem ausländischen Geheimdienst bekennen. Ob russischer KGB oder amerikanische CIA war den Folterern egal. „Wann bist du der CIA beigetreten? Seit wann arbeitest du für den KGB? Wer hat dich angeworben?“ Tag und Nacht sei das gegangen, erzählt er. Dann musste er aussuchen, ob er mit einer Peitsche oder einem Rohrstock gefoltert werden wollte.

Kaing Guek Eav, Kommandeur von S-21, gab später zu Protokoll: „Ich und alle anderen, die an diesem Ort arbeiteten, wussten, dass jeder, der dorthin kam, psychologisch zerstört und durch ständige Arbeit eliminiert werden musste und keinen Ausweg bekommen durfte. Keine Antwort konnte den Tod verhindern. Niemand, der zu uns kam, hatte eine Chance, sich zu retten.“

Davon legen die Killing Fields der Roten Khmer entsetzliches Zeugnis ab. Durch Hungersnöte, Zwangsarbeit, Folter und Mord kamen nach Schätzungen 1,7 Millionen Menschen um. Der Schrecken endete erst 1979 mit dem Einmarsch der Vietnamesen.

Wer die Folterungen in S-21 überlebte, kam nach Choeung Ek vor den Toren Phnom Penhs. Dort wurde wie am Fließband gemordet. Die Malträtierten mussten Gruben ausheben, sich an den Rand knien und wurden von hinten erschlagen, sodass sie gleich in die Grube fielen. Das war effizient und sparte Munition. Babys wurden die Köpfe zertrümmert, indem sie an Baumstämme geschleudert wurden. Der Ort ist eines von unzähligen Killing Fields im ganzen Land und heute auch Gedenkstätte.

S-21 wurde zum Tuol-Sleng-Genozid-Museum. Sein Archiv – Tausende Geständnisse, Lebensgeschichten, Fotos – wurde 2009 in die Welterbeliste der Unesco aufgenommen. Dazu gehören auch die Bilder, die der Häftling Vann Nath im Auftrag des Lagerleiters malen musste. Es handelte sich um Porträts von „Bruder Nr. 1“, wie Pol Pot, Führer der Roten Khmer und Diktator Kambodschas, offiziell genannt wurde. Vann Nath malte buchstäblich um sein Leben – und überlebte. Später stellte er die Hölle von S-21 in Bildern dar.

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In diesem Frühjahr dokumentiert das Tuol-Sleng-Museum in einer Ausstellung ein anderes Verbrechen der Roten Khmer: die Zwangsheiraten. Eine halbe Million Männer und Frauen dürften betroffen gewesen sein. Der Befehl lautete: Vermehrt euch. In Thy, 59, wurde zum Beispiel mit einem völlig Fremden verheiratet. Auszüge aus ihrer Geschichte sind neben Fotos aus der damaligen Zeit nachzulesen.

„Weil klar war, dass wir nicht miteinander klarkamen, gerieten wir unter Verdacht. Mein Mann kam ins Umerziehungslager, ich wurde verwarnt“, berichtet sie. „Wir haben dann beschlossen, doch zusammen zu schlafen, um unser Leben zu retten.“ Endlich wurde sie schwanger.

Trotz des traumatischen Starts blieb In Thy bei ihrem Mann, wie auch Smann Simas, 58, und viele andere. Scham spielt in der bis heute sehr konservativen Gesellschaft eine Rolle, und Verantwortungsbewusstsein. „Wir haben uns zusammengerauft, wegen der Kinder“, sagt Smann Simas. „Als Mutter muss ich als Erstes an die Zukunft meiner Kinder denken. Deshalb kam Scheidung für mich nicht infrage.“

Sie sind Zeugen im nächsten Prozess vor dem Völkermordtribunal. Angeklagt sind Nuon Chea, 89, Stellvertreter von Regimechef Pol Pot, und Khieu Samphan, 84, der damalige Staatschef. Die beiden sind bereits wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Tribunal hatte verschiedene Anklagepunkt separat verhandelt, um zeitnah zu einem Urteil zu kommen. Zur Aufarbeitung sämtlicher Verbrechen gehen die Prozesse aber weiter.

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mit dpa

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