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Kultur Architekt Gottfried Böhm ✝︎

Er hatte die ganze Stadt im Blick

Gottfried Böhm (1920-2021) Gottfried Böhm (1920-2021)
Gottfried Böhm (1920-2021)
Quelle: dpa
Gottfried Böhm hat uns mit seinen Kirchen, Moscheen, Theatern und Bibliotheken herausgefordert, nicht nachgelassen in seinem Streben um einen zukunftsfähigen Städtebau. Jetzt ist der Pritzker-Preis-Träger im Alter von 101 Jahren gestorben.

Gottfried Böhm wird man ohne Weiteres einen der einsamsten deutschen Architekten des 20. Jahrhunderts nennen können – keiner scheint ihn begleitet, keiner ihm vorausgegangen oder gefolgt zu sein. Dennoch seinen ganz eigensinnigen Weg durch ein langes Berufsleben verfolgt zu haben, das stellt eine bemerkenswerte Leistung an Hartnäckigkeit dar und zeugt von einer erstaunlichen inneren Sicherheit.

Erst recht mag sie an einem Mann verwundern, der kaum eine Gelegenheit ausgelassen hat, den eigenen Vater, den Architekten Dominikus Böhm, fast hymnisch zu rühmen, um sich selbst umso bescheidener in dessen Schatten zu stellen.

Es sind sonderbare, unvergleichliche Bauwerke, die dieser Baukünstler hinterlässt. Viele von ihnen haben bei oberflächlicher Betrachtung etwas Zwitterhaftes. Modernste Materialien – Beton, Stahl, Glas – sind in verblüffend „barocke“ Formen gebracht.

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Böhm scheut sich nicht, Säulen und Türme auszuformen, die Fassaden dekorativ durchzubilden, Arkaden, Giebel und Dachtonnen zu entwickeln – alles Dinge, die für strikt an der „Moderne“ orientierte Kollegen bis heute tabu sind. Häufig, vor allem in den frühen Kirchen- und Rathausbauten, arbeitet er mit massiven prismatischen Baukörpern, später werden die Bauten luftiger und es treten gewaltig ausgedehnte Rotunden hinzu.

Es gehört zu den glücklichsten Entscheidungen der Pritzker-Preis-Jury, diesen Eigenbrötler und dunklen Deutschen aus seiner Nische ins Licht gezogen und in die erste Reihe der Weltarchitekten gestellt zu haben. Böhms Werk verdient Aufmerksamkeit, auch wenn es womöglich nie wirklich ganz verstanden werden wird.

Das Innere des Mariendoms in Velbert-Neviges
Das Innere des Mariendoms in Velbert-Neviges
Quelle: dpa

Am irritierendsten sind die Grundwidersprüche, die Böhm selbst wohl empfunden hat, aber niemals aufzuklären vermochte. Wie kann ein derart an der architektonischen Moderne orientierter Mann gleichzeitig so „altmodisch“ bauen? Wie kann ein Mystiker der Verinnerlichung und Versenkung, der Böhm in seinen stärksten Kirchbauten ist, in seinen Projekten für Kunst und Wissenschaft so sehr auf Veräußerlichung und Entgrenzung setzen?

Wie kann ein Künstler mit so viel Respekt vor den großen Werken der Kunstgeschichte deren Manifestationen dort, wo sie dem Zugriff ausgeliefert sind, derart leichthändig verfremden und relativieren? Die Aufzählung solcher Disharmonien in Böhms Werk ließe sich durchaus noch weiterführen.

Seine wie aus einem einzigen riesigen Stein geschliffenen Betonkirchen (Neviges, Köln-Melaten), die, wenn überhaupt einem Vorbild, so am ehesten dem des Vaters verpflichtet sind, stellen gewiss eine singuläre Leistung an komprimierter, hochkonzentrierter Gestaltungskraft dar und ragen wie gewaltige Monolithe aus der marktschreierischen Effekthascherei der Nachkriegskirchbaukunst hervor.

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Aber wie seltsam fremd nehmen sich daneben Böhms Versuche im Theaterbau aus, die alle um den Gedanken kreisen, Bühne, Zuschauerraum und möglichst auch noch das bauliche Umfeld der Spielstätte miteinander zu verknäueln und verschränken, etwa indem die Bühnenrückwand verglast wird und man, wie beim Entwurf für Bonn, „hinter der Bühne die Stadt mit dem Rhein und die Landschaft sieht“.

