Zu den frühesten Kritikern der Fortschrittsgläubigkeit zählt Theodor Fontane. In seiner Schulbuch-bekannten Ballade „Die Brück’ am Tay“ heißt es schlicht: „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.“ Der Schriftsteller hatte guten Grund dafür. Denn das technische Wunderwerk, das damit charakterisiert wurde, war die Brücke über den Firth-of-Tay in Schottland, bei ihrer Eröffnung 1878 die längste Eisenbahnbrücke der Welt. Am 28. Dezember 1879 war sie Schauplatz einer menschenbedingten Katastrophe, die in ihrer Popularität erst vom Untergang der „Titanic“ 1912 übertroffen werden sollte.
An diesem Sonntag hatte der Schnellzug nach Dundee den Bahnhof in Edinburgh gegen 16.15 Uhr verlassen. Kurz nach 19 Uhr nahm der Lokomotivführer am südlichen Ende der Brücke den Stab von einem Wärter entgegen. Da es nur einen „Token“ gab, war sichergestellt, dass nur jeweils ein Zug die eingleisige, 3264 Meter lange Brücke über den Fjord passierte.
Doch als der Zug nicht, wie erwartet, kurz darauf in den Bahnhof von Dundee einfuhr, machten sich Angestellte der Bahn auf die Suche. Draußen tobte ein Sturm, der auf der Beaufortskala die Ziffer elf (von möglichen zwölf) erreichte und die Männer zeitweilig zum Kriechen zwang. Als sie die Mitte der Brücke erreichten, gähnte vor ihnen ein fast 1000 Meter langes Loch. Der Zug mit sechs Waggons war in die Tiefe gestürzt. Von den vermutlich 72 Passagieren und drei Bahnmitarbeitern hatte keiner überlebt.
Die aufwendige Untersuchung des Unglücks förderte eine ganze Liste von Einträgen zutage, die nicht nur Fontane als blinde Hybris im Geist des Fortschritts erschienen. So hatte der Ingenieur Thomas Bouch, der seine Berühmtheit spektakulären Brückenkonstruktionen verdankte, zwar erkannt, dass der Untergrund des Tay die geplanten Pfeiler ganz aus Stein nicht tragen konnte.
Aber die einzige Konsequenz daraus war, dass weite Teile des Oberbaus in fragilen Eisenkonstruktionen ausgeführt wurden. Außerdem wurden die Spannweiten erweitert und – um die Durchfahrtshöhe für Schiffe zu vergrößern – die Trägerwände im Mittelteil in die Höhe verlegt.
Viele Eisenteile, die in einer Behelfsgießerei am Ufer gegossen worden waren, wiesen Luftlöcher auf. Anstatt die Stücke einzuschmelzen, waren die Fehler mit Farbe verdeckt worden. Auch wurden Träger, die beim Bau ins Wasser fielen, nicht ausgetauscht, sondern geborgen und weiterverwendet, um das vorgegebene Budget der North British Railway über 300.000 Pfund nicht zu übersteigen und um im Zeitplan zu bleiben.
Für die Berechnung des möglichen Winddrucks hatte man sich nicht an der Realität, sondern an 100 Jahre alten Aufzeichnungen orientiert. Von der Wirklichkeit wurde ebenfalls die angenommene Geschwindigkeit der Lokomotiven überholt, die Ende der 1870er nicht mehr 60, sondern mehr als 100 Stundenkilometer erreichten und damit die Dynamik der Brücke wesentlich stärker herausforderten.
Es war also eine krude Mischung aus Schlamperei, Unkenntnis und grundlosem technischem Selbstbewusstsein, die aus dem gefeierten Nationalhelden Bouch eine Unperson machte. Da sich zudem sein Schwiegersohn unter den Opfern befand, brach er zusammen und starb wenige Monate später.
„Es war wie ein kometenhafter Ausbruch wilder Funken“, beschrieb ein Augenzeuge den Augenblick der Katastrophe. „In einer langen Spur war der Feuerstrahl zu sehen, bis zu seinem Verlöschen unten in der stürmischen See.“
Ob Fontane, der Schottland einmal bereist hatte, die Schilderung kannte? Er dichtete kurz nach dem Unglück: „Als ob Feuer vom Himmel fiel, erglüht es in niederschießender Pracht überm Wasser unten ... Und wieder ist Nacht.“
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