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Warum ihm dies wichtig war, erläuterte Böhm in jenen sieben legendären Vorträgen zum Abschluss seiner Lehrtätigkeit an der TH Aachen: „Dadurch wird das Spiel und in ihm das Wort mit dem Alltäglichen in Bezug gesetzt“ – eine höchst spezielle, fast kuriose Intention, die sich im Theaterbau trotz aller Verweise Böhms auf das antike Amphitheater bekanntlich niemals einbürgern konnte.

Ähnlich außenseiterisch nahm sich später sein Entwurf für den Ergänzungsbau der Hamburger Kunsthalle aus. Böhm schlug ein rundum verglastes Gebilde in Form eines Wasserturms vor, das zwar herrliche Ausblicke auf die Alsterseen eröffnet, die Möglichkeiten für die Präsentation empfindlicher Kunstwerke aber spürbar eingeschränkt haben würde.

Böhms Kirche St. Stephan
Böhms Kirche St. Stephan
Quelle: picture-alliance / Rainer Hackenberg

Demselben Gedanken der Öffnung in das „Alltägliche“ verdankt sich auch seine Stadtbibliothek von Ulm. Und wieder ist es der Gegensatz zwischen Kontemplation, die das Buch erfordert, und Zerstreuung, die der Blick durch die Ganzglasfassade auf das bunte Straßentreiben bringt, der das Bauwerk als Zwitter erscheinen lässt, vom Wagnis, gedruckte Werke und Computer-Lesetische grellstem Lichteinfall auszusetzen, ganz zu schweigen.

Die von Böhm im Alter immer öfter eingesetzten Materialien Glas und Stahl sind es auch, die seinen Mittelrisaliten für das Saarbrücker Schloss trotz durchaus geglückter Proportionen als wenig überzeugende Zutat erscheinen lassen. Der Architekt gab sich der Vorstellung hin, er habe das Bauwerk damit dem Durchblick zum dahinter liegenden Garten geöffnet.

Aber ganz abgesehen davon, dass dies eine Fiktion blieb – die Frage stellt sich natürlich, wer einen solchen Durchblick wünscht. Stattdessen wirkt das Bauwerk nun wie auf ewig künstlich verhüllt, wozu auch noch das stählerne Stützkorsett beiträgt, das die Assoziation Gerüst = Baustelle aufkommen lässt, ein sicherlich ganz unwillkommener Effekt.

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Doch wie viel Gelingen, wie viel originelle skulpturale Meisterschaft, wie viel Vorausdenken steht diesen Beispielen riskanter Gratwanderungen gegenüber! Zu den schönsten Werken Böhms wird man für immer die filigrane, riesige Glashalle des Züblin-Verwaltungsgebäudes auf den Äckern vor Stuttgart zählen – eine späte formale Hommage an Godins „Palais sociale“ in Guise.

Die Stadt Bonn wird sich dankbar des Bemühens dieses Architekten erinnern, der grauenvoll öden, ungestalten Verkehrsachse der Bundesstraße 9 eine architektonische Fassung zu geben, wie ja überhaupt Böhms zähes, unermüdliches Ringen um einen zukunftsfähigen Städtebau sein ganzes Werk in einer bisher viel zu wenig gewürdigten Weise charakterisiert.

Böhms Meisterwerk: Die Wallfahrtskirche von Neviges in Nordrhein-Westfalen
Böhms Meisterwerk: Die Wallfahrtskirche von Neviges in Nordrhein-Westfalen
Quelle: dpa
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Nie stellt er sich ein Bauwerk als Solitär vor, immer bindet er es in urbane Strukturen ein, fast gesetzmäßig ordnet er ihm unterschiedlichste Nutzungen zu. Der Anregungen, die der wunderliche Architekt der Nachwelt hinterlässt, sind so viele wie der Rätsel, die er aufgibt. Das wird sein Andenken noch lange lebendig erhalten.

In einer früheren Fassung dieses Nachrufs wurde in einer Bildunterschrift auch die Zentralmoschee der DiTiB Gottfried Böhm zugeschrieben. Tatsächlich hat sie sein jüngster Sohn Paul Böhm entworfen. Wir bedauern diesen Fehler und haben ihn korrigiert.

